Überfordern globale Krisen die Demokratie?Politische Philosophie in Zeiten des Umbruchs

Als im Jahr 2013 Spitzenpolitiker von CDU/CSU und SPD über die politischen Ziele für die folgende Legislaturperiode verhandelten, standen innenpolitische Themen im Zentrum der Debatte. Der Öffentlichkeit bleiben vor allem die Diskussionen um die sogenannte Mütterrente, die Pkw-Maut und den Mindestlohn in Erinnerung. Erst im letzten Kapitel des Koalitionsvertrags finden sich unter dem Stichwort „Verantwortung in der Welt“ außenpolitische Themen.
Der politische Alltag der letzten zwei Jahre hat diesen innenpolitischen Fokus des Koalitionsvertrages konterkariert, denn die gegenwärtig drängenden Themen sind globaler Natur. So hat die Finanz- und Griechenlandkrise viele Monate die politischen Debatten geprägt. Zudem stand die Regierung unter Zugzwang, sich gegenüber den vielfältigen, inter- und transnationalen (gewalttätigen) Konflikten zu positionieren, die die politische Aufmerksamkeit auch der Deutschen auf sich zogen. Der Krieg in der Ukraine und der hoch komplexe Konflikt in Syrien und dem Irak, insbesondere die medial inszenierte Gewalt des IS, stehen paradigmatisch hierfür. Als Konsequenz dieser Kriege von heute setzen vor allem die steigenden Zahlen von Flüchtlingen die deutsche Politik unter Druck und rufen ganz unterschiedliche Politikfelder auf den Plan, so etwa die Bildungs- oder Wirtschaftspolitik, aber eben auch die innere Sicherheits- und die Außenpolitik. Zuletzt haben die terroristischen Anschläge von Paris im November 2015 die politische Agenda radikal wie kaum ein anderes Thema geprägt, und auch hierbei handelt es sich um ein explizit globales Thema mit massiven innenpolitischen Auswirkungen.
Schon diese wenigen Beispiele zeigen deutlich den engen Zusammenhang zwischen Außen- und Innenpolitik. Die drängenden Themen der Gegenwart sind nicht mehr rein innerstaatlich, sondern haben immer auch - und oftmals sogar primär - einen globalen Aspekt. So hat die deutsche Finanzpolitik direkte Auswirkungen auf Griechenland, nicht nur auf die dortige Politik, sondern auch auf die Lebensbedingungen der Menschen. Die Kriegsflüchtlinge wiederum stellen eine enorme Herausforderung für Kommunalpolitiker in Deutschland dar. Und einige der identifizierten Attentäter von Paris sind sozial ausgeschlossene und radikalisierte Menschen, die in Europa groß geworden sind, dort dann aber unter dem Label „Islamischer Staat“ Terrorakte begehen. Schon diese drei Beispiele zeigen, dass Innen- und Außenpolitik heute nur noch schwer getrennt werden können.

Defizitäre Interpretation des Politischen

Die politischen Antworten auf diese globalen Entwicklungen sind hoch umstritten. Sie provozieren teils eine Rhetorik, die weit jenseits der demokratischen Kultur liegt, beispielsweise wenn von „Flüchtlingslawinen“ die Rede ist oder Angst vor den kriminellen Muslimen geschürt wird. Die Frage, die sich augenscheinlich stellt, ist, wie Demokratien auf diese globalen Krisen antworten sollten, und ob sie dafür überhaupt gerüstet sind. Überfordern also globale Krisen Demokratien1?
Die These dieses Beitrags lautet: Die scheinbare Überforderung der Demokratie hängt an einer defizitären Interpretation des Politischen. Die Brille, mit der heute meist auf politische Ereignisse geblickt wird, stammt aus einer anderen Zeit, und sie ist nur bedingt geeignet, die Welt, wie sie heute ist, zu verstehen. Für die Entwicklung einer neuen Interpretationsfolie kann die Politische Philosophie Hilfestellungen geben, um die Tiefenstrukturen und Dynamiken einer global vernetzten Welt zu verstehen und erste politische Antworten zu geben. Hierzu braucht es eine umfassende Reflexion des gesellschaftstheoretischen, ethischen und politischen Selbstverständnisses moderner Gesellschaften.

