VerschwörungsdenkenDer säkularisierte Satan

Finstere Mächte, die eine diktatorische Weltregierung errichten wollen oder Pharmakonzerne, die Pandemien bloß als Gerüchte streuen, um gute Geschäfte zu machen: Verschwörungsmythen liefern Erklärungen für alles Mögliche. Michael Mertes grenzt den Begriff der Verschwörungstheorie ein und untersucht, weshalb das „totale Misstrauen“ auf dem Vormarsch ist. Mertes ist Jurist, Autor und Übersetzer.

Seit einigen Jahren hat das Wort „Verschwörungstheorie“ Hochkonjunktur. Neuerdings hört man immer häufiger auch von „Verschwörungsmythen“. Diese Bezeichnung trifft die Sache, um die es geht, sehr viel genauer, denn Verschwörungs-„Theorien“ sind in aller Regel keine wissenschaftlichen Hypothesen, sondern große Erzählungen vom Kampf geheimer Mächte gegen das Wohl ganzer Gruppen, ganzer Völker, ja des größten Teils der Menschheit.

Am genauesten wäre es, von „Verschwörungsdenken“ zu sprechen. Es geht den Verfechtern solcher Theorien oder Mythen ja nicht um punktuelle Erklärungen für punktuelle Ereignisse, vielmehr treibt eine bestimmte Grundeinstellung sie an. Wer davon überzeugt ist, dass die bemannte Mondlandung von Apollo 11 am 20. Juli 1969 gar nicht stattgefunden hat, wird auch eher bereit sein zu glauben, dass hinter den Terroranschlägen vom 11. September 2001 der Mossad steckt. Wer sicher ist, dass die US-Bundesregierung in der Sperrzone „Area 51“ Geheimgespräche mit Außerirdischen führt, wird auch eher bereit sein zu glauben, dass „Reptiloiden“, menschenähnliche intelligente Wesen, die Erde unterwandert haben.

In allen Fällen lautet die Grundannahme, das Volk werde von den herrschenden Eliten, vor allem von den Regierungen, ständig belogen und betrogen, überwacht und manipuliert. Wer so denkt, empfindet ein tiefes Misstrauen gegenüber gängigen Erklärungen des Weltgeschehens. Aus diesem Grundmisstrauen folgt eine totale Skepsis, die paradoxerweise mit einem unerschütterlichen Vertrauen in wilde Gerüchte und „alternative Fakten“ einhergeht. Totale Skepsis räumt gewissermaßen das Terrain frei, auf dem totale Leichtgläubigkeit ungehindert wuchern kann.

Es wäre eine eigene Untersuchung wert, wann der inflationäre Gebrauch der Vokabel „Verschwörungstheorie“ anfing. Das Wort ist ja keineswegs neu; der Gedanke, dass geheime Mächte im Hintergrund die Fäden ziehen und damit unser aller Leben zu manipulieren versuchen, ist sogar uralt. Hier kommt es jedoch weniger auf die Genese des Begriffs an als auf seine Klärung – nicht zuletzt deshalb, weil das Wort „Verschwörungstheorie“ inzwischen eine scharfe rhetorische Waffe im Meinungskampf geworden ist. „Jeder nennt jetzt jeden Andersdenkenden Verschwörungstheoretiker“, beklagte sich Kurienkardinal Gerhard Müller im Mai 2020.1 Der Kardinal hat nicht ganz Unrecht – allerdings war der gegen ihn gerichtete Vorwurf, Verschwörungsdenken Vorschub geleistet zu haben, angesichts der abenteuerlichen Spekulationen in dem von ihm mitunterzeichneten Aufruf „Veritas liberabit vos“ vom 7. Mai 2020 sachlich zutreffend.2

Verschwörungsdenken kann sowohl auf der rechten wie auf der linken Seite des politischen Spektrums vorkommen. Im Wettlauf der Extreme haben zurzeit rechtsradikale und radikalislamische Verschwörungstheoretiker die Nase vorn. Bei der radikalen Linken äußert sich das Verschwörungsdenken ohnehin eher in Theorien über „strukturelle Gewalt“. Sie gehören zu einem Weltbild, in dem die geheimen Mächte hinter den Kulissen keine Menschen aus Fleisch und Blut sind, sondern systemische Dynamiken, die es aufzudecken und zu zerschlagen gilt. Das gesichtslose System versteckt sich, um mit Karl Marx zu sprechen, hinter „Charaktermasken“ – und seine Gegner tun es ihm heute nach, indem sie sich mit Guy-Fawkes-Masken vermummen. Aber auch auf der rechten Seite des politischen Spektrums betrachten viele „das System“ selbst als den Feind: Die parlamentarische Demokratie, so ihre Überzeugung, stehe dem wahren Willen des Volkes entgegen und müsse daher durch eine neue Ordnung ersetzt werden. Gefährlich ist das Verschwörungsdenken – gleich welcher Couleur –, weil es der Legitimation von Gewalt dienen kann. Aus seiner Sicht ist Gewalt gegen die Mächte der Finsternis in Wahrheit defensiver Natur. Sie ist Gegengewalt, Widerstand, Notwehr – und daher rechtens.

Die Bezeichnung „Verschwörungstheorie“ ist, wie gesagt, nicht neu. Eine prominente Rolle spielt das Wort beim Philosophen Karl Popper, und zwar in seinem Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ von 1945.3 Popper interpretiert den Begriff nicht nur sozial- oder politikwissenschaftlich, sondern auch erkenntnistheoretisch, nämlich als Kehrseite der Überzeugung, die Wahrheit sei manifest. Wenn die Wahrheit auf der Hand liegt, dann gibt es für Irrtum und Unwissenheit in der Tat nur zwei Erklärungen: Der Irrende verschließt vorsätzlich die Augen vor dem Offensichtlichen – oder er ist Opfer von Kräften, die den Blick auf das Offensichtliche verstellen. Als Beispiel für eine Verschwörungstheorie nennt Popper deshalb die marxistische Auffassung, die kapitalistische Presse verdrehe und unterdrücke die manifeste Wahrheit, um den Arbeitern ein falsches Bewusstsein einzuflößen.4 Es ist geradezu ein Kennzeichen des Verschwörungsdenkens, dass es unterscheidet zwischen den Durchblickern, die sich aus der Fängen der Lüge befreit haben, und denen, die – ohne es zu wissen – im Lügenkerker finsterer Mächte festsitzen. Veritas liberabit vos!

Beispiel Inflation und Pandemien

Die Attraktivität von Verschwörungstheorien hat sicher auch mit der menschlichen Neigung zu tun, bestimmte Ereignisse und Entwicklungen auf intentionales Tun zurückzuführen, statt sie als ungeplante Folgen menschlichen Handels zu interpretieren. Zwei Beispiele mögen zur Illustration genügen: Inflation und Pandemien. Volkswirtschaftler können uns die Gesetzmäßigkeiten erklären, die zu Geldentwertung und Teuerung führen – aber es ist wesentlich einfacher, sie als Machenschaft ebenso kleiner wie mächtiger Interessenkartelle darzustellen, die sich an der Verarmung breiter Bevölkerungskreise bereichern möchten. Virologen und Epidemiologen können uns erklären, weshalb ein Virus sich mit rasender Geschwindigkeit ausbreitet – aber es ist wesentlich einfacher, die Pandemie als Großversuch bestimmter Staaten mit neuen biologischen Waffen zu deuten oder als zynisches Nachfrageerzeugungsprogramm von Pharmaunternehmen, die mit neuen Impfstoffen viel Geld verdienen möchten. Im Mittelalter war die Vorstellung verbreitet, der Schwarze Tod gehe auf Giftmischerei und Brunnenvergiftung durch die Juden zurück.

In der Art und Weise, wie das Wort „Verschwörungstheorie“ in den öffentlichen Debatten verwendet wird, schwingt die Feststellung mit, dass es sich um etwas Unvernünftiges, ja Pathologisches handelt. Aber weshalb sollte das unter allen Umständen so sein? Auch Phobien sind ja nicht immer und überall irrational. Angst vor Spinnen ist (jedenfalls in unseren Breiten) unsinnig – Angst vor Tigern dagegen kann Leben retten. Man sollte sich also davor hüten, jeden Verschwörungsverdacht sofort als pathologisch zu denunzieren. Zwischen sinnvoller Vermutung, harmloser Spinnerei und krankhaftem Wahn gibt es ein breites Spektrum mit fließenden Übergängen. Und manchmal erweisen sich gerade die unwahrscheinlichsten Szenarien als Realität.

Verschwörungen – neutraler formuliert: geheime Verabredungen zur Verwirklichung eines gemeinschaftlichen Zwecks – kommen in der Wirklichkeit sehr oft vor. Lassen wir einmal die weniger problematischen Formen außen vor, zum Beispiel Klüngel, Seilschaften oder „Old Boys“-Netzwerke. Rechtswidrig wird es, wenn konkurrierende Unternehmen in Hinterzimmern Preisabsprachen zu Lasten der Verbraucher treffen; wenn Vorstände von Finanzdienstleistern ein globales Betrugskomplott ins Werk setzen; wenn Mafiosi einen großen Rauschgiftschmuggel organisieren; wenn Räuber einen Banküberfall verabreden; wenn Terroristen ein Massaker planen. Mit Worten wie „Hybridkrieg“, „Grey Zone Warfare“ oder „Sharp Power“ werden neuartige Formen zwischenstaatlicher Aggression mit informations- und kommunikationstechnologischer Munition bezeichnet: Desinformationskampagnen in sozialen Netzwerken, Hackerangriffe auf Regierungen, Parlamente und strategisch bedeutsame Wirtschaftsunternehmen, Einschleusung digitaler „Trojaner“ zwecks Lähmung kritischer Infrastrukturen.

Es gibt auch Geheimoperationen, die man als „legale Verschwörungen“ bezeichnen könnte: Widerstandskämpfer tun sich zusammen, um einen Tyrannenmord zu begehen. Polizei und Nachrichtendienste setzen verdeckte Ermittler ein. Staatsanwaltschaften koordinieren simultane Razzien in verschiedenen Ländern. Übrigens sind solche Verabredungen zumeist Beispiele für Gegenverschwörungen. Während unsereiner friedlich seinen Geschäften nachgeht, tobt hinter den Kulissen ein Schattenkrieg zwischen Organisierter Kriminalität und koordinierter Strafverfolgung, zwischen inländischer Cyberabwehr und ausländischen Netzaggressoren.

Aber ist diese real existierende Schattenwelt Gegenstand jener Vorstellungen, die man gemeinhin als „Verschwörungstheorien“ bezeichnet? Die Antwort lautet: Nein, auch wenn es durchaus Verbindungen zwischen ihr und dem Paralleluniversum der Verschwörungstheorien gibt. Man denke nur an unwahre oder halbwahre Gerüchte, die von staatlichen Geheimdiensten vorsätzlich gestreut werden, um solchen Theorien Nahrung zu geben.

Der erste Unterschied wurde bereits angedeutet. Er besteht darin, dass das Verschwörungsdenken einen universellen Schlüssel zum Verständnis unserer komplexen Wirklichkeit bietet. Verschwörungstheorien sind gewissermaßen säkularisierte Versionen religiöser Erklärungen des Weltgeschehens. Bei Homer sind es die Götter, die hinter den Kulissen die Strippen ziehen, in manichäischen Vorstellungen manifestiert sich in allen irdischen Krisen und Konflikten ein Kampf zwischen den Mächten des Lichts und den Mächten der Finsternis.

In der Neuzeit traten an die Stelle übermenschlicher Schicksalsmächte – vor allem des Satans – reale oder vermeintliche Geheimbünde unterschiedlichster Art: Illuminaten, Freimaurer, Jesuiten, die Weisen von Zion, die Bilderberger, die Wall Street, die amerikanische Ostküstenpresse, der militärisch-industrielle Komplex, der Deep State („tiefer Staat“), das Opus Dei, internationale Konzerne, Wohltätigkeitsclubs, die Bill-&-Melinda-Gates-Foundation – und so weiter. Nicht einmal die Phantasie eines Dan Brown reicht aus, sich alle Anwärter auf den Verschwörerstatus auszumalen. Zudem lassen sich einzelne Elemente des konspirativen Pandämoniums miteinander kombinieren. So bedient sich, um eine verbreitete Wahnvorstellung als Beispiel zu nennen, das „Weltjudentum“ seiner Finanzmacht (Wall Street), seiner Medienmacht (Hollywood, Ostküstenpresse) und seiner Netzwerke (Freimaurer, Lions und Rotary5), um große Teile der Menschheit in seinem Sinne zu manipulieren.

Nicht geleugnet werden soll, dass es tatsächlich Geheimbünde mit verbrecherischer Agenda gibt. Eines der wohl wichtigsten Beispiele aus jüngerer Vergangenheit ist die Organisation „Propaganda Due“, eine ehemalige italienische Freimaurerloge, die in den frühen 1980er-Jahren aufflog. „Propaganda Due“ ist allerdings zu konkret, um in ein universales Welterklärungsmodell zu passen; es handelt sich, genau genommen, um ein handfestes Beispiel für Organisierte Kriminalität.

Der zweite Unterschied zum vernünftigen Verdacht besteht darin, dass eine Verschwörungstheorie sich prinzipiell nicht widerlegen lässt. Zirkelschlüsse bilden den Mechanismus, der sie gegen Kritik immunisiert. Das hat sie mit dem Verfolgungswahn gemeinsam. Einen Anhänger der QAnon-Sekte6 kann man nicht mit rationalen Argumenten davon überzeugen, dass er sich irrt. Im Gegenteil, er wird jede Kritik geradezu als Bestätigung empfinden. Denn entweder sind die Kritiker selbst Teil der Verschwörung – oder sie sind ahnungslose Opfer verschworener Mächte, die ihnen aus dem Dunkeln heraus mit Unterstützung der „Lügenpresse“, der „GEZ-Medien“ und anderer „Fake News“-Produzenten das Gehirn gewaschen haben.

Der dritte Unterschied besteht in der Logik des universellen Verdachts. Ein Kriminalist fragt routinemäßig nach möglichen Motiven für eine Straftat, zum Beispiel einen Mord. Dazu dient ihm die Frage: Cui bono? Wem nutzt die Straftat? Dieser Spur müssen die Ermittler nachgehen. Aber eine Spur allein beweist noch nichts – ein Alibi kann den Verdächtigen entlasten. Anhänger von Verschwörungstheorien dagegen halten ihre Antwort auf die Cui bono?-Frage für einen schlagenden Beweis. Um eine Verschwörung aufzudecken, so glauben sie, muss man nur die verborgenen Interessen der beteiligten Akteure enthüllen.7

Instruktive Beispiele für diese Art von Beweisführung bot in jüngster Zeit die Debatte über die Hintergründe der Vergiftung des russischen Oppositionspolitikers Alexei Nawalny. Verteidiger der russischen Staatsführung argumentierten, der Kreml könne gar kein Interesse an einem solchen Anschlag haben, weil sein internationales Ansehen dadurch beschädigt werde. Allerdings hätten bestimmte Kräfte im Westen durchaus Interesse daran, Russland zu desavouieren und das „Nord Stream 2“-Projekt scheitern zu lassen. Daraus folge, dass es diese Kreise waren, die den Mord in Auftrag gegeben haben. Hauptverdächtiger sei die US-amerikanische Fracking-Industrie, die ihr eigenes Erdgas verkaufen und daher die Russen vom westeuropäischen Energiemarkt verdrängen möchte.

Der vierte Unterschied zwischen vernünftigem Verdacht und paranoider Verdächtigung ist die Verachtung des Common sense, der Alltagsvernunft, der Lebenserfahrung. Anhänger einer Verschwörungstheorie, die sich als Spinner ausgegrenzt sehen, betrachten den Common sense nicht als gesundes Korrektiv, sondern als eine Erscheinungsform des kranken „Mainstreams“, der sich aus vergifteten Quellen speist. Damit soll keineswegs behauptet werden, dass die Alltagsvernunft immer Recht hat. Auch der redensartlich „gesunde“ Menschenverstand kann sich irren. Aber er bietet Maßstäbe, um – bis zum Beweis des Gegenteils – das Plausible vom Unplausiblen zu unterscheiden. Gegen die Mondlandungsleugner spricht schon der erste Anschein – ein Common-sense-Gedanke, der von Abraham Lincoln so formuliert worden sein soll: „Du kannst einige Leute für alle Zeit zum Narren halten und alle Leute für einige Zeit, aber nicht alle Leute für alle Zeit.“

Der Common sense lebt davon, dass es in einer Gesellschaft stillschweigende Übereinkünfte gibt, auf deren Verlässlichkeit alle – oder doch die meisten – spontan vertrauen. Daher taugt das Ausmaß der Verbreitung von Verschwörungstheorien als Gradmesser für das Maß an Misstrauen, das in einem Land herrscht. Somit ist es auch ein Gradmesser für das Maß an gesellschaftlicher Polarisierung, denn ein in unversöhnliche Lager gespaltenes Land wird von der Pandemie eines allgemeinen Vertrauensverlustes erfasst.

Es spricht einiges für die Annahme, dass es einen Kausalzusammenhang gibt zwischen großer sozialer Ungleichheit und geringer Bereitschaft, den eigenen Mitbürgern zu vertrauen.8 Eine weitere Erklärung für die Zunahme von Verschwörungstheorien könnte das Vordringen identitätspolitischer Denkweisen sein, die in Tribalisierung, ja Libanisierung münden; Politik ist dann nicht mehr der zivilisierte Kampf um konkurrierende Problemlösungen, Werteprioritäten und Visionen, sondern ein Gegeneinander von ethnisch, religiös oder kulturell definierten Gruppen. In dieser Konstellation geht es nicht mehr darum, ob etwas gut oder schlecht für das Gemeinwohl ist, sondern darum, ob etwas dieser oder jener Gruppe nutzt. Die Logik von richtig und falsch wird durch die Logik von Loyalität und Verrat ersetzt.9

Unser Bild von der Wirklichkeit basiert zum größten Teil darauf, dass wir fremden Quellen vertrauen, ohne uns ständig darüber Rechenschaft abzulegen, wie sehr wir davon abhängig sind. Auch dies lässt sich am aktuellen Beispiel Nawalny gut illustrieren. Wem sollen wir mehr Glauben schenken: der Berliner Charité oder der Omsker Klinik, in der Nawalny zunächst behandelt wurde? Dem deutschen BND oder der russischen GRU? Der Bundesregierung oder dem Kreml? Wer auf die Charité, den BND und die Bundesregierung vertraut – oder auf die Omsker Klinik, die GRU und den Kreml –, verlässt sich letztlich auf Plausibilitäten, jedenfalls nicht auf eigene Beobachtung. Zwischen Plausibilität und Gewissheit klafft eine riesige Lücke. Sie wird durch Vertrauen gefüllt: Ich vertraue – bei aller Kritik im Einzelnen – den deutschen Institutionen mehr als den russischen, nicht zuletzt deshalb, weil sie unter Aufsicht einer unabhängigen Justiz und unabhängiger Qualitätsmedien stehen.

Manche – nicht nur am rechten und am linken Rand des politischen Spek­trums – sehen das freilich anders: Der BND führt ja doch nur die Weisungen des Berliner „Regimes“ aus, unsere Justiz ist ideologisch „total versifft“, die „Lügenpresse“ bezieht ihre Sprachregelungen aus dem Bundespresseamt, alle Meinungsumfragen sind gefälscht, die Charité kriegt ihre Pressemitteilungen von oben diktiert – und so weiter und so fort. In Deutschland bilden, wie Umfragen immer wieder zeigen, solche Wahnvorstellungen nur den Bodensatz der öffentlichen Meinung. Das ist allerdings kein Plädoyer für Leichtgläubigkeit, sondern ein Plädoyer gegen das totale Misstrauen. Wenn Lord Actons berühmtes Dictum stimmt, dass Macht die Tendenz hat, ihre Inhaber zu korrumpieren, dann ist es geradezu eine Bürgerpflicht, den Inhabern staatlicher, aber auch gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Macht mit einer maßvollen Portion Misstrauen zu begegnen.

Dabei kommt es nicht primär auf ein Gefühl des Misstrauens an; vielmehr geht es um die grundsätzliche Einsicht in die Missbrauchsanfälligkeit der Macht. Sie findet ihren institutionellen Ausdruck in Vorkehrungen gegen Machtmissbrauch: Gewaltenteilung, „checks and balances“, freie Wahlen, Pressefreiheit und so weiter. Wir sollten immer auf die besten Inhaber von Macht hoffen – und uns auf die schlechtesten vorbereiten. Wo diese institutionellen Vorkehrungen gegen Machtmissbrauch funktionieren, kann Vertrauen gedeihen. Umgekehrt wird – wie sich heute im Libanon studieren lässt – ein Land von totalem Misstrauen zerfressen, wenn diese Institutionen versagen. Die Herrschaft des totalen Misstrauens führt in letzter Konsequenz zum Bürgerkrieg.

Was tun? Unerlässlich ist vor allem der Kampf gegen die Ursachen gesellschaftlicher Polarisierung und gegen die Ersetzung rationalen Argumentierens durch emotional gesteuerte Verdächtigungen. Der Common sense ist und bleibt das beste Mittel gegen die Unkultur des wechselseitigen Niederbrüllens. Das Bildungssystem sollte die Kultur des Lesens fördern. Der Roman „Fahrenheit 451“ zeigt eine Welt, in der die Menschen keine Bücher mehr lesen dürfen und pausenlos von Videowänden bespaßt werden. Dort werden die Leute von einer Diktatur entmündigt; heute betreiben sie digitale Selbstentmündigung. Gedruckte Texte manipulieren nicht durch emotionale Hintergrundmusik – und nur selten durch suggestive Bilder. Staatlich finanzierte Programme zu Demokratieförderung an Schulen sind gut gemeint und gewiss nicht schädlich – aber gegen Verschwörungsdenken helfen keine Instantlösungen; dafür liegen seine Ursachen zu tief. 

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