Rezensionen: Politik & Gesellschaft

Hösle, Vittorio: Mit dem Rücken zu Russland. Der Ukrainekrieg und die Fehler des Westens.
Baden-Baden: Karl Alber 2022. 158 S. Kt. 19,–.

Dass wir uns nach einem goldenen Vierteljahrhundert zwischen 1989 (dem Zusammenbruch der Sowjetunion) und 2016 (dem annus horribilis des Brexit-Referendums und der Wahl Trumps) am Beginn einer großen geschichtlichen Krise befinden, darauf wies der amerikanische Philosoph und Politikwissenschaftler Vittorio Hösle bereits 2019 in seinem Buch Globale Fliehkräfte (Rezension in den StdZ, 12/2019, 956-958) hin: Er meinte damals, dass „derjenige irrt, der meint, Nachgiebigkeit führe bei Aggressoren zu Nachsicht. Sie erzeugt nur Verachtung, und anders als bloßer Hass senkt Verachtung die Aggressionsschwelle, weil der Gegner als schwach gilt“ (189). Sein Szenario eines großen Kriegs mit drohendem Einsatz von Nuklearwaffen (Globale Fliehkräfte, Kap. 6, 174-196) ist leider bedrückende Wirklichkeit geworden.

Krisen erzeugen unbestimmte Angst-, Ohnmachts- und Frustrationsgefühle, die von populistischen Strategen ausgenützt werden können. Seit einigen Jahren gewinnen weltweit rechtsextreme Tendenzen an Terrain, und die Bedeutung eines universal gültigen Prinzips der Menschenwürde wird immer weniger verstanden. In seinem neuen Buch, welches sich speziell Putin und Russlands Überfall auf die Ukraine widmet, unternimmt Hösle den Versuch, auf der Basis einer realistischen Einschätzung Strategien für besonnenes Handeln zu entwickeln, die einen vorsichtigen Optimismus ermöglichen. Es ist in der Form eines kurzweiligen Interviews zwischen Martin Hähnel, dem Programmverantwortlichen des Verlages Karl Alber, und dem Autor gehalten. Leserinnen und Leser bekommen Antworten auf folgende Fragen: Was waren die kurz- und langfristigen Ursachen des Überfalls auf die Ukraine? Welche Fehler machte der Westen zu Zeiten von Glasnost und Perestroika (transparente Öffentlichkeit und Umbau) und später? Weshalb haben so viele Menschen gerade in Westeuropa die drohenden Gefahren unterschätzt oder verdrängt? Warum ist die Ukraine relativ erfolgreich in der Landesverteidigung? Wie wird es weitergehen? Was passiert, wenn Trump 2025 ins Weiße Haus zurückkehren sollte? Welche moralischen Prinzipien sollten die Verteidigungspolitik der NATO leiten? Welche innenpolitischen Konsequenzen hat die „Zeitenwende“ in Deutschland?

Die Beantwortung der Frage, warum so viele Menschen gerade in Westeuropa die drohende Gefahr unterschätzt oder verdrängt haben, scheint mir für das zukünftige Handeln besonders bedeutsam. Es könnte sein, dass das klassische Aufklärungsdenken in der Moderne durch den Rekurs auf den Satz Rousseaus, der Mensch sei von Natur aus gut, zu einseitig interpretiert wurde. Seit Kant werden jedem Menschen prinzipielle Vernunftfähigkeit sowie die Gutwilligkeit, das Handeln nach den eigenen Einsichten auszurichten, zugetraut. Dieses positive Menschenbild liegt der Errungenschaft toleranter Gesellschaften, nämlich der Bereitschaft zu immerwährendem Dialog bei Konflikten, zugrunde. Es gibt aber „keine Theorie für den Fall […], dass sich jemand dem Diskurs entzieht“ (119). Über Machtmenschen wie Putin heißt es: „Nur durch glaubhafte Abschreckung, nicht durch Appell an moralische Überzeugungen, die ihm fremd sind und über die er sich lustig macht, kann Putin in Schach gehalten werden. Der Mann ist wie Hitler ein moralischer Zyniker, der glaubt, erkannt zu haben, dass alles auf Macht reduzierbar ist und dass deren Kern die Gewalt bzw. die Drohung mit ihr ist. Sittengesetz und Rechtsidee sind beiden wesensfremde Begriffe “ (41).

