Missbrauchte ReligionDie Ukraine als Opfer des religiösen Fundamentalismus

Der Angriffskrieg gegen die Ukraine wird in russischer Propaganda auch religiös legitimiert. Moskau als das „dritte Rom“ habe die göttliche Pflicht, sein Reich gegen das Böse im Westen zu verteidigen. Wolfgang Beinert, emeritierter Professor für Dogmatik an der Universität Regensburg, veranschaulicht die Bedeutung fundamentalistischer russischer Orthodoxie für das russische Selbstverständnis. Patriarch Kyrill I. und Putin ziehen an einem Strang, weil die Einheit des bedroht geglaubten Reiches nicht bloß nationalistische Relevanz habe, sondern auch dem Willen Gottes entspräche.

Der 24. Februar 2022 ist einer der Tage, dessen Konturen nie verblassen werden, wie Nine-Eleven. Buchstäblich über Nacht wurden die Perspektiven von gestern genichtet: „Der Krieg gegen die Ukraine hat zu einem in der Geschichte der Bundesrepublik nie erlebten Zusammenbruch des Zukunftsoptimismus geführt. Nur noch 19 Prozent der Bevölkerung sind für die nächsten zwölf Monate optimistisch gestimmt, die Mehrheit ist dagegen tief besorgt“, stellte das Allensbach-Institut für Demoskopie einen Monat nach Kriegsausbruch fest.1 Außenministerin Annalena Baerbock brachte es am Morgen des Kriegsausbruchs auf den Punkt: „Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“2. Bundeskanzler Olaf Scholz sprach in einer historischen Rede vor dem Bundestag von einer „Zeitenwende“3. Die Tat eines einzelnen hat die ganze Welt in eine neue, schreckliche Ära versetzt.4 Zusammengebrochen ist eine Friedensordnung, die fast achtzig Jahre gewährt hatte. Ruiniert ist eine Weltwirtschaft, deren auf Globalität eingestellter Motor heftig stottert. Ungültig wird die Prioritätenliste der westlichen Agenda (Klimawandel, Pandemie, Energiewende). Mit einem Wort: Das Böse ist mit einem Schlag dergestalt gegenwärtig, dass uns das Gestern – gewiss nicht problemlos – heute wie das verlorene Paradies erscheint. Es müssen solche Konstellationen gewesen sein, die in der Menschheit die Überzeugung von einem personalen absoluten Bösen haben entstehen lassen.

In Wirklichkeit war der an jenem Wintertag begonnene Krieg die Auszeitigung von Entwicklungen, die sich schon lange angebahnt hatten, vor denen immer wieder gewarnt worden war. Die Ursachenforschung hat mittlerweile eine Menge von kausalen Voraussetzungen benannt, die zu Putins Offensive geführt haben. Es scheint jedoch, dass eine noch kaum zur Sprache gekommen ist:5 Die religiöse Konnotation des Denkens der russischen Führung, die aber auch landesweit große Verbreitung besitzt. Die Zahl der Russen, welche sich mit der Orthodoxie identifizieren, beträgt (Stand 2020) über 60 Prozent der Bevölkerung. Das bedeutet einen Zuwachs um zwei Drittel gegenüber den Zahlen von 1990. Die russische Kirche gilt seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Trägerin der nationalen Identität: Ein echter Russe ist ein wahrer Orthodoxer.6 Der Präsident teilt diese These. Das zeigen u. a. seine historiosophischen Verlautbarungen der letzten Jahre, die in der großen russischen Denktradition eines Berdjajew oder Solschenizyn stehen. Unermüdlich betont er, dass die größte Tragödie des 20. Jahrhunderts nicht die beiden Weltkriege oder der Bau der Berliner Mauer gewesen sei, sondern die Implosion des Sowjetstaates als Inkarnation des eigentlichen Russlands. Er träumt von einem Riesenreich von Polen bis zum Pazifik – mit einer Sprache, der russischen, mit einem Glauben, dem wahren, d.h. orthodoxen, mit einem Herrschaftsvolk, dem slawischen. Einen besonderen Rang nehmen dabei die Ukraine und Belarus ein als Kern- und Herzland der Rossija.7

