Eine Geschichte der katholischen SelbstrelativierungDie Texterstellung von Gaudium et spes

Die Pastoralkonstitution öffnet eine neue Epoche der Geschichte der katholischen Kirche und ein neues Niveau ihrer Lehrfähigkeit. Eine Weltkirche wird eröffnet, deren Glauben strikt geistesgegenwärtig ist. Nach fünfzig Jahren ist dieses Lehrformat, ‚Pastoral‘ genannt, für das Papsttum leitend geworden, das diese Form von Kirche ja global sichtbar macht. Sie wird von Papst Franziskus nach außen, aber auch nach innen auf die Kirche selbst hin vertreten, was bei Johannes Paul II. noch fehlte.

Fazit

Gaudiumet spes hat die Kirche theologisch radikal, also von ihrer Wurzel in Gott her, verändert, weil es die eigene christliche Religion von der Lebensrealität der anderen her, den eigenen Glauben von den wechselnden Verhältnissen der Geschichte her und die eigene Spiritualität von einer Geistesgegenwärtigkeit auf die Lage heutiger Menschen verstanden hat. Dadurch hat sich die katholische Kirche von sich selbst her relativiert und ist fähig geworden, die eigenen Utopien hinter sich zu lassen und sich von Heterotopien (Lampedusa, Klimawandel etc.) her pastoral zu konstituieren.

Mit dieser Wechselseitigkeit tastet Gaudium et spes den Habitus einer ständigen Selbstbestätigung des Katholischen an und stellt sich dem, was aus dem Glauben wird, wenn er durch „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst, besonders der Armen und Bedrängten aller Art“ (GS 1) dekliniert wird. Das bringt kirchliche Zumutungen eines Außen mit sich, die prekär, befremdlich und zunächst überfordernd sind.Dieser Wechselwirkung kann man in der Textgeschichte von Gaudium et spes unter den Gesichtspunkten von Religion, Glauben und Spiritualität auf die Spur kommen. In jeder der drei Hinsichten betritt die pastoral konstituierte Lehre Neuland, das damals unerhört war und stellenweise bis heute weiß auf den Weltkarten der Kirche geblieben ist. Die Widerstände dagegen gehören aber zum Problem, unter dem der katholische Glauben gelitten hatte, wofür das Konzil durchgeführt und mit GS eine Grammatik für mögliche Lösungen gefunden wurde. Das Problem ist die Selbstabschließung dieses Glaubens im Modus der Kirche.
Sie hatte ihre jahrhundertelange Identifizierung als societas perfecta bestimmt, die beim Ersten Vaticanum im Unfehlbarkeitsdogma kulminiert. Es galt danach lange als Rückversicherung, dass die Kirche wirklich alles, was für ihre Existenz nötig ist, allein aus sich heraus zur Verfügung hat, wie Leo XIII. 1893 die societas perfecta umschrieb. Die Selbstabschließung wird von vielen Konzilsdokumenten aufgebrochen, während in der Pastoralkonstitution die Grammatik dafür erarbeitet wird. Das betraf zunächst Religion.