Eva Steinherr

Bokler-Völkel, Evelyn: Die Diktatur des Islamischen Staates und seine normativen Grundlagen (Extremismus und Demokratie 43).
Baden-Baden: Nomos 2023. 443 S. Kt. 99,–.

„Nur wenn der normative Glutkern der Ideokratien deutlich erkennbar ist, können sie überwunden oder gar erst verhindert werden“ (378). Unter dem Begriff der „Ideokratie“ subsumiert Evelyn Bokler-Völkel die in den religionskritischen Aufbrüchen der Aufklärungen gründenden kommunistischen und nationalsozialistischen Ideokratien ebenso wie die theokratische Ideokratie des IS. Um Ideokratien zu überwinden ist es notwendig, überhaupt erst einmal anzuerkennen, dass es diesen Glutkern gibt, der sich im Falle des Islamischen Staates (IS) aus einem wahhabitisch enggeführten Islam heraus legitimiert. Die Autorin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für islamische Theologie an der Universität Münster und Privatdozentin am Institut für Politische Wissenschaft und Soziologie an der Universität Bonn, plädiert jedenfalls dafür, die normative Basis des IS ernstzunehmen, statt sie bloß für eine indiskutabel-oberflächliche Verfälschung des Islam zu halten.

Selbstverständlich macht die Autorin dabei immer wieder deutlich, wie eklektisch und manipulierend die IS-Ideologen mit dem Text des Koran umgehen – auf welche Stellen sie sich fixieren und an welchen Stellen sie vorbeigehen. Andererseits machen es sich aber diejenigen zu einfach, die die Attraktivität des IS gerade auch für intellektuell-theologisch interessierte Muslime und Konvertiten unterschätzen. Dazu zitieren die US-amerikanischen IS-Experten Michael Weiss und Hassan Hassan einen Zeugen aus dem IS-Kalifat: „Abdulsattar sagte, dass er letztlich von ISIS’ ‘Intellektualismus’ überzeugt wurde sowie von der Art und Weise, wie der IS Religion verbreitet und Ungerechtigkeit bekämpft“, und: „Abdulsattars Auffassung von ‚Intellektualismus‘ mag westlichen Beobachtern bizarr oder gar grotesk erscheinen, aber sie beruft sich auf das sorgsam vom IS ausgearbeitete ideologische Narrativ, eine potente Mischung islamischer Hermeneutik, Geschichte und Politik“ (192, aus dem Engl. vd. Red.). Mit diesem Konstrukt wird man nicht fertig, wenn man bloß auf die religiös ignorante Anhängerschaft des IS hinweist, die es natürlich auch gibt, oder indem man einzelne Fanatiker als psychopathologische Fälle auf die Couch legt, als gäbe es noch ein „eigentliches“ Problem hinter dem ideologischen Glutkern. Auch der politikwissenschaftliche Hinweis auf die Rolle der westlichen Kolonialmächte greift zu kurz. „Der Wahhabismus entstand im 18. Jahrhundert und kennt keine Erfahrungen mit dem westlichen Imperialismus“ (199). Hingegen hilft die Unterscheidung zwischen den nihilistischen Machtstrategen innerhalb des IS und den fanatisierten Theologen (und Theologinnen – zur Bedeutung der Frauen im IS: 260-296). Ähnlich wie in den nationalsozialistischen und kommunistischen Ideokratien ist es gerade die Kombination dieser beiden Ingredienzien, die das mörderische Gemisch ausmacht.

Evelyn Bokler-Völkel gelingt in der vorliegenden Habilitationsschrift ein tiefer Einblick in die „Heilige Wissenschaft“ (Jay Lifton) des IS, in seine inner- wie außermuslimischen Freund-Feind-Unterscheidungen, in deren Universalitätsanspruch sowie in die verheerenden Konsequenzen für alle, die auf die eine oder andere Weise nicht dazugehören. Der Vergleich mit der kommunistischen und mit der nationalsozialistischen Ideokratie hilft zu differenzieren und das spezifische Profil der jeweiligen Systeme herauszuarbeiten. Eines wird jedenfalls überdeutlich: Der militärische Sieg über den IS bedeutet lange noch nicht, dass er tot ist.