Es genügt nicht, diese Vorstellungen einfach zur Kenntnis zu nehmen: Die Einschaltung der Religion in die laufenden Vorgänge muss auch unter der Perspektive gesehen werden, dass daraus unversehens ein dritter Weltkrieg folgen kann. Wie dargelegt werden soll, handelt es sich bei der Beanspruchung der Religion durch die Politik um einen Missbrauch der (christlichen) Religion. Welche unheilvollen Folgen ein solcher haben kann, braucht man in diesen Jahren nicht lange zu erklären. Wir sehen alle, wie und dass Religion – eigentlich erklärte Waffe im Kampf gegen das Böse – selber durch und durch zu dessen Werkzeug wird. Der klerikalistische Missbrauch vor allem in Westeuropa hat eine Krise ausgelöst, die die Kirchen – vor allem die römisch-katholische – an den Rand des Zusammenbruchs geführt hat. Religion vermag Heil und Segen zu verschaffen – das wäre ihr Wesen. Wir sehen mit Entsetzen: Mit ihrem Wesen ist offenkundig stets ein Unwesen auf dem Plan, welches Zerstörung und Vernichtung wirkt. Auch die Verflechtung von Politik und Religion hat dieses Potential.

Im Blick auf die russische Geschichte lassen sich wenigstens drei Momente ausmachen, welche die im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg auftretenden Phänomene verursachen oder doch mindestens entscheidend bestimmen. Das sind – in aufsteigender Bedeutungslinie – das russische Staat-Kirche-Verhältnis, der Staatsgründungsmythos Russlands sowie die Revitalisierung der Rom-Idee. Diese Liste beansprucht keine Vollständigkeit; ihre Abarbeitung kann auch nur im Sinne einer Problemanzeige geschehen; eine einlässliche Untersuchung setzte umfangreiche Studien voraus.

Staat und Kirche nach
russisch-orthodoxem Verständnis

Jedes Mitglied einer Religionsgemeinschaft, auch der christlichen, ist stets sowohl ein solches wie auch Staatsbürgerin oder Staatsbürger. Jede der beiden Institutionen hat jedoch unterschiedliche, nicht selten auch gegensätzliche Ziele. Dadurch entsteht unvermeidlich eine Spannung. Das Staat-Kirche-Verhältnis ist mithin in Debatte, wo immer die beiden aufeinander treffen, also unweigerlich je in den Mitgliedern. Im Christentum haben sich wenigstens zwei unterschiedliche Modelle herausgebildet, eines im Westen, das andere in der östlichen Orthodoxie. Das erste hat sich unter das Leitwort Jesu gestellt, wonach man dem Kaiser geben solle, was diesem zusteht, und Gott, was Gottes ist (Mt 22,21). Infolgedessen tobte ein Jahrtausend lang ein erbitterter Streit zwischen den beiden vorfindlichen obersten Gewalten Kaiser und Papst, der im Investiturstreit zugunsten einer mehr (Frankreich) oder weniger (Deutschland) strikten Trennung beider ausging. Die Folge war eine ständig wachsende Säkularisierung des öffentlichen Lebens. Es wurde immer unabhängiger von der Kirche.8

Ganz anders verlief die Entwicklung im Osten.9 Hier galt die symphonia als Ideal, das harmonische Miteinander von (in Russland) Zar und Patriarchen. Denn beide haben den göttlichen Auftrag, in Gleich- und Zusammenklang das ewige Ziel des Menschen zu befördern. Der derzeitige russische Staat fördert darum die Kirche nicht nur mit finanziellen Mitteln und sichert ihr einen privilegierten Status gegenüber den anderen Religionsgemeinschaften zu, sondern hat 2002 das für alle Kinder (auch die nicht der Kirche angehörenden) verpflichtende Schulfach „Grundlagen der orthodoxen Kultur“ eingeführt. Staatspräsident Putin legt großen Wert darauf, alljährlich an der Osterfeier des Patriarchen in der riesigen Christus-Erlöser-Kirche teilzunehmen. Weihnachten feiert er ebenfalls die Liturgie mit, aber nun in einer Dorfkirche irgendwo: Er ist dann Glaubensbruder unter Glaubensgeschwistern. Umgekehrt betont der Patriarch die Nähe zu Wladimir Putin. Sie ist schon gegeben durch seine amtliche Stellung. Der offizielle Titel Kyrillos I. lautet: „Patriarch von Moskau und der ganzen Rus“, will sagen: des vom Präsidenten reklamierten Staatsgebietes. Beide sind sich einig, dass es ihre gottgegebene Aufgabe ist, die schädlichen Einflüsse des Westens nach Kräften zurückzudrängen – als da sind kultureller Pluralismus, Meinungsdiversität, Homosexualität, Kapitalismus, Konsumismus, die moderne Kunst und manches obendrein. Die Lasterskala ist nach oben offen. Auf jeden Fall ist zu konstatieren: „Homophobie, Xenophobie und Homogenitätsvorstellungen sind essentiell für die orthodox-autokratische Weltsicht“10. Der Angriff auf die Ukraine und die Bedrohung anderer Staaten hat damit eine metaphysische Überhöhung erfahren. Nicht politische Systeme, Autonomie beanspruchende Staaten nur stehen gegeneinander, vielmehr muss das heilige Russland in Vertretung der himmlischen Mächte gegen die Hölle streiten, die im Westen ihr böses Werk exekutiert, das nun auch die Ukraine zu vernichten droht („Entnazifizierungs“-Postulat). Ihr ebenfalls religiös fundierter Status als „Brudervolk“ fällt demgegenüber nicht ins Gewicht.

