Rezensionen: Theologie & Kirche

Brockmöller, Katrin / Jax, Aurica (Hgg.): Frauen verkünden das Wort.
Stuttgart: Katholisches Bibelwerk 2021.192 S. Gb. 16,95.

39 Predigten von Frauen, die sich mit ihrem Text an der bundesweiten Predigt-Initiative „Frauen verkünden das Wort“ 2020 beteiligt haben, wurden durch eine zwölfköpfige Jury aus 130 eingesandten Texten ausgewählt. Initiiert wurde das Buchprojekt durch die Unterkommission „Frauen in Kirche und Gesellschaft“ der Deutschen Bischofskonferenz als Beitrag zum internationalen Katholischen Jahr des Wortes Gottes gemeinsam mit dem Katholischen Bibelwerk und der Arbeitsstelle für Frauenseelsorge. Patronin der Aktion ist die mittelalterliche Kirchenlehrerin und Visionärin Hildegard von Bingen. In manchen Bistümern – etwa Osnabrück – haben in der Woche rund um Hildegards Gedenktag am 17. September ehren- und hauptamtliche Frauen in Gottesdiensten Gottes Wort verkündet und gepredigt. Parallel rief auch die „Katholische Frauengemeinschaft Deutschlands“ (kfd) eine Predigtaktion ins Leben – für den 17. Mai, den Tag der Apostelin Junia.

Die 39 Frauen im Alter von 24 bis 74 Jahren – geben mit ihren Auslegungen des Wortes Gottes eine beeindruckende Vielfalt von Lebens- und Glaubenszeugnissen. Viele von ihnen sind theologisch ausgebildet und z.B. hauptamtlich in der Pastoral oder als Religionslehrerin tätig, manche arbeiten beruflich in anderen Feldern, z.B. als Diplomchemikerin, Rechtsanwältin oder Glasmalerin. Alle Frauen formulierten ihre Predigt zu einem selbst gewählten biblischen Text. Neben dem Format einer dialogischen Predigt finden sich auch die Briefform, die szenische Lesung und das fiktive Gespräch.

Inhaltlich liegt neben der Lebenserfahrungen der Autorinnen ein Schwerpunkt auf aktuellen (globalen) gesellschaftlichen und politischen Themen wie der Corona-Pandemie und ihren Auswirkungen auf unser Leben, der Klimakrise und der Debatte über Rassismus (z.B. am Fall George Floyd). Insbesondere das Thema „Erneuerung der Kirche“ taucht immer wieder in den Texten auf, häufig verbunden mit der Rolle von Frauen in der Kirche.

In allen Texten geht es um die Auseinandersetzung mit unserem Gottesbild oder vielmehr unseren Gottesbildern und damit, wie wir „Hörer*innen des Wortes“ sein können. Damit verbunden ist vielfach die Frage danach, wofür Kirche heute steht und stehen sollte. Eine der Frauen fordert auf zum „Mut zur Wut“ (134), um uns gegen Unterdrückung und Diskriminierung einzusetzen und „ins Handeln zu kommen“ für eine Veränderung unserer Kirche.

Im Bistum Osnabrück hat sich ausgehend von der Predigtaktion die Tradition einer jährlichen Aktionswoche etabliert, in der Laien (Frauen* und Männer*) das Wort Gottes verkünden und predigen. Vielleicht kann das Buch perspektivisch den Beginn einer Veränderung markieren, in der die Aktion sich selbst „überflüssig macht“, da es selbstverständlich wird, dass Frauen* in der katholischen Kirche predigen. Denn: „Auf diesen Schatz an Erfahrung und Leben zu verzichten, ist eine Verarmung unserer Kirche und schwächt ihre Zukunftsfähigkeit sehr.“, so Bischof Dr. Franz-Josef Bode in seinem Grußwort am Beginn des Bandes.

                Farina Dierker

 

Hoff, Johannes: Verteidigung des Heiligen. Anthropologie der digitalen Transformation.
Freiburg: Herder 2021. 608 S. Gb. 58,–.