Klaus Mertes SJ

Habermas, Jürgen: Ein Neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit und die deliberative Politik.
Berlin: Suhrkamp 2022. 108 S. Kt. 18,–.

Besonders aus zwei Gründen könnte Jürgen Habermas‘ neustes Buch interessieren: Zum einen untersucht er, wie neue Kommunikationstechnologie die Öffentlichkeit beeinflusst, zum anderen bietet er eine knappe Zusammenfassung seiner Demokratietheorie.

Im ersten Teil (9-67) bringt er mit einem bereits 2021 unter dem Titel „Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit“ erschienenen Aufsatz seine 1962 veröffentlichte Dissertation „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ auf den Stand der Zeit. Öffentlichkeit wird unter politischer Hinsicht untersucht: Ihre Rolle in Demokratie besteht darin, einen Ort bereitzustellen, an dem Bürger politische Meinungen bilden. Als die entscheidende Neuerung sieht er die Digitalisierung der auf Öffentlichkeit einwirkenden Massenmedien, die er in den Rang einer „Zäsur in der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung der Medien“ (41) hebt: „Wie der Buchdruck alle zu potentiellen Lesern gemacht hatte, so macht die Digitalisierung heute alle zu potentiellen Autoren. Aber wie lange hat es gedauert, bis alle lesen gelernt hatten?“ (46). Die provokante Frage verrät seine kritische Haltung zu digitalen Medien: Indem Autorschaft nicht mehr bei ausgebildeten Journalisten, sondern bei jedem Internetnutzer liegt, seien Medienunternehmen zu „unverantwortlichen Vermittlern“ (44) verkommen, die nur noch Plattformen und Vernetzungsmöglichkeiten zur Verfügung stellten. Die digitale Medienrevolution habe ihr emanzipatorisches Versprechen nicht eingehalten, sondern nur fragmentierte, um sich selbst kreisende Meinungs-Clans hervorgebracht, die „Echoräumen“ (45) gleichen. Habermas zufolge erfüllt Öffentlichkeit ihre Funktion in Demokratie nur dann, wenn sie „integrierende“ und „aufklärerische“ Qualität hat und so einen „informierten Meinungspluralismus“ (24) ermöglicht. Dies setze voraus, dass jemand Verantwortung für Inhalte übernehme. Medienunternehmen müssten „gatekeeper“ (39) stellen, professionelles Personal, die den „Throughput lenken“ (40), d.h. zwischen dem Input der meinungsbildenden Medienplattformen und dem Output der meinungsäußernden Wähler vermitteln. Kurz: Habermas fordert, die „unzureichende politische Regulierung der neuen Medien“ (29) anzugehen.

Die Stärke seines Ansatzes liegt darin, den Einfluss digitaler Medien auf Öffentlichkeit vor dem Hintergrund seiner großen politischen Theorie zu untersuchen und so in seiner Relevanz für das ganze demokratische Gefüge sichtbar zu machen. Zugleich belegt sein Versuch, mit den neuesten technologischen Entwicklungen Schritt zu halten, in welch rasantem Tempo sich mediale Strukturen ändern. Bereits wenige Monate nach ihrem Erscheinen scheint seine Studie schon durch die nächste Zäsur der Medienentwicklung überholt zu sein: ChatGPT. In den Kategorien seiner Analyse ließe sich formulieren: So wie die Digitalisierung alle zu potentiellen Autoren machte, so macht Künstliche Intelligenz die Masse zum Autor, sie ersetzt personale Autorschaft durch anonym kollektive. Für Habermas‘ Öffentlichkeitstheorie ist entscheidend, dass die Abbildung von Mehrheiten, wie sie im Wahlergebnis geschieht, strikt zu trennen ist von dem Prozess der Meinungsbildung, der den Wahlen vorausgeht. KI-Autorschaft aber hebt eben diese Trennung auf, denn sie ist bereits eine auf Daten beruhende Abbildung von Meinungsströmungen. Sie ähnelt demokratietheoretisch also Phänomenen wie Populismus und Wahllobbying, indem sie beansprucht, Mehrheiten abzubilden, bevor sich Meinungen bilden können. Die Rolle, die Habermas der Öffentlichkeit zuspricht, wird übergangen.