Die Staatsgründungssaga

Am Beginn der Staatenbildung Russlands steht das Reich der Waräger, das um 750 seinen Anfang nahm.11 Einer ihrer Stämme waren die Rus.12 Ihr Anführer Rjurik gründete 862 einen Staat, dessen Hauptstadt erst Nowgorod, dann seit 882 Kiew war. Dieses Kiewer Rus-Land entwickelte eine erstaunliche Dynamik. Bald umfasste es das Riesengebiet zwischen Ostsee und Weißem Meer, praktisch das Lebensgebiet der Ostslawen. Belarus und die Ukraine zählten mithin ebenso dazu wie Polen oder das Baltikum. Der Name der Ethnie Rus wurde zum geografischen und bald auch zum politischen Begriff, der den Gesamtraum Russlands bezeichnete. Durch den stark auf Konstantinopel ausgerichteten Handel kam es zu Missionierungsversuchen durch die dortige Kirche, die schließlich einen großen Erfolg feiern konnte: 987 ließ sich Großfürst Wladimir I. von byzantinischen Geistlichen in Kiew taufen. Im Jahr darauf wurden alle Rus zum orthodoxen Glauben bekehrt, welcher nach eigenem Verständnis die eigentliche und wahre und damit einzige Form des Christseins ist. Seitdem sieht sich das russische Reich als legitime und unmittelbare Fortsetzung dieses christlichen Staatsgebildes. Darin ist die Aufgabe einbeschlossen, alle ostslawischen Gebiete in einem gemeinsamen Staat in der einen Kirche von Byzanz zu einen.13

1321 nimmt Patriarch Maximos seinen Sitz in Moskau, 1480 wird es zur Reichshauptstadt. Die Identität von Kirche und Staat zeigt sich im erwähnten Amtstitel „Patriarch von Moskau und der ganzen Rus“. Für Kyrill I. wie für Putin ist mithin das heutige russische Reich die Perpetuierung dieses Staates; sie selber sehen sich als dessen Wahrer und Mehrer. Darum sind sich beide einig, dass es Ziel beider Institutionen sein müsse, die Ukraine wieder mit Russland zu vereinen.14 Zu den Kriegszielen Putins gehört auch das Ende vorgeblicher Christenverfolgung durch die ukrainische Regierung. Für die Orthodoxie ist die Situation zudem seit 2019 besonders kritisch geworden.15 Damals gründete sich die „Orthodoxe Kirche der Ukraine“ (OKU) durch Abspaltung von der moskautreuen „Ukrainisch Orthodoxen Kirche“ (UOK).16 Sie unterstellte sich dem Patronat des Ökumenischen Patriarchen von Konstantinopel Bartholomaios I.. Seitdem droht die Gefahr der Spaltung. Sie wirkt sich auch auf die staatlichen Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine aus. Ein Ziel der Russen im Krieg ist somit auch die Wiederherstellung des Kirchenfriedens.17

Man kann die Lage mit der der westlichen Kirche des Mittelalters vergleichen. Die Christen betrachteten es als selbstverständlich, dass das „Heilige Land“, in dem sich die entscheidende Phase der Heilsgeschichte abgespielt hatte, unter ihrem Einfluss zu stehen habe. Also mussten die dort inzwischen heimisch gewordenen Muslime mit Macht vertrieben werden. Die tragische Folge waren die Kreuzzüge. Man wird angesichts der gegenwärtigen Konflikte lebhaft an sie erinnert. Nur ist die Lage heute gespenstisch paradox. Aufgrund der symphonia-Theorie wird die Vernichtung der mehrheitlich orthodoxen Ukraine zu einer durch das orthodoxe Staatsverständnis erforderten Aufgabe von Russenstaat und Russenkirche.