Der Autor ist vor zwei Jahren aus dem englischsprachigen Raum in den deutschsprachigen zurückgekehrt und präsentiert ein umfassendes Werk, das er selbst als „Streitschrift“ (8) bezeichnet. Die Beheimatung in verschiedenen Denkperspektiven ist anregend bei dem Gang durch die Geistesgeschichte, die Hoff in großen Bögen, dicht aber verständlich, skizziert. Die philosophisch-theologischen Fragen sind fundiert gestellt. Der Ton ist unaufgeregt und didaktisch: Sachverhalte und Denktraditionen werden verständlich und anschaulich dargestellt, ohne dabei die Komplexität zu verlieren. Hoff zeigt verschiedene „lehrreiche Holzwege“ (100) der Philosophie- und Theologiegeschichte auf, die sich in einer binären Logik des Schwarz-Weiß-Denkens verrannt haben. An ihre Stelle setzt der Autor eine Kultivierung einer „Weisheit des Nichtwissens“ (120) und eröffnet Zwischenräume der Schattierungen, bspw. zwischen „Biokonservativen“ und „Transhumanisten“.

Kritisch setzt Hoff sich mit den Herausforderungen der digitalen Transformation und ihren anthropologischen und technikphilosophischen Grundlagen auseinander, die u.a. zum „digitalen Panoptikum von Google & Co“ (240) geführt haben. Ein Ausweg liegt in der Wiederentdeckung von Vergebung, um ein Gleichgewicht zwischen Erinnern und Vergessen zu schaffen. Im Kern geht es aber nicht um den Transhumanismus oder die Dynamiken sogenannter Sozialer Netzwerke. Diese beruhen auf Entwicklungen, die weit älter sind als die digitale Transformation selbst: „Unsere narzisstische TikTok-Welt ist bereits mehr als 500 Jahre alt“ (391). Neben dem ökologischen Klimawandel diagnostiziert der Autor die „Verwüstung geistiger Vielfalt“ und einen „damit einhergehenden spirituellen Klimawandel“ (299); auch der Papst macht auf die Verbindung beider Krisen aufmerksam.

Im weisheitlichen Denken gehören Wissenschaft und Spiritualität zusammen, und so legt Hoff seinen eigenen Antwortversuchen ein „ABC christlicher Spiritualität“ als „Quellcode“ (394) zugrunde: A) Ununterschiedenheit nach Meister Eckhart, B) Responsivität nach Augustinus (vgl. H. Rosas Resonanz), C) Spiritualität als Erkenntnismedium nach Cusanus. Daraus entsteht eine fruchtbare Verbindung zwischen Philosophie und Theologie, zwischen Wissenschaft, Spiritualität und Pastoral.

Die Theologie, die in der „Verteidigung des Heiligen“ entwickelt wird, widersteht der Versuchung, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen und ihn mit Gott konkurrieren zu lassen. Unter Rückgriff auf die christologischen Debatten der ersten Konzilien, führt H. aus dem komparativen Denken der sozialen Netzwerke hinaus: „Wenn es in unserer Facebook-Welt darum geht, zwischen Sein und Schein zu unterscheiden, dann ist entscheidend, was einer Maske hypostatisch zugrunde liegt“ (534).

Was Mensch-Sein eigentlich bedeutet, das eröffnet sich im unverfügbaren Staunen, das zu Lobpreis führt. Die Heiligkeit ist Ausgangspunkt dieser Anthropologie: „Nur die Frage nach dem Heiligen erlaubt uns zu verstehen, was das Wort ‚Mensch‘ bedeutet“ (538).

Das Buch endet, fast überraschend, nicht mit einem Fazit. Es öffnet eine Perspektive, die zum Weiterdenken aufruft: Wie kann und wird diese Anthropologie die Transformationsprozesse, in denen wir uns bewegen, tatsächlich verändern und einen neuen Umgang mit den technischen Tools und Möglichkeiten prägen?

                Dag Heinrichowski SJ

 

Moos, Fabian: Der Zukunft eine Zukunft geben. Eine Spiritualität der sozialökologischen Umkehr (Ignatianische Impulse 91).
Würzburg: echter 2021. 90 S. Gb. 8,90.