Den zweiten Teil bilden zwei ebenfalls bereits veröffentlichte Texte, „Deliberative Demokratie. Ein Interview“ (69-87) und „Was heißt ‚deliberative Demokratie‘? Einwände und Missverständnisse“ (89-109). Sie geben Habermas die Gelegenheit, „einer Reihe von stereotyp wiederholten Einwänden“ (97) zu begegnen und können als eine Art Best-Of seiner Thesen zur deliberativen Demokratie gelesen werden. Zudem belegt er durch Bezugnahme auf Sozialökologie, Brexit, Corona-Pandemie, Silicon Valley, Netflix, Podcasts, Kapitolerstürmung, Ukraine-Krieg, Letzte Generation usw. das Erklärungspotenzial seiner Modelle auch in den aktuellen Problematiken.

Moritz Kuhlmann

Pörksen, Bernhard: Die große Gereiztheit, Wege aus der kollektiven Erregung.
München: Goldmann 2021. 256 S. Kt. 11,–.

Bereits 1964 schrieb der kanadische Medientheoretiker Marschall McLuhan, die Nerven der gesamten Menschheit seien „nach außen gewandert und bilde(te)n
eine elektrische Umwelt.“ Was das bedeutet, beschreibt der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen in dem vorliegenden Buch auf eindrucksvolle Weise. Der Flügelschlag eines Schmetterlings (128 ff.) zum Beispiel, Metapher für eine minimale Bewegung in sozialen Netzwerken, kann den „digitalen Schmetterlingseffekt“ auslösen, einen Tornado, der Reputation und Leben von Menschen dauerhaft zerstört. Der Autor porträtiert und analysiert in den ersten Kapiteln des Buches die Hintergrundstruktur solcher und vergleichbarer Effekte. Sie lösen eine gesellschaftliche Krise des Selbstverständnisses von Kommunikation und damit überhaupt von menschlichen Beziehungen aus: Wahrheitskrise (24-61), Diskurskrise (62-91), Autoritätskrise (92-115), Behaglichkeitskriese (116-155) und Reputationskrise (156-185).

Im Schlusskapitel versucht der Autor, Wege aus der Krise zu beschreiben. „Heute ist jeder, der einen Netzzugang besitzt, ein Gatekeeper eigenen Rechts, der das Klima der Öffentlichkeit mitbestimmt … Die klassischen Fragen nach der Relevanz, der Glaubwürdigkeit und der Überprüfung von Informationen gehen heute jeden an.“ (184). Man könnte auch vereinfacht sagen: Heute ist jeder Journalist. Das alte Grundvertrauen gegenüber den klassischen Gatekeepern ist gestört, nicht nur wegen individuellen Versagens einzelner Gatekeeper, sondern grundsätzlich, systemisch. Da helfen auch keine Gut-Böse-Dichotomien, und auch keine rückwärtsgewandten Sehnsüchte. „Das medienmächtig gewordene Publikum taugt nicht als Sündenbock. Die Grenzüberschreitung ist keine Spezialität der vernetzten Vielen“ (180). Die alte Welt wird es nicht mehr geben, in der eine Berufsgruppe namens „Journalisten“ die Gatekeeper-Funktion für die Mehrheit übernimmt. Im Internetzeitalter ist die Gesellschaft eine „redaktionelle Gesellschaft“ geworden (186-219). Daraus ergibt sich ein „in seiner Dimension kaum wirklich entzifferter Bildungsauftrag“ (188). In diesem Sinne universalisiert Pörksen die ethischen Maximen des Journalismus und schlägt u.a. ein eigenes Schulfach „als Labor der redaktionellen Gesellschaft“ vor.

Der Schlüssel liegt in der Bildung. Es geht gerade beim Umgang mit den neuen Medien um mehr als um „Kompetenz“-Erwerb, um mehr als um die Vermittlung von „Können“. Es geht um die Selbstbestimmung des Menschen vor dem Anspruch der großen Fragen der Philosophie, wie Kant sie formulierte: Was kann ich wissen? Was soll ich tun? Was ist der Mensch? Was kann ich hoffen? Nur so werden Haltungen erworben, durch die eine Gesellschaft als Ganze dahin reifen kann, sich der Gatekeeper-Verantwortung zu stellen.

Klaus Mertes SJ

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