Tretij Rim

Im Russenstaat vereint sich mithin der Wahrheitsanspruch der Orthodoxie mit dem Moralitätsanspruch des „heiligen Staats“ der Rus, der im Kiewer Taufbecken seine Basis hat. Daraus ergibt sich eine universalistische Ideologie. Das Christentum ist in sich missionarisch: Die Wahrheit des Evangeliums ist für alle Völker bestimmt. Auch der Kampf des/der Guten gegen das/die Böse/n ist durch nichts begrenzt, da das Böse überall, da es „das schlechthin Andere“ gegenüber der eigenen Güte ist. Infolgedessen muss eine auf beide Pfeiler gegründete Institution den Anspruch auf die Weltherrschaft erheben. Zwar steht gegenwärtig nur ein Regionalkrieg auf ihrem Programm, doch ist er aus sich heraus nicht nur offen für weitere Herrschaftsansprüche, vielmehr sind diese nach eigenem Denken auch zu realisieren. Das ist der Grund, weshalb in der Sicht vieler Menschen ein universaler, ein dritter Weltkrieg am Horizont sichtbar wird.

Es gibt ein Narrativ, das dieses globale Programm unmittelbar aus sich entlässt. Das ist die Rom-Idee.18 Damit ist das Ensemble der Überlegungen und Konzepte gemeint, aus dem der allgemeine und unvergängliche Primat Roms resultiert. Dieses Ensemble ist ursprünglich nicht christlich: Erstmals schreibt Polybios († um 120 v. Chr.) der latinischen Stadt eine weltgeschichtliche Mission zu, die im Willen der Götter gründet. Christlich fassbar wird der Gedanke beim Dichter Prudentius († nach 405). Rom wird zum Inbegriff des Universalreichs und der Universalreligion und damit zur Vollstreckerin des göttlichen Heilsplanes, der damit seinen Gipfel und zugleich seine Vollendung erreicht. Der Romgedanke besitzt somit eine teleologische wie eine eschatologische Komponente. Er ist damit jedoch nicht mehr unbedingt an die Metropole am Tiber gebunden.

Als Kaiser Konstantin 324 die Hauptstadt des Imperium Romanum an den Bosporus verlegt, beansprucht das neue Zentrum, das „zweite Rom“ (deutéra Rome) und damit Erbe des universalen Herrschaftsanspruchs zu sein.19 1453 wird Byzanz von den Osmanen erobert. Seitdem beansprucht Moskau, Erbin und Exekutorin des Rom-Anspruchs zu sein als „drittes Rom“ (tretij Rim). Zum wesentlichen Moment der Translation wird die 1472 geschlossene Ehe des Großfürsten Iwan III. mit Sophia Palaiologa, der Nichte des letzten byzantinischen Kaisers, anlässlich derer das byzantinische Hofzeremoniell sowie der Doppeladler des bisherigen Reiches als Wappen Russlands übernommen wurde. Die ideologische Untermauerung übernahm um 1510 herum der Mönch Filofej von Psok in einer Schrift an Großfürst Wassili III.: Zwei „Rome“ seien gefallen, nun steht das dritte; „und ein viertes wird es nicht geben“. Er meint das nicht triumphalistisch, sondern apokalyptisch. Die beiden Vorgänger sind untergegangen, weil sie vom wahren Glauben abgefallen waren und daher von Gott gestraft werden mussten. Das moskowitische Reich ist die letzte Chance, die er der Welt einräumt. Verfällt auch Moskau dem Unglauben, hat das katastrophale Folgen, denn nach verbreiteter Ansicht ist „Rom“ das vierte und damit endgültig letzte Reich im Traum des Nebukadnezar (Dan 2). Dann kommt unaufhaltsam das Ende. Moskau hat damit eine schrecklich lastende Verantwortung für den Fortbestand unserer Erde übernommen.

Doch diese düsteren Bestandteile der Lehre Filofeis werden kaum geschichtlich wirksam, die Rom-Idee als solche aber sehr wohl: Filofeis These wird Grundlage des russischen Imperialismus und Messianismus, der damit letzten Endes in Gott und seiner Weisung selber gründet. In dieser Form übernehmen sie die Panslawisten des 19. Jahrhunderts, Denker wie Wladimir S. Solowjow, Nikolai A. Berdjajev, Pjotr I. Tschaikowski oder Iwan Kirillov. Die kritische Forschung hinterfragt zwar beinahe alle Komponenten dieses Narrativs,20 kann den globalen religös-ethisch-politischen Gehalt jedoch nicht erschüttern. Das Narrativ untermauert nach wie vor in einflussreichen Zirkeln den Weltherrschaftsanspruch Russlands.21 Jedenfalls kann die Rom-Idee alle Aggressionen der Führung decken. Da mit dem Zusammenbruch des Zarenreichs und der Sowjetunion die Grundlage des Rom-Anspruchs unterzugehen droht, muss es ihr dringendes Bestreben sein, sie wiederherzustellen. Die Ukraine ist der Anfang.