An einem Frühlingstag an der Berliner Havel empfiehlt sich die Lektüre von Fabian Moos SJ Büchlein aus der Reihe der Ignatianischen Impulse. Wenn die Sonne über dem Wannsee untergeht und sich das Licht in den Bäumen des Havelhöhen-Wanderwegs bricht, erhält man ein Gefühl dafür, was der Autor unter „Dankbarkeit für die Schöpfung“ verstehen könnte. Moos entwickelt spirituelle Perspektiven für ein gutes Leben in der Schöpfung und für den gerechten Umgang mit ihr. Den Rahmen dafür eröffnen die Geistlichen Übungen des Ordensgründers Ignatius von Loyola, Orientierung bieten bewährte Narrative der Psalmen und Gebete: Dankbarkeit, Reflexion, Umkehr, Bitten.

Einer Überromantisierung und verklärender Ignoranz gegenüber den globalen und persönlichen Katastrophen durch den Klimawandel hält der Autor konstruktive Vorschläge entgegen, die von einem hohen Sachverstand bei verständlicher Sprache zeugen. Die traditionell jesuitische Kunst des „Unterscheidens der Geister“ ist ihm bei der Bewertung divergierender Idealvorstellungen von Wirtschaft, gesellschaftlichem Zusammenleben und Umweltschutz ein zuverlässiger Kompass.

Besonders gewinnbringend und ein Alleinstellungsmerkmal gegenüber säkularer Sachliteratur sind die Übungen am Ende jedes Kapitels, die dazu einladen, gleich selbst mit Dank, Reflexion und Umkehr zu beginnen. Bei den Übungen werden die persönliche Verflechtung in die Gesellschaft, in die Welt und Umwelt sowie mögliche Ängste und Hürden mitbedacht und ernst genommen, ohne dass die Spiritualität dahinter in kitschige Selbstgenügsamkeit zu kippen droht.

Mutiger hätte Moos sich zu seinem gelungenen Konzept verhalten können, indem er sich mehr von Franziskus Enzyklika Laudato si‘ gelöst hätte. Kaum eine Seite kommt ohne ausführlichen Verweis darauf aus. Zweifellos stellt die sozialökologische Enzyklika einen Meilenstein dar, an dem Generationen von Theologen nicht mehr vorbeikommen werden – und das sollen sie auch nicht. So aber macht sich die eigentlich eigenständige Publikation unnötig etwas kleiner als sie ist.

Mutiger hätten auch mehr konkrete Beispiele dafür sein können, auf welche Weise westliche Bürgerinnen und Bürger diametral gegenüber einer sozial und ökologisch gerechten Welt konsumieren und handeln, auch wenn das noch immer die Gefahr birgt, Wohlstandsverwöhnten ein wenig vor den Kopf zu stoßen. Durchaus benennt Moos etwa den Rattenschwanz an Ungerechtigkeiten in den Produktionsketten für unsere Smartphones. Andernorts relativiert er aber, dass wir in „sündhaften Kontexten“ leben, für die wir als Einzelne nicht direkt verantwortlich gemacht werden könnten. Der oft allgemein kritisierte Konsum verblasst durch diese versöhnliche Inkonsequenz zu einem diffusen und dadurch unanfechtbaren Nebel. Den Ruf nach einer „Revolution“ überlässt Moos am Ende Franziskus (88).

Der Autor hat durchaus Recht damit, dass der Einzelne nicht von heute auf morgen die Welt wird retten können – aber es fängt doch beim Einzelnen an, und bei der Vernetzung vor Ort: Hoffnungsvolle Berichte und Stimmen für das Gründen von Netzwerken und Initiativen lässt Moos durch Freunde und Bekannte in den abschließenden Kapiteln des Buches zu Wort kommen, darunter auch Kommilitonen des Campus de la Transition, auf dem sich der Autor südlich von Paris engagiert: hervorragende Beispiele für einen Weg, „der Zukunft eine Zukunft zu geben“.

                Philipp Adolphs

 

Leppin, Volker: Ruhen in Gott. Geschichte der christlichen Mystik.
München: C.H.Beck 2021. 476 S. Gb. 32,–.