Die Suche nach einem angemessenen Gesellschaftsverständnis

Die Philosophie denkt seit vielen Jahrzehnten darüber nach, wie ein angemessenes Verständnis moderner Gesellschaften theoretisch gefasst werden kann. Dabei wurden unterschiedliche Gesellschaftsverständnisse entwickelt, die sich auch im politischen Alltag widerspiegeln. Exemplarisch sollen mit dem Sozialphilosophen Charles Taylor zwei besonders wirkmächtige Gesellschaftsmodelle vorgestellt werden2.
Er unterscheidet ein atomistisches und ein vergemeinschaftetes Gesellschaftsverständnis. Im ersten Modell wird Gesellschaft als die Summe der in ihr handelnden Bürger interpretiert. Die Individuen sind der Ausgangspunkt dieses Ansatzes: Diese sind eigenständig und erst einmal unabhängig voneinander. Im Zentrum der Gesellschaft steht dann das atomistische Individuum; das Interaktionsgeflecht zwischen diesen wird als sekundär gedeutet. Dem klassischen Liberalismus liegt dieses Gesellschaftsmodell zugrunde, beispielsweise in seinem Fokus auf die Freiheit des einzelnen Bürgers. Das zweite Modell, das Taylor identifiziert, deutet als zentrales Merkmal der Gesellschaft das einende Band zwischen den Bürgern. Er nennt dies auch eine holistische Vorstellung, die sich mehr auf Gemeinschaft und weniger auf Gesellschaft im Sinne der Summe handelnder Bürger bezieht. Die vergemeinschaftete Gesellschaft wird an geteilten Werten, gemeinsamen Handlungseinstellungen oder kulturellen Traditionen festgemacht. Dieses geteilte Band ist das, was Gesellschaft letztlich ausmacht.
Beide Modelle, so die These, implizieren ein verkürztes Bild von Gesellschaft: Das erste Modell vernachlässigt die unauflösbare soziale Verwobenheit der Menschen. Diese sind nämlich immer schon eingebunden in soziale Praktiken und Diskurse, die sie erst zu dem werden lassen, was sie sind. Aber diese Vernetzungen sind auch nicht so einheitlich, wie das zweite Modell nahezulegen scheint. Denn das gemeinsame Band ist heute immer schon plural. Menschen sind Teil unterschiedlicher, sprachlich gefasster Handlungspraktiken und leben in diesen. Gesellschaft kann deshalb am besten als plurales Zusammenspiel unterschiedlicher Praktiken und Diskurse verstanden werden. Menschen sind gleichzeitig Teil unterschiedlicher (versprachlichter) Praktiken.
Das, was eine (politische) Gesellschaft ausmacht, ist in dieser Perspektive immer nur eine Konstruktion. Von unterschiedlichen Perspektiven (d. h. von verschiedenen Praktiken und Diskursen ausgehend) deuten Menschen Gesellschaft und die mit ihr gegebenen Problemlagen. Das zentrale Merkmal dieser Konstruktionen ist ihre Pluralität. Es gibt verschiedene Bezugspunkte, von denen aus Bürger auf Gesellschaft und ihre Krisen blicken und diese interpretieren. Dies gilt umso mehr in einer vernetzten und interkulturell geprägten Welt. Menschen sind Teil der Globalisierung und damit Teil eines komplexen und hoch dynamischen Netzes an Verbindungen jenseits traditioneller Grenzen. Der Philosoph Stephen Toulmin stellte deshalb bereits Ende der 1980er-Jahre fest: Menschen leben heute in einer Kosmopolis, ob sie es wollen oder nicht3.
Politische Antworten auf globale Krisen sollten diese gesellschaftliche Ausgangsbedingung ernst nehmen. Gesellschaften können heute weder als homogene Blöcke noch als Summe atomisierter Bürger verstanden werden. Beide Deutungen gehen an der (welt-)gesellschaftlichen Realität vorbei. Angesichts globaler Krisen sollte dieser Einsicht auch im politischen Alltag mehr Beachtung geschenkt werden als bisher.