Das Unwesen der Religion

Eigentlich ist es überraschend, dass die religiösen Komponenten eine solche Rolle in der Staatsideologie spielen. Der Stalinismus liegt noch nicht so weit zurück, während dem die Kirche blutig verfolgt worden ist. Allerdings legte die Not des „Großen Vaterländischen Krieges“ schon in dessen Spätphase das Notwende-Potential der Religion wieder frei. Seitdem jedenfalls gehört die Orthodoxie zur Staatsräson.22 Wie aber kommt es dann zu der hemmungslosen Grausamkeit des Putinschen Imperialismus, die sich schon in Syrien oder Tschetschenien gezeigt hatte? Die christliche Religion verkündet den umfassenden Frieden in der Welt. Man kann keine einzige Belegstelle für Gewalt und Zwang gegen irgendwelche „andere“ im Neuen Testament anführen. Jesus Christus erscheint als der Friedensfürst des Jesaja (Jes 9,5). Gewalt durch Christen ist des Christentums Perversion23 durch dessen Instrumentalisierung:

1. An die Stelle der Macht der Religion tritt eine Religion der Macht. Religion, per definitionem Kanon und Norm ethischen Handelns, wird Mittel zur Durchsetzung egoistischer Interessen, die, mythisch verhüllt, brutal ins Werk gesetzt werden. Es geht nicht um Gott, es geht um den Herrscher. Er divinisiert sich selber. Er gebärdet sich wie Gott.

2. Im religiösen Begründungsverfahren werden Ursprung und Alter verwechselt. Nach christlicher Lehre hat der absolut souveräne Gott aus Liebe Nichtgöttliches zu kontingenter Freiheit ermächtigt. Diese Gabe des Ursprungs ist zeittranszendent. Sie kommt je und je in der Zeit bei den Menschen dieser Zeit zum Austrag: Freiheit kann nur hier und heute verwirklicht sein. Das nur Alte, der Gründungsmythos, die philosophischen Grundlegungen jedoch sind Frucht der Zeit und haben immer nur zeitliche, also begrenzte Wirkungen. Wirkliche Prioritäten sind nicht gegeben. Ihre Setzung – mit dem Römerreich, dem Reich der Rus – ist ein Willkürakt. Die Kategorie der Geschichtlichkeit wird unterschlagen. Neues kann es nicht geben; Veränderungen sind immer nur regressiv, konservativ – und aggressiv. Geschichte ist Geschichte des Gewesen-Verwesenden. Zugrunde liegt ein gedanken- und bedenkenloser Fundamentalismus.

3. Daraus ergibt sich eine weitere Verwechslung: Aus Verkündigung wird Fanatismus. Nach christlichem Verständnis basiert der echte Glaube auf wahrer Freiheit. Man kann sich für ihn entscheiden oder nicht. Der Fundamentalismus aber postuliert um der von ihm beanspruchten absoluten Wahrheit willen Zwang und Gewalt als rechtmäßige Mittel der Propaganda. Seine Propagatoren sehen sich als Repräsentanten des Gottes, der das Böse radikal vernichtet. Sie helfen dem nur etwas nach. Damit freilich versinken sie in der Urversuchung, selber zu sein wie Gott (vgl. Gen 3,5). Sie trauen ihm nicht zu, er werde seinen Willen auf seine Weise und zu seiner Zeit vollstrecken.

Mit einem Wort: Wer Christ zu sein behauptet, akzeptiert die Gültigkeit der Botschaft der Engel an die Hirten von Bethlehem, die kleinsten unter den kleinen Leuten, das Volk in Reinkultur. Dann aber kann man sagen: Wer den Frieden zerstört, kann nicht auf Gottes Wohlgefallen rechnen. Sein Gloria, mit wem immer er es singt, ist kakophonia.

Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

Stimmen der Zeit-Newsletter

Ja, ich möchte den kostenlosen Stimmen der Zeit-Newsletter abonnieren und willige in die Verwendung meiner Kontaktdaten zum Zweck des E-Mail-Marketings durch den Verlag Herder ein. Den Newsletter oder die E-Mail-Werbung kann ich jederzeit abbestellen.
Ich bin einverstanden, dass mein personenbezogenes Nutzungsverhalten in Newsletter und E-Mail-Werbung erfasst und ausgewertet wird, um die Inhalte besser auf meine Interessen auszurichten. Über einen Link in Newsletter oder E-Mail kann ich diese Funktion jederzeit ausschalten.
Weiterführende Informationen finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen.