Religionsfreiheit ist MenschenrechtKontroversen um ein grundlegendes Freiheitsrecht

Wenn die Religionsfreiheit vereinnahmt, umgedeutet und für ideologische Zwecke missbraucht wird, besteht die Gefahr, dass sie als demokratiegefährdend, okkupiert durch Konservative und Rechte, und in der Folge in Konkurrenz zu anderen Menschenrechten gesehen wird. Katja Voges entwickelt Strategien, wie Christinnen und Christen für eine menschenrechtlich geprägte Auffassung von Religionsfreiheit einstehen können. Die Autorin ist Referentin für Menschenrechte und Religionsfreiheit beim Internationalen Katholischen Missionswerk missio in Aachen.

Verletzungen der Religionsfreiheit nehmen weltweit zu. Und auch die Aufmerksamkeit für dieses Menschenrecht wächst. Das zeigt sich nicht nur in der Medienberichterstattung, sondern auch in der deutschen und internationalen Politik: Im April 2018 wurde der CDU-Abgeordnete Markus Grübel der erste Bundesbeauftragte für die weltweite Religionsfreiheit. Und nach den Wahlen im Herbst 2021 ist entschieden: Das Amt wird weitergeführt und der SPD-Abgeordnete Frank Schwabe tritt die Nachfolge von Grübel an. Auch auf europäischer und internationaler Ebene gibt es Sonderbeauftragte und -berichterstatterinnen sowie diverse interfraktionelle Arbeitsgruppen, die sich dem Thema Religions- und Weltanschauungsfreiheit widmen.

Zivilgesellschaftliche Akteure und Religionsgemeinschaften in Deutschland und weltweit setzen sich ebenfalls für das Menschenrecht auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit ein. Selbst wenn diese Akteure in ihrem Einsatz manchmal eine bestimmte Glaubensgemeinschaft in den Vordergrund stellen, so sollte immer die Grundüberzeugung deutlich werden, dass Religionsfreiheit ein universales Freiheitsrecht ist, das für alle Menschen gleichermaßen gilt, für Angehörige aller Religionsgemeinschaften und auch für Religionslose. Genau dieses Verständnis der Religionsfreiheit ist jedoch in Gefahr. In Deutschland und international gibt es im politisch-religiösen Raum zahlreiche Versuche, das Thema Religionsfreiheit zu vereinnahmen und umzudeuten.

Als völkerrechtlich verbindliche Norm für das Menschenrecht auf Religionsfreiheit gilt Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte (IPbpR) von 1976. Wenn dort vom Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit die Rede ist, bedeutet dies, dass jeder Mensch frei ist, seine religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen zu bilden, zu bekennen, zu wechseln und ihnen in Gemeinschaft oder allein, privat oder öffentlich Ausdruck zu verleihen. Die sogenannte Allgemeine Bemerkung Nr. 22 trägt zur Auslegung des Artikels bei und weist auf ein breites Verständnis der Überzeugungen hin, die das Recht auf Religionsfreiheit umfasst: „Artikel 18 schützt die theistischen, nicht theistischen und atheistischen Anschauungen sowie das Recht, sich zu keiner Religion oder Weltanschauung zu bekennen. Die Ausdrücke ‚Weltanschauung‘ und ‚Religion‘ müssen im weiten Sinn ausgelegt werden.“1 Staatliche Einschränkungen der Religionsfreiheit sind dabei strengen Kriterien unterworfen.2 Der innere personale Schutzbereich des Menschen als der Ort, an dem Überzeugungen gebildet werden, wird im Grundrechtsdiskurs als forum internum bezeichnet und gilt als absolut geschützt.

Die Religionsfreiheit ist fest im Kanon der Menschenrechte verankert, denen die drei Grundsätze der Unveräußerlichkeit, Universalität und Unteilbarkeit zugrunde liegen. Menschenrechte sind unveräußerlich, das heißt sie kommen jedem Menschen ohne Vorbedingung von Geburt an zu und können nicht aufgehoben werden. Sie gelten universell, das heißt überall und für alle Menschen, ohne Unterschiede aufgrund von Geschlecht, Religion, Herkunft, politischer oder sonstiger Orientierung sowie anderer Merkmale. Menschenrechte sind unteilbar, das heißt, sie bilden einen Sinnzusammenhang und können nur in ihrer Gesamtheit verwirklicht werden.

Ideologische Vereinnahmungen
und Entliberalisierungen

Die Religionsfreiheit ist verschiedenen Missverständnissen, Fehlinterpretationen und Instrumentalisierungen ausgesetzt, die ihren menschenrechtlichen Charakter infrage stellen oder gar aushebeln. Dazu gehören Vereinnahmungsversuche durch rechtspopulistische Bewegungen, die das Thema Religionsfreiheit ideologisch nutzen und dabei gezielt für ihre politische Agenda umdeuten. Die AfD-Fraktion hat in zahlreichen Bundestagsdebatten zum Thema Religionsfreiheit gezeigt, dass sie diese Strategie verfolgt. Sie legt das Recht auf Religionsfreiheit selektiv aus und nimmt ausschließlich die Situation von Christinnen und Christen in den Blick. Oft wird die Religionsfreiheit dabei auf den Begriff „Christenverfolgung“ verengt. Hinzu kommt, dass rechtspopulistische Akteure wie die AfD legitime Kritikpunkte mit Narrativen und Ressentiments aus dem Spektrum rechter Ideologien vermengen. So vermischen sie beispielsweise die Forderung nach einem stärkeren Einsatz gegen Gewalt, die sich in bestimmten Regionen explizit gegen Christinnen und Christen richtet, immer wieder mit Thesen zu einer angeblichen „Umvolkung“ oder „Islamisierung Europas“ oder zu einer „Bedrohung des jüdisch-christlichen Abendlandes“ und seiner Werte. Anderen Parteien wird zugleich vorgeworfen, aus Gründen einer vermeintlich übertriebenen „Political Correctness“ bestehende Probleme nicht deutlich genug zu benennen.3

Im internationalen Kontext sind ähnliche Beispiele zu finden. So gab die ungarische Regierung 2021 im vierten Jahr in Folge den Budapest Report on Christian Persecution heraus. Schon im Vorwort verknüpft Premierminister Viktor Orbán den legitimen Aufruf zum Einsatz für verfolgte Christinnen und Christen weltweit mit typisch populistischen Motiven und malt ein Bedrohungsszenario von eineinhalb Milliarden Flüchtlingen in Europa. Der westlichen Welt wirft Orbán Untätigkeit und eine Mitschuld am Schicksal verfolgter Christinnen und Christen vor. Über Gewalt gegen Christinnen und Christen zu sprechen sei ein „Tabu“4 geworden. Zugleich würden Politiker und Kirchenleute, die sich nicht vor der von liberalen Kräften propagierten „Regenbogen-Ideologie verneigen“, Opfer politischer Attacken. Ungarn hingegen wird zum „Schild der Christenheit“ stilisiert.

Auch der russische Präsident Wladimir Putin inszeniert sich als Verteidiger christlicher Werte und beruft sich dabei auf ein eigenes Verständnis von Religionsfreiheit. Er sieht es als seine Aufgabe an, die religiösen Gefühle der Gläubigen zu schützen – sei es gegen Religionskritik oder gegen Entwicklungen, die seiner homophoben Agenda widersprechen. Um das Menschenrecht auf Religionsfreiheit ist es in Russland indes nicht gut bestellt, wie nicht zuletzt die massive Unterdrückung der Zeugen Jehovas im Land zeigt.5

Vorstöße, die den freiheitlichen Kern der Religionsfreiheit verkennen, gab und gibt es immer wieder. Aus menschenrechtlicher Perspektive sind diese entschieden zurückzuweisen. Die Religionsfreiheit verteidigt nicht bestimmte Religionsgemeinschaften, Institutionen, Praktiken oder eine vorgeschriebene Moral, sondern kommt dem Menschen als Subjekt zu, dessen Würde unter Schutz steht.

Gegen die Wahrnehmung als Sonderrecht

Positionen, die den freiheitlichen Charakter der Religionsfreiheit verkennen, sind auch deswegen gefährlich, weil sie die Wahrnehmung der religiösen Freiheit als eine Art Sonderrecht befördern: „Paradoxerweise findet die Instrumentalisierung einer ideologisch verdrehten ,Religionsfreiheit‘ […] manche Resonanz in religionskritischen Milieus, wo man schon lange den Verdacht hegte, die Religionsfreiheit sei eine Art Hintertür, durch die die ,klerikale Restauration‘ wieder in die politische Öffentlichkeit dränge. Auch in Kreisen menschenrechtlich Engagierter erlebt man gelegentlich eine gewisse Unsicherheit, was es mit der Religionsfreiheit denn eigentlich auf sich habe.“6 Dabei wird verkannt, dass die Religions- und Weltanschauungsfreiheit für alle relevant ist; sie ist grundlegend dafür, dass Menschen ihre Überzeugungen frei ausbilden und vertreten, dass sie frei von äußerem Zwang Entscheidungen treffen und entsprechend handeln können. Nicht umsonst ist die Gewissensfreiheit explizit Teil dieses Menschenrechts.

Dabei ist die Religionsfreiheit nicht mit einer Freiheit von Religion zu verwechseln, also etwa mit dem Recht darauf, von der Konfrontation mit Religionen oder Weltanschauungen ausgenommen zu sein. In einer freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft ermöglicht die Religionsfreiheit vielmehr das religiöse Leben. Zugleich gehört zu dieser sogenannten positiven Religionsfreiheit auch ihr negatives Gegenstück: Niemand darf zu einem bestimmten religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis oder zu entsprechenden Praktiken gezwungen werden.

Wenn die Religionsfreiheit vereinnahmt, umgedeutet und für ideologische Zwecke missbraucht wird, dann besteht die Gefahr, dass sie auch in der Wahrnehmung der Menschen als demokratiegefährdend, okkupiert durch Konservative und Rechte und in der Folge in Konkurrenz zu anderen Menschenrechten gesehen wird. Dabei steht die Religionsfreiheit im Sinne der Unteilbarkeit in einem inneren Zusammenhang zu den anderen Freiheitsrechten. Wenn es zu Konflikten zwischen unterschiedlichen menschenrechtlichen Ansprüchen kommt, gilt es, die Substanz aller Rechte zu wahren.

Christliche Anerkennung als Menschenrecht

Wenn Religionsgemeinschaften die Religionsfreiheit als Menschenrecht anerkennen, treffen sie damit nicht zwangsläufig eine dogmatische Aussage. Das Menschenrecht auf Religionsfreiheit ist mit religiösen Wahrheitsansprüchen kompatibel, weil es keine Aussage über die Wahrheit, sondern über das Recht der Person im Staat trifft. So erkennt die katholische Kirche seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) die Religionsfreiheit in ihrem menschenrechtlichen Verständnis an. Die Konzilserklärung Dignitatis humanae von 1965 beschreibt die Religionsfreiheit als bürgerliches Freiheitsrecht im Staat, das auf der Würde jedes Menschen basiert. Zugleich stellt die Erklärung fest, dass der Mensch nicht aus seiner Pflicht zur Wahrheitssuche entlassen wird (DH 1-3); die von der Kirche erkannte Wahrheit weicht nicht einem Indifferentismus oder Relativismus.7 Das Menschenrecht auf Religionsfreiheit ist in diesem Sinne mit religiösen Wahrheitsansprüchen kompatibel.

So werden im ersten Teil der Erklärung die sozialen und politischen Bedingungen aufgeführt, die dem Evangelium entsprechen müssen, damit der Mensch seinem Gewissen folgen und die Wahrheit suchen kann. Der darauffolgende offenbarungstheologische Teil zeigt die Freiheit als Konsequenz des Glaubens, des Handelns Jesu und seiner Jünger auf. Der Horizont der Offenbarungstheologie zeigt, dass die christliche Wahrheit immer die Freiheit des Anderen einschließt und dass Offenbarung sich als Dialog zwischen Gott und dem Menschen ereignet. Insbesondere vor dem Hintergrund der Erklärung Nostra aetate über die Haltung der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen von 1965, die Wahres und Heiliges auch in anderen religiösen Traditionen anerkennt (NA 2), weist Dignitatis humanae darauf hin, dass der Mensch als Suchender – unabhängig davon, welcher Religion oder Weltanschauung er angehört – ernst genommen wird und dass die Suche nach der Wahrheit notwendigerweise im Dialog stattfindet (DH 3). In der Begegnung mit Angehörigen nichtchristlicher Traditionen können Christinnen und Christen Gottes Gegenwart erleben und den eigenen Glauben stärken.

Christliche Verantwortung

Aus der theologischen Begründung der Religionsfreiheit lässt sich die Verantwortung von Christinnen und Christen ableiten, einen dezidiert menschenrechtlichen Ansatz zu vertreten und Missverständnissen und Fehlinterpretationen entschieden entgegenzuwirken. Was kann dies in der Praxis bedeuten?

Öffentlich für einen menschenrechtlichen Ansatz einstehen: Christinnen und Christen sind dazu aufgerufen, in ihrem Einsatz für Religionsfreiheit unmissverständlich deutlich zu machen, dass sie ein individuelles Freiheitsrecht verteidigen und die Grundsätze der Universalität, Unteilbarkeit und Unveräußerlichkeit vertreten. Bei der Vorstellung des „Ökumenischen Berichts zur Religionsfreiheit von Christen weltweit“ im Jahr 2017 betonte Erzbischof Ludwig Schick: „Unser Einsatz für die Christen ist exemplarisch, aber nicht exklusiv.“ In diesem Sinne gilt auch beim Internationalen Katholischen Missionswerk missio die besondere Sorge den bedrängten und verfolgten Christinnen und Christen weltweit. Diese Sorge steht dabei nicht im Gegensatz zu einem umfassenden menschenrechtlichen Verständnis. Denn im Rahmen des Engagements für bedrängte und verfolgte Christinnen und Christen weltweit wird immer zugleich die Situation von Angehörigen anderer Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften in den Blick genommen. Ein solches Engagement nutzt und stärkt Dialogmöglichkeiten, um letztlich die Würde aller Menschen bestmöglich zu schützen. Diese Position gilt es, in der Öffentlichkeit stark zu machen. Christinnen und Christen sind dazu aufgerufen, ihre Stimme zu erheben, wenn ein Gegeneinander von Religionen forciert, Feindbilder geschürt und die Religionsfreiheit zu einer Art Sonderrecht umgedeutet wird. Auch in der internationalen Zusammenarbeit und in politischen Kreisen können christliche Akteure so ihren Ruf als verlässliche und glaubwürdige Partner ausbauen und letztlich positiv auf politische Entscheidungsträger einwirken.

Die Lage der Religionsfreiheit differenziert darstellen: Zum menschenrechtlichen Ansatz bei der Verteidigung der Religionsfreiheit weltweit gehört es, Situationen differenziert wahrzunehmen und diese Wahrnehmung unverkürzt zu kommunizieren. Gerade um der Gefahr zu entgehen, verschiedene Religionsgemeinschaften gegeneinander auszuspielen, bestimmte Verfolgungssituationen zu verallgemeinern oder gar davon zu sprechen, dass einzelne Religionen einer Gewährung von Religionsfreiheit prinzipiell entgegenstehen, ist es wichtig, zu durchschauen und darzustellen, dass es sich oft um ein komplexes Zusammenspiel religiöser, politischer, ökonomischer und ethnischer Zusammenhänge und Problemlagen handelt. Nichtreligiöse Ursachen von Verfolgung, Bedrängnis und Diskriminierung müssen erkannt und benannt werden.

Dazu gehört auch eine differenzierte Sprachwahl bei der Benennung von Verletzungen der Religionsfreiheit. Zwar ist niemandem abzusprechen, seine Situation subjektiv als Verfolgung wahrzunehmen; was der Begriff Verfolgung objektiv meint, ist völkerrechtlich jedoch nicht eindeutig festgelegt. Es lassen sich lediglich Aussagen finden, aus denen hervorgeht, dass der Begriff Verfolgung eine besondere Schwere der Menschenrechtsverletzung beschreibt. Christinnen und Christen stehen in der Verantwortung, einerseits Verletzungen der Religionsfreiheit in ihrer ganzen Härte zu benennen und andererseits differenziert zu berichten. Dabei sind in besonderer Weise die Stimmen der Betroffenen zu hören, die fordern, dass Situationen der Bedrängnis und Verfolgung möglichst umsichtig kommuniziert werden. Einerseits sollte deutlich benannt werden, wo Situationen nicht zu tolerieren sind. Andererseits können weniger existenzielle Probleme besser religionsübergreifend erörtert und verbessert werden, wenn das Gegenüber nicht durch eine undifferenzierte Sprachwahl verprellt wird.8 Ausschließlich den Begriff Verfolgung zu verwenden und dabei möglicherweise auf eine theologische Begründung zurückzugreifen, ist im öffentlichen Diskurs unter Umständen verwirrend und wenig zielführend.