Ziemlich riskant, in einem knappen Band eine gesamte Geschichte der ja unglaublich vielfältigen zweitausendjährigen christlichen Mystik vorzulegen... Volker Leppin, bis vor kurzem Kirchenhistoriker in Tübingen, jetzt in Yale, wagt es nach langjähriger Beschäftigung mit der Thematik. Zu Beginn reflektiert er sein Vorhaben: Eine allgemeine Definition des Begriffs kann es nicht geben, zu eng wäre sie für die Weite der mystischen Phänomene. Mystik ist eine Erfahrung, die sich dem beschreibenden Zugriff von außen entzieht; sie wird behauptet, aber als Realität. Sie schließt Reflexion ein, ist Frömmigkeit und These, beides aufeinander bezogen. Genau genommen legt Leppin keine Geschichte der Mystik vor, sondern eine von Texten: Diese kreisen um eine exzeptionelle Nähe zu Gott und werden „mystisch“ genannt – auf anderes hat der Historiker ja keinen wirklichen Zugriff. Wäre der Titel des Buches nicht zu korrigieren?

Hilfreich sind Leppins acht Merkmale christlicher Mystik: Sie betonen die geistliche Wirklichkeit Gottes; man erfährt Gottes unmittelbare Nähe; mystische Erfahrung unterscheidet sich von äußeren Begegnungsformen; sie ist nicht kognitiv, sondern überbegrifflich; sie hebt die individuelle Identität auf (im dreifachen Sinn des Wortes); oft beschreibt sie den dreifachen Weg der Reinigung, der Erleuchtung und der Einigung; sie geschieht nur momenthaft; sie erscheint als Vorwegnahme der letzten Wirklichkeit des Heils.

Oft überschreitet Mystik Grenzen, sozial und religiös; sie emanzipiert das Individuum aus der kirchlichen Kontrolle und macht sich daher bisweilen kirchlich verdächtig. Mystik verbindet Menschen über Konfessionen – und Religionen? – hinweg. Manchmal muss sie mit dem Pantheismus- oder mit anderen Häresie-Vorwürfen leben.

Leppin geht durch die Geschichte: Von Jesus und Paulus – die präsentische Eschatologie, das In-Sein in Christus – geht der Weg über die Gnosis und die Kirchenväter des Ostens ins Mittelalter. Nach dem wichtigen Bernhard von Clairvaux verweilt Leppin zuerst bei der deutschen Frauenmystik mit ihren oft erotisch aufgeladenen Bildern, schließlich ausführlich im späten Mittelalter und in der Reformationszeit – hier hat er seinen Forschungsschwerpunkt, hier sind die Ausführungen besonders profund. Danach liegt der Schwerpunkt im Protestantismus, katholische oder orthodoxe Mystik wird eher kursorisch behandelt. Vom 18. bis ins 20. Jahrhundert wird die Überfülle an AutorInnen und Strömungen – oft könnte man diskutieren, was noch unter „Mystik“ fällt und was nicht – nur noch angerissen, mehr ist da nicht mehr möglich. Das bleibt etwas unbefriedigend – die LeserInnen mögen es als Appetizer nehmen, selbst weiter zu forschen oder direkt zu den Originaltexten zu greifen.

Dunkle Seiten der Mystik, etwa der Kampf gegen vermeintliche oder reale „böse“ Mächte oder der geistliche Missbrauch, kommen in dem Buch nicht vor. Auch leidet es notgedrungen darunter, dass man nur Texte kennt und nicht die Erfahrung, dass Texte nur von gebildeten AutorInnen vorliegen und dass folglich das Theologisieren doch ein Übergewicht bekommt – es gibt sicherlich noch einen riesigen, sehr reichen und leider unbekannten Strom mystischer Erfahrung des einfachen Volkes Gottes. Dennoch: Auf hohem Niveau führt der gut lesbare Band in einen überreichen Schatz christlichen Lebens ein.

                Stefan Kiechle SJ

 

Serres, Michel: Das Verbindende. Ein Essay über Religion.
Berlin: Suhrkamp 2021. 240 S. Kt. 16,–.

„Das Verbindende ist das letzte Buch von Michel Serres. Er hat wohl ein Leben lang an ihm gearbeitet. (…) Am Vorabend seines Todes hat er es mir geschickt und mich gebeten, es zu veröffentlichen.“ Mit diesen Worten leitet die Verlegerin den „Essay über Religion“ des 2019 verstorbenen französischen Philosophen ein. Dem Vorwort folgen die drei Hauptteile „Hotspots, Scheitelpunkte: Vertikale Verbindung“ (11-102), „Gewalt und Liebe: Horizontale Verbindung“ (103-210) und „Das Problem des Bösen“ (211-247). Zwischenüberschriften unterbrechen die Unterkapitel; fast auf jeder Seite eine, manchmal sogar zwei, ohne nummerische Gliederung. Ein Verzeichnis der Literatur findet sich nicht.

Der erste Hauptteil zur „vertikalen Verbindung“ blickt auf Orte, in denen sich eine andere Welt zeigt (17 f.). Virtuelles bricht ins Konkrete. Mythische Legenden reihen sich an naturwissenschaftliche Episoden. Dazwischen stehen Fragen, weit mehr als hundert, unbeantwortete Fragen. Themen, die historisch weit auseinander liegen, werden in Beziehung gesetzt (51). Inmitten der Deutungen liegen strukturierte Gedankeninseln wie jene zum Wesen der Zeit (81-86).

„War der erste Teil dieses Buches so schnell unterwegs wie ein von oben herabfahrender Blitz, so bewegt sich der jetzt folgende eher gemächlich wie eine Flut, die einen weitläufigen Strand unter Wasser setzt. (…) Ich suche nun also nach den Quellen, denen die Kollektivbildung entspringen“ (105). Bei der Suche nach der „horizontalen Verbindung“ in den nicht leicht zu verstehenden Passagen zeigt sich, dass dieser „Essay über Religion“ als „Essay über das Christliche“ geschrieben wurde: „Die Frohe Botschaft, das Band der Liebe (…) öffnet sich der ganzen Menschheit“ (175). Eine vertikale Verbindung überträgt sich ins Horizontale.

Der dritte Teil „Das Problem des Bösen“ ist der kürzeste. Hier kommen die Ambivalenzen des Phänomens Religion zur Sprache: „So baut die Religion ein Haus (…). Darum kann es sich auch in ein Gefängnis für das Leben, die Gruppe und das Denken verwandeln“ (205 f.). Man muss das ganze Buch lesen, um zu einem Satz zu gelangen, der verstehen lässt, weshalb dieser Essay in der französischen Originalausgabe mit „Relire le relié“ (das Verbundene wieder lesen) überschrieben wurde: Es brauche „einen grenzenlosen, unendlichen Gott, um uns zu helfen, diesen Abgrund einer individuellen, kollektiven, menschlichen, auf der horizontalen Ebene der Immanenz verfügbaren Antwort auf die Frage der anhaltenden, unbegrenzten, kein Ende findenden Gewalt“ verstehen zu können. Diese Antwort findet der Autor in der steten „relecture“ der Mystik „die in allen Religionen gegenwärtig und wirksam, also universal ist“ (247).

Das ganze Buch hindurch gleicht der Autor einem Stadtführer, der hastig durch geschichtsträchtige Gassen läuft, unerwartet abbiegt, die Episode zum letzten Monument weitererzählt, stehenbleibt und schließlich einen eigenwilligen Weg zum nächsten Denkmal einschlägt (167 f., 207 f.). Er scheint zu merken, dass es den Besuchern nicht leichtfällt, ihm zu folgen. Mit eingeschobenen Lesungen, Zwischenspielen und -bilanzen müht er sich, Pausen einzubauen. Der Text liest sich wie eine Abfolge von Tagebucheinträgen ohne Zeiteinteilung, eine assoziative Meditation, durchzogen vom persönlichen Bekenntnis – am Vorabend des letzten Lebenstags zur Veröffentlichung freigegeben: „Als ich jung war, eröffnete mir der Glaube einen unbeschwerten Zugang zu Gott. (…) An der Pforte des Todes und am Ende dieses dem Denken gewidmeten Wegs sehe ich mich (…) dem Ziel unendlich fern (…), ich verharre in seiner unendlich nahen Nähe“ (208).

                Bernhard Bleyer

 

Kraus, Wolfgang / Tilly, Michael / Töllner, Axel (Hgg.): Das Neue Testament – jüdisch erklärt. Lutherübersetzung mit Kommentaren. Infos & Essays zum jüdischen Glauben und zur jüdischen Geschichte.
Stuttgart: Deutsche Bibelgesellschaft 2021. 949 S. Gb. 53,–.

Es fehlt nicht an Dokumenten zum christlich-jüdischen Dialog. Dieses Buch nimmt dadurch eine Sonderstellung ein, dass hier (in Neubearbeitung und jetzt in deutscher Sprache) erstmalig ein vollständiger Kommentar zu allen Schriften des Neuen Testaments aus der Feder jüdischer Autorinnen und Autoren geboten wird, zusammen mit zahlreichen (58) Exkursen zu Einzelthemen. Die Originalausgabe „The Jewish Annotated New Testament“ erschien 2011 in der Oxford University Press. Der deutschen Ausgabe liegt die zweite Auflage des englischsprachigen Werkes von 2017 zugrunde, mit der Textgrundlage der revidierten Lutherbibel von 2017. Zahlreiche evangelische Landeskirchen haben das Werk unterstützt.

Es ist nicht möglich, das umfangreiche Werk hier im Einzelnen darzustellen. Einige Beobachtungen mögen genügen. Zunächst einmal vermitteln die Autorinnen und Autoren das Bild eines Jesus, der ganz ins Judentum hineingehört. Das gilt nicht nur für die vier Evangelien, sondern auch für Paulus. Nicht nur bei Matthäus wird Jesus als ein Mann geschildert, der treu zum Gesetz steht. Wenn er in den Evangelien als „Sohn Gottes“ bezeichnet wird, dann ist dies kein messianischer Titel, doch kennt der Tanach (die Bibel Israels) diese Bezeichnung für das Gottesvolk (vgl. Ex 4,22-23; Os 11,1). „Es gibt keinen Anhaltspunkt, dass Jesus nach jüdischen Rechtsnormen der Blasphemie schuldig war“ (33). Auch Paulus gehört nach diesem Buch ins Judentum, wie schon in der Einleitung zum Römerbrief festgestellt wird (304). Das Christentum ist zu dieser Zeit noch keine selbstständige Religion. Von grundlegender Bedeutung ist die Aussage nach Röm 11, dass Gottes Bund mit Israel ungekündigt bleibt (ebd.).

Dass Christen als solche von den jüdischen Gemeinden ausgeschlossen oder sogar verfolgt worden wären, wird von den Autorinnen und Autoren bestritten. Die entsprechenden Aussagen etwa im Johannesevangelium lassen sich historisch nicht verifizieren. Die Steinigung des Stephanus war Ergebnis einer Lynchjustiz, die Hinrichtung von Jakobus d. Ä. Entscheidung von König Agrippa I. Statt eines Ausschlusses der Christen aus dem Synagogenverband gab es eher ein Sich-Trennen der Wege, wie man heute sagt. Dabei zeigen schon die Evangelien die Tendenz, Judentum und Juden negativ zu charakterisieren, ob nun Matthäus oder Johannes oder auch Lukas vor allem in der Apostelgeschichte. Der Begriff „Juden“ wird im Johannesevangelium fast durchweg negativ verwendet, ja sie erscheinen sogar als „Kinder des Teufels“ (Joh 8,44). Wenige Ausnahmen wie Joh 4,22 „Das Heil kommt von den Juden“ bestätigen eher die Regel. Positiv sind nur die Begriffe „Israel“ und „Israelit“ besetzt.

Die zahlreichen Exkurse bestätigen und vertiefen das durch Einzelauslegungen gewonnene Bild. Am Schluss stehen neu hinzugefügte Abschnitte über den jüdisch-christlichen Dialog im deutschen Sprachraum. Das Abkürzungsverzeichnis bietet einen breiten Überblick über die verwendeten Quellen. Der Jerusalemer und der Babylonische Talmud sind im Internet leicht aufrufbar unter talmud.de und sefaria.org. Wer aus christlicher Sicht etwas zu rabbinischer Literatur nachlesen möchte, kann dies (hundert Jahre nach dem Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch von Hermann Strack und Paul Billerbeck) u. a. bei Reinhard Neudecker tun: „Rabbinic literature: a rich source for the interpretation and implementation of the Old and New Testaments: selected essays“. Rom 2016.

                Johannes Beutler SJ

 

Crane, Tim: Die Bedeutung des Glaubens. Religion aus der Sicht eines Atheisten.
Berlin: Suhrkamp 22020. 187 S. Gb. 22,–.

Wenn Autorinnen und Autoren eine Selbstbezeichnung in Buchtiteln unterbringen und damit vorab schon klären, wogegen sie sind, folgt nicht selten eine Rechtfertigungsschrift in eigener Sache. In diesem Fall kommt es anders. Der ablehnenden Haltung geht eine sachliche Auseinandersetzung voraus. Jemand, der sich als Atheist bezeichnet, will erst die Bedeutung des religiösen Glaubens verstehen.

Das erstmals 2017 in der Harvard University Press erschienene Buch ist übersichtlich gegliedert: Vorwort, fünf Kapitel, Anmerkungen und Register. Begriffe werden vor ihrer Verwendung geklärt: „Religion, so wie ich das Wort verwende, ist ein systematischer und praktischer Versuch, den Menschen unternehmen, um Sinn und Bedeutung in der Welt und ihren Platz in dieser zu finden, und zwar in Form einer Beziehung zu etwas Transzendentem“ (17). Der leitende Gedanke (103, 107-112) fasst die Religion als ein Zusammenspiel von zwei Einstellungen auf, die sich beide aus der Idee des Heiligen speisen und von ihr zusammengehalten werden: Aus einer Ahnung, dass all das hier noch nicht alles sein kann (religiöser Impuls), und aus der Zugehörigkeit zu einer Tradition (Identifikation).

Der religiöse Impuls zielt nicht so sehr auf wissenschaftliche Überprüfbarkeit, sondern vielmehr auf die Bedeutung des Transzendenten für das eigene Lebensverständnis (28 und 66). Der Vorwurf der Nichtbeweisbarkeit gehe deshalb an der Sache des Glaubens vorbei. „Glaube ist nicht einfach Überzeugung [belief] (…), sondern vielmehr eine Art Festlegung auf eine Weltsicht (…); man hält daran fest, so wie ein treuer Freund an unserer Seite bleibt“ (76). Der religiöse Impuls bewirke einen bestimmten Standpunkt dazu, ob all das hier eben schon alles sei.

Mit der Idee des Transzendenten, des Heiligen, verbindet sich zudem soziale Zugehörigkeit. In der Regel steht diese nicht am Ende eines Aushandlungsprozesses, sondern jemand bekennt sich zu etwas, wozu sich eine Gemeinschaft, die es schon gibt, bereits bekennt. Traditionen, wie sie in Texten und Riten wiederholend Ausdruck finden, verbinden die gegenwärtige Suche nach einer Bedeutung des Jenseitigen mit jenen Versuchen in der Vergangenheit.

Gleichsam einem Härtetest, ob dieses Verständnis von Religion auch kritischen Einwänden standhalten kann, kommt das vorletzte Kapitel auf die religiös motivierte Gewalt zu sprechen. Anhand von vier Hypothesen zeigt der Text die Widersprüchlichkeit eines schwerwiegenden Einwands, der im Zuge der Brights-Bewegung geäußert wird, auf. Zusammengefasst: Sämtliche schweren Verbrechen der Geschichte gehen in der Regel von einer Religion aus (Sam Harris, Christopher Hitchens; 115-119). Mal mit dem Nachweis logischer Fehlschlüsse, mal mit historischen Argumenten, mal mit empirischen Daten gelingt es, die Unstimmigkeiten des Vorwurfs offenzulegen und die Vielschichtigkeit des Problems religiöser Gewalt zu zeigen.

Die Liste derer, die dieses Buch in Rezensionen loben, ist lang. Was dieses Buch auszeichnet, beschreibt einer treffend: „Distinctive, thoughtful, and carefully argued“ (John Cottingham). Es ist dieser auf Verständigung ausgerichtete Zugang, der das Buch so lesenswert macht und der zum letzten Kapitel über Toleranz führt. „Jeder Vorschlag, wie Atheisten und Theisten zusammenleben sollen, muss sich letzten Endes dem Faktum stellen, dass weder die Religion noch der Säkularismus verschwinden werden. Das Minimalziel ist friedliche Koexistenz, das Maximalziel eine Art Dialog unter denen, die sehr unterschiedliche Sichtweisen der Wirklichkeit haben“ (176). So schlicht es klingt, so richtig ist es.

Bernhard Bleyer

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