Von der wahren Religion zur relativierten Religiosität – der Ursprung des Textes

Die societas perfecta suchte stets die Nähe zum Staat, weil sie selbst nichts anderes bedeutet als Staat. Sie beanspruchte in Dingen, die das Seelenheil von Menschen anbelangt, Entscheidungsbefugnis oder wenigstens sie privilegierende Konkordate.
Die erste Phase der Textgeschichte ist von dieser sogenannten potestas indirecta bestimmt; die kurial angeführte Konzilsminorität wollte damit eindämmen, was Kardinal Suenens im Dezember 1962 zum Konzilsprogramm ausbaute. Die Kirche solle sich selbst zum Problem nehmen und sich ad intra und ad extra betrachten. Die Leitungsorgane des Konzils hatten im Januar 1963 entschieden, deshalb zwei Lehrtexte über die Kirche zu verfassen, einen nach innen – später Lumen Gentium – und einen nach außen – eben Gaudium et spes. Jene Rede und diese Entscheidung sind der Ursprung von Gaudium et spes. Er liegt unzweideutig im Konzil.
Diese Selbstproblematisierung bricht mit der Selbstidentifizierung, zwar dem Staat sagen zu können, wozu er da ist, aber sich selbst anderen nicht erklären zu müssen. Die wahre Religion steht über dem heilsbedürftigen Staat, wenn es ums Ganze von Moral und Heil geht. Sie führt Kontroversen, die anderen Schwächen nachweisen, aber die eigenen Stärken herausstellen. Aber es darf kein Gedanke an die eigenen Defizite, Fehler, Schuld verloren werden; diese gehen lediglich von fehlbaren Personen aus. Deshalb sollte wenigstens die Kirchenposition ad extra mit vorkonziliar formulierten Texten über die richtige moralische Ordnung festgelegt werden. Das scheiterte trotz Nachbesserung endgültig an der Koordinierungskommission Anfang Juli 1963, wo Kardinal Suenens argumentiert, der erstellte Text über ‚die effektive Präsenz der Kirche in der Welt‘ sei nicht pastoral genug. Man benötige eine Sicht, die auf Augenhöhe mit der heutigen Welt argumentiere und von der Evangelisierung ausgehe. Er wurde daraufhin beauftragt, selbst einen Text zu erarbeiten.
Damit hatte sich die vera religio kirchlich erledigt. Die kirchliche Religionsgemeinschaft muss sich in Wechselwirkung zu den heutigen Menschen positionieren. Sie kann nicht erwarten, dass Menschen sich ihrer Beanspruchung von Wahrheit einfach unterwerfen. Die Frage war nun allerdings, wie die Kirche das erreicht. Suenens‘ Vorschlag, auf Evangelisierung zu setzen, bringt statt Religion nun Glauben ins Spiel, der nach Gemeinschaft mit allen Menschen strebt.

Vom festen Glauben zur liquiden Gläubigkeit – die Herkunft von Gaudium et spes

Suenens versammelte eine Crème de la Crème der katholischen Theologie (u. a. Congar und Rahner) in Mecheln, die im September 1963 einen Text über die ‚aktive Präsenz der Kirche in einer aufzubauenden Welt‘ zusammenstellte. Die Zeitgenossen galten als Hörer des Wortes des Evangeliums, ohne selbst Akteure dieser Präsenz gegenüber der Kirche zu sein.
Deshalb folgte der Text einer informellen Absprache der streitenden Konzilsfraktionen vom Himmelfahrtstag 1963 für den Kirchentext nach außen. Die kirchliche Präsenz der Kirche in der Welt sollte dogmatisch valide ausgesagt werden, ohne ins Detail zu gehen. Die relevanten Einzelfragen des heutigen Lebens, also die Relativität der Geschichte, sollten dagegen in dogmatisch nicht aussagekräftigen Anhangkapiteln instruktiv behandelt werden.
Der Mechelner Text scheiterte in der zuständigen Gemischten Kommission am Einwurf von Kardinal Ottaviani, er sei nicht konkret genug. Suenens und Ottaviani hatten sich damit wechselseitig blockiert; es drohte totales Scheitern. Andere übernahmen und setzten ein Redaktionskomitee durch, das einen ganz neuen Text an Pacem in terris von Johannes XXIII. entlang erstellen sollte. Bei seiner ersten Sitzung wird der spätere Eröffnungssatz – aber noch in der Reihung ‚Freude und Trauer, Hoffnung und Angst‘ – gefunden und ein Soziologe beauftragt, einen Basistext auf Französisch zu schreiben. Der lag im Februar 1964 in Zürich vor, wo auch intensive Gespräche mit Lukas Vischer von Faith and Order eingingen; Gaudium et spes ist der am meisten ökumenisch erarbeitete Konzilstext. Der Züricher Text wird Grundlage für die Konzilsvorlage im Herbst 1964, der Anhangkapitel über Ehe, Wirtschaft, Politik, Internationales nachfolgten, die ausdrücklich vermerkten, sie seien vom Konzil nicht zu debattieren.
Nun schlug die Stunde der Traditionalisten. Erzbischof Lefebvre hatte schwere Häresien in den sogenannten Adnexa ausgemacht – etwa, Ehe sei durch Liebe der Partner konstituiert – und fragte beim Konzilssekretär Felici nach, welche Autorität diese hätten. Der sagte daraufhin sofort vor dem versammelten Konzil, die Anhänge seien lediglich privater Natur. Dagegen verwahrte sich empört der Kopräsident der Gemischten Kommission, Kardinal Cento; Texte, die er unterschrieben hätte, könnten nicht bloß eine private Äußerung sein, auch wenn sie nur angehängt seien. Der Kampf tobte zwei Wochen hinter den Kulissen zwischen Felici und den Moderatoren, Cento und seinem Ko-Vorsitzenden Ottaviani. Am Ende hatte sich Cento durchgesetzt. Aber schon von den Debatten in der Aula stand fest, dass dieses Schema XIII ganz neu zu schreiben war, um die künstliche Trennung zwischen Dogmatischem und Lebensfragen aufzuheben. Allerdings gab es damals dafür keine theologisch praktikable Methode. Bischof Glorieux, Mitarbeiter von Cento, schlug vor, sich an den drei Schritten der Evangelisierungsmethode der christlichen Arbeiterjugend (JOC) Sehen – Urteilen – Handeln zu orientieren. Hauptmann, ein französischer Theologe und Journalist, schreibt den Text, der dann bei einem großen Redaktionstreffen aller Kommissionen, die zuvor auf das Dogmatische und die Einzelfragen aufgeteilt waren, im Februar 1965 in Ariccia in großer Einmütigkeit eine präsentable Fassung erhielt. Allerdings hatte dort der Krakauer Erzbischof erreicht, die Sache der Zeichen der Zeit herauszunehmen, weil sie als zu unwägbar galten. Nach Protesten der Unterkommission, die dafür zuständig gewesen war, nahm Philips, die rechte Hand von Suenens, der in der Konzilsleitung immer noch für den Text Kirche nach außen zuständig war, dies wieder auf und manövrierte einen Text durch die Gremien, der die erstellte Analyse der Zeichen der Zeit als ‚einführende Vorbemerkung‘ aufführte. Sehen – Urteilen – Handeln war nun Gliederungsprinzip des Schemas.
Aber jetzt kam es zu einem Riss innerhalb der Konzilsmajorität. Vor der vierten Sessio wehrten sich besonders die Deutschen gegen diesen sehr von der französischsprachigen Theologie geprägten Text. Den westdeutschen Bischöfen war er zu optimistisch; ihre Theologen beanstanden zu wenig Kreuzes- theologie (so Ratzinger), zu ignorant über den ökonomischen Ordo (Nell-Breuning) und zu viel freiheitseinschränkende Konkretion in Einzelfragen (so Rahner). Man solle besser auf diesen Text verzichten. In den Fokus des Disputes rückt die Spiritualität, wie Kirche sich geistesgegenwärtig von anderen her verstehen kann.

Glauben an die Stärken der anderen und zur Umkehr von eigenen Schwächen – Gaudium et spes als spirituelle Selbstrelativierung

Die deutsche Distanzierung weckte Widerspruch bei italienischen und frankophonen Bischöfen. Sie schickten Marie-Dominique Chenu vor, der das ausgeteilte Schema bei einer Hintergrundkonferenz der Niederländer hart kritisierte, sich nur unzulänglich von den Zeichen der Zeit her zu begreifen. Chenu plädierte damit für eine Verbindung von Soziologie und Theologie statt der präferierten von Theologie und Anthropologie. Das fand viel Zuspruch und die französischen Bischöfe handelten mit den Deutschen aus, ihre Kritik in den Kommissionsdebatten einzubringen, aber den Text selbst insgesamt zu vertreten. So kam es, dass die einführende Vorbemerkung nun eine deutliche Markierung der damals gegenwärtigen Probleme (angesichts Ratzingers Kritik) und die Schlussbemerkung die notwendige Offenheit (angesichts Rahners Kritik) betonte. Ratzinger hat seine Position zu Gaudium et spes nicht mehr verändert, Rahner ist umgeschwenkt und sah darin schließlich den ‚Anfang eines Anfangs‘ – der auch seine existentiell markierte Theologie überschreitet.
Damit war eine gefährliche Klippe umschifft, weil zugleich die Konzilsminorität versuchte, die Autorität des Textes strategisch zu relativieren und in den umstrittenen Themen Kommunismus und Atomwaffen zu unterminieren. Es ging besonders um seine Qualifizierung. Statt ‚constitutio‘ sollte am Ende etwas dogmatisch Minderes daraufstehen. ‚Brief ‘, ‚Botschaft‘, ‚Instruktion‘ waren im Angebot, aber sie schafften es nur zu weniger als einem Viertel von Stimmen bei einer ausdrücklichen Abstimmung. Um diese Minderheitsvoten weiter zu reduzieren, schlug der Krakauer Erzbischof vor, eine Fußnote zum Titel ‚pastorale Konstitution‘ zu erarbeiten. Sie ist mit * markiert und betont die Wechselwirkung von dogmatischem und pastoralem Moment. Was Menschen zutiefst angeht und ihr Lebensregime betrifft, also das Pastorale, hat lehrmäßige Qualität, weshalb nun Lehre auch jeweils neu justiert werden muss. Die Qualifizierung Pastorale Konstitution und die daran hängende Lokalisierung des Glaubens unter den jeweiligen Zeitgenossen wurden am Ende so vom Konzil verabschiedet.
Das bedeutet aber: Die jeweils nötige Konkretion kann dieser Text gar nicht vorwegnehmen, weil die Zeiten sich ändern. Sie kann die Kirche auch nicht vorgeben, weil sie jeweils mit Überraschungen rechnen muss; ihre Glaubensbestimmung müht sich jeweils um den richtigen Ort im heutigen Leben. Mit Gaudium et spes – und weiteren Konzilstexten wie NA, DH, aber auch LG (besonders LG 1) relativiert die Kirche sich selbst zu Gunsten der heutigen Menschen. Glauben wird nicht einfach vorgegeben, sondern ist aufgegeben. Deshalb wird sogar die Feindschaft ihrer Gegner wichtig und hilfreich; denn dafür muss es Gründe geben (GS 44 und 92). Deshalb sind die Zeichen der Zeit von der Gegenwart Gottes bestimmt, um die sich Katholiken selbst mühen müssen (so GS 11).
Diese Geisteshaltung wird mit der Nr. 92 bestimmt: „Die Sehnsucht nach einem solchen Gespräch, die allein von der Liebe zur Wahrheit geleitet wird, schließt – freilich unter Wahrung der angemessenen Klugheit – von unserer Seite niemanden aus“. Wer sich mit anderen konfrontiert, handelt pastoral. Wer pastoral handelt, sieht zunächst auf das, was für sie spricht. Dann geschieht zweierlei: Gott wird in den anderen erfassbar; sie sind loci theologici alieni. Und zweitens legen Stärken die eigenen Schwächen frei. Aber so wird entdeckt, worin man sich selbst ändern muss. Das geschieht konkret an Orten, an denen sichtbar wird, was im Argen lieg und Not tut, aber auch an Orten, an denen etwas geschieht, was alle Menschen weiterbringt. Das fällt nicht leicht, weil sie Utopien auflösen und befremdlich sind. Aber in solche Heterotopien reicht die Gegenwart Gottes hinein.

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