Interreligiöse und -konfessionelle Allianzen bilden: Der Einsatz für Religionsfreiheit ist besonders glaubwürdig und nachhaltig, wenn Angehörige unterschiedlicher Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften sich gemeinsam engagieren. Dabei kann sich die interreligiöse Zusammenarbeit als besonders herausfordernd erweisen, wenn nicht alle Gesprächspartnerinnen und -partner gleichermaßen eine Theologie zugrundelegen, die den Einsatz für die Religionsfreiheit als Menschenrecht umfassend begründet. So vertreten beispielsweise viele Angehörige islamischer Traditionen pragmatische Lösungen auf dem Weg zur Religionsfreiheit und würden einem menschenrechtlichen Verständnis, das auch die Möglichkeit des Religionswechsels einbezieht, nur bedingt zustimmen. Doch auch ein interreligiöser Menschenrechtsdiskurs, der nicht auf einen vollen Konsens aufbaut, kann zu wichtigen Erkenntnissen führen und Entwicklungen in religiösen Traditionen anregen.9

Ein innerchristlicher Dialog zu Fragen der Religionsfreiheit ist ebenfalls an spezifische Herausforderungen gebunden – man denke etwa an voneinander abweichende Verständnisse von Mission und Dialog.10 In muslimisch geprägten Ländern wie Marokko steht die katholische Kirche nicht selten mit evangelikalen Bewegungen in Konflikt, wenn diese offensiv missionieren. Die katholische Kirche sieht dadurch zum einen ihre pastoralen Handlungsspielräume in Gefahr. Zum anderen sind viele katholische Gläubige der Meinung, dass Nichtchristen innerhalb ihrer eigenen religiösen Tradition und im interreligiösen Dialog einen wertvolleren Beitrag zum Reich Gottes leisten können als Konvertiten, die oftmals aus der Gesellschaft verstoßen werden.11 Ungleich komplexer ist der interkonfessionelle Dialog mit Blick auf evangelikale Gemeinschaften in Syrien und Irak, wo die christlichen Kirchen unter erheblichem Druck und teilweise in großer Konkurrenz zueinander stehen.12

Auch mit Blick auf das menschenrechtliche Engagement christlicher Organisationen in Deutschland und weltweit bestehen interkonfessionelle Differenzen und Herausforderungen. Hier ist es immer wieder nötig, Räume des Dialogs zu öffnen, islamfeindlicher Stimmungsmache und rechtspopulistischen Argumentationen entschieden aus einer christlichen Grundhaltung heraus entgegenzutreten und den menschenrechtlichen Rahmen zur gemeinsamen Gesprächsgrundlage zu machen.

Freiheitsfeindliche religiöse Positionierungen enttarnen: Christinnen und Christen sollten keinen Zweifel daran lassen, dass sich ihr Einsatz für die Religionsfreiheit an der unantastbaren Würde jedes einzelnen Menschen orientiert. Dabei gilt es, freiheitsfeindliche religiöse Positionierungen – auch innerhalb der eigenen Religionsgemeinschaft – zu erkennen und deutlich als solche zu benennen.

Die russische orthodoxe Kirche formuliert etwa in verschiedenen Dokumenten – so in den Grundlagen der Lehre der Russischen Orthodoxen Kirche über die Würde, die Freiheit und die Menschenrechte aus dem Jahr 200813 – ihr spezifisches Konzept der Menschenrechte und bindet darin die menschliche Würde an eine sittliche Lebensweise. Menschenrechte dürfen in diesem Verständnis nicht mit der von der Kirche definierten Moral in Konflikt treten. Diese Position widerspricht dem Verständnis der Menschenwürde als unverlierbares Naturrecht und hat zudem erheblichen Einfluss auf das Konzept der religiösen Freiheit. Auf diesen Widerspruch reagierte die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa (GEKE) mit einem Positionspapier und suchte den Dialog. Auch eine Reaktion vonseiten der katholischen Kirche wäre wünschenswert gewesen.14

Dass Christinnen und Christen sich öffentlich gegen eine Vereinnahmung und Instrumentalisierungen der Religionsfreiheit aussprechen sollten, gewinnt besondere Relevanz mit Blick auf politisch-religiöse Allianzen. Rechtspopulistische Bewegungen sind in vielen Ländern mit mehr oder weniger radikalen christlichen Strömungen verwoben. So können beispielsweise sowohl der ehemalige US-Präsident Donald Trump als auch der brasilianische Präsident Jair Messias Bolsonaro auf die Unterstützung durch fundamentalistische christliche Gruppierungen zählen.

Es bleibt zu hoffen, dass Menschen unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Orientierung in Deutschland und international auch in Zukunft die grundlegende Bedeutung der Religionsfreiheit erkennen und sich für ihren Schutz einsetzen. Christinnen und Christen tragen ihren Teil dazu bei, dass das Menschenrecht in der Mitte der Gesellschaft verankert bleibt.

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