Ethik jenseits nationalstaatlicher Begrenzungen

Philosophen reflektieren als Ethiker menschliches Handeln hinsichtlich seiner normativen Dimension. Die Leitfragen der traditionellen Ethik sind dann, welche (soziale) Formierung Normativität aufweist, wie sie sich in der Sprache ausdrückt und schlussendlich, ob es allgemeingültige moralische Prinzipien zur Beurteilung menschlichen Handelns gibt. Diese universale Stoßrichtung der (normativen) Ethik ist wichtig und in weiten Teilen auch überzeugend. Viele Ansätze weisen dabei dennoch zwei grundsätzliche Probleme auf, die sich wiederum auch in gesellschaftlichen Debatten widerspiegeln4.
Das erste Problem besteht darin, dass Ethiken zwar oftmals für allgemeingültige Prinzipien argumentieren, sie aber gleichzeitig nationalstaatliche Begrenzungen implizieren, beispielsweise wenn normative Prinzipien vor dem geistesgeschichtlichen Hintergrund einer Kultur begründet und davon ausgehend universalisiert werden. Die Diskursethik von Jürgen Habermas ist ein Beispiel hierfür. Sie nimmt ihren Ausgangspunkt bei einer intersubjektiven Wendung der Kantischen Ethik. Habermas argumentiert vor dem Hintergrund des Konzeptes der kommunikativen Vernunft für einen universalen Geltungsanspruch moralischer Aussagen, und zwar wenn alle von diesen Fragen betroffenen Menschen unter fairen Diskursbedingungen zustimmen können. Der diskursethische Grundsatz lautet,

„dass nur die Normen Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden (oder finden könnten).“5

Die intersubjektiv konzeptualisierte Vernunft ermöglicht eine Einigung in diesen Fragen, wobei Habermas annimmt, dass sich das vernünftigste Argument durchsetzen wird. Die Pointe besteht darin, dass Habermas eine universalistische Position einnimmt, die jedoch eine formale Natur aufweist. Normen können nicht a priori ihren Geltungsanspruch erheben, sondern erhalten diesen erst durch die Legitimation des Diskurses. Gleichzeitig enthält sich Habermas einer ethischen Aussage über Wertvorstellungen in der privaten Lebenswelt des Menschen. Diese ethische Enthaltsamkeit im privaten Raum spiegelt seine liberale Grundhaltung wider.
Der zentrale Punkt an diesem Ansatz ist, dass die meisten als relevant eingestuften Normfragen die Bürger einer Gesellschaft betreffen - das heißt sie sind diejenigen, die Habermas bei allem Abstraktionsniveau der Diskursethik implizit vor Augen hatte. Damit wird die theoretische Begründungsfigur der Diskursethik implizit an die nationalgesellschaftlichen Formationen gebunden. Dies zeigt sich beispielhaft in den bereichsethischen Fragen, die Habermas in den 1970er- und 80er-Jahren diskutiert (z. B. Demokratie, Öffentlichkeit, Bedeutung des Rechts, Bioethik). Zwar wendet er sich mit der faktisch einsetzenden Globalisierung explizit globalen Fragen zu6. Habermas scheint allerdings letztlich zurückhaltend zu sein, ob der Diskurs als ethische Begründungsfigur als ein Diskurs aller Weltbürger philosophisch angemessen konzeptualisiert werden kann.
Die interkulturelle Philosophie macht auf eine weitere Implikation der Diskursethik aufmerksam. Autoren wie Ram Adhar Mall kritisieren, dass Habermas die kulturellen Ausgangsbedingungen der (wenn auch fiktiv gedachten) Diskurse zu wenig thematisiert7. Denn Diskurse als Begründung von Normen sind immer kulturell geprägt. Dies drückt sich zum Beispiel schon in den unterschiedlichen Weisen des Sprechens aus, die sich in Diskursen zeigen. Interkulturell betrachtet muss deswegen das Konzept der kommunikativen Vernunft noch einmal kulturell zurückgebunden und pluralisiert werden.
Die skizzierten nationalstaatlichen bzw. kulturellen Implikationen zeigen sich am deutlichsten bei den politisch-philosophischen Konsequenzen von Habermas, denn für ihn ist die liberal-westliche Form der deliberativen Demokratie die Schwester der Diskursethik. Deswegen plädieren viele Ethiker ausgehend von der Diskursethik für eine Globalisierung der Demokratie als politischen Herrschaftsmodells. Diese Debatte zeigt deutlich die nationalstaatlich geprägten Verwurzelungen einer diskursethischen Grundlegung der Politischen Philosophie. Natürlich ist der Einsatz für die Demokratie als politische Ordnungsform von unserem kulturellen Selbstverständnis her plausibel und richtig. Ob es sich dabei allerdings um die einzig legitimierbare Form handelt und wie kulturelle Alternativen aussehen können, wird meist zu wenig diskutiert.
Ein zweites Problem gegenwärtiger Ethikansätze sei noch kurz skizziert. Dieses Problem besteht darin, dass viele Ethiken oftmals mit einer Top-down-Logik argumentieren. Abstrakte Begründungsfiguren sichern zuerst die Universalität moralischer Prinzipien. Das Ziel ist die Bestimmung möglichst eindeutiger Prinzipien, die universale Geltung beanspruchen. Diese theoretisch begründeten Prinzipien werden dann in einem zweiten Schritt auf die scheinbar „nicht-ideale“ Welt angewendet. Das Problem dabei ist ein Zweifaches. In einem deskriptiven Sinne werden mit dieser Methode die spezifischen Eigenheiten des jeweiligen gesellschaftlichen, politischen oder kulturellen Feldes zu wenig beachtet. Außerdem werden die pluralen Praktiken mit ihren unterschiedlich akzentuierten normativen Potenzialen in ihrer Bedeutung für ethische Reflexion unzureichend in den Blick genommen.
Globale Krisen fordern vor diesem skizzierten Hintergrund die Ethik zweifach heraus: Zum einen sollten ethische Argumentationen und Begründungsfiguren explizit die neue globale Ausgangsbedingung verarbeiten. Dies bedeutet zuerst, dass nationalstaatliche Implikationen traditioneller Ethikansätze offengelegt und kritisch diskutiert werden sollten. Die interkulturell ausweisbare Vielfalt ethischer Prinzipien und Begründungen ist ein Potenzial, keine Grenze. Ein ausschließlich aus der westlichen Tradition heraus begründeter ethischer Universalismus sollte deswegen nicht automatisch globalisiert, sondern interkulturell übersetzt und ausbuchstabiert werden. Denn wenn Begründungsfiguren nur aus einer kulturellen Tradition heraus verallgemeinert werden, steht die Philosophie mit Judith Butler gesprochen immer in der Gefahr, „ethische Gewalt“8 anzuwenden. Zum anderen sollten sich Ethiker angesichts globaler Heterogenität von Top-down-Modellen verabschieden, weil diese der (kulturellen) Pluralität normativer Praktiken in einer globalen Welt nicht mehr gerecht werden und deren Potenziale für die ethische Reflexion unterbelichten.
Im gegenwärtigen akademischen Ethikdiskurs gibt es verschiedene Traditionen, die sich beiden Herausforderungen zu stellen versuchen. Beispielhaft hierfür können Teile der poststrukturalistischen und pragmatistischen Debatten angeführt werden. Beide stehen in der Tradition Hegels, der bereits vor zweihundert Jahren darauf aufmerksam gemacht hat, dass die Eule der Minerva ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt. Philosophie sollte, so lässt sich dieser Spruch übersetzen, nicht auf die theoretische Begründung abstrakter Ideale fokussieren, sondern Normativität von der pluralen Wirklichkeit aus denken. Ethik, so ließe sich weiter folgern, sollte bei den Erfahrungswelten der Menschen ansetzen, die Teil pluraler Praktiken (Sittlichkeitsbestände) sind. Deswegen ist die Ethik mehr denn je auf eine fundierte Gesellschaftsanalyse angewiesen.
Gesellschaft kann vor diesem Hintergrund mit Hegel als ein organisches Beziehungsgeflecht gedeutet werden, das sich ständig dynamisch verändert. Von dieser vernetzten Welt aus sollte über Normativität nachgedacht werden. Normen lassen sich dann nur vor dem Hintergrund pluraler Praktiken verstehen. Mit Axel Honneth gesprochen: Menschen beachten Normen, nicht weil sie eine rational erwiesene, abstrakt begründete Pflicht sind, sondern weil in den Sphären der Sittlichkeit „bereits ein ganzes Spektrum an freiheitsverbürgenden Interaktionsmustern“9 vorliegt. Gesellschaftliche Realität ist gekennzeichnet von einer Vielzahl solcher Praktiken wechselseitiger Anerkennung, die ethische Reflexion, wenn sie im interkulturellen Zeitalter überzeugen will, ernst nehmen muss.

Perspektiven für eine Politische Philosophie in Zeiten globaler Krisen

Die skizzierten gesellschaftstheoretischen und ethischen Überlegungen haben vielfache Konsequenzen für eine Politische Philosophie in Zeiten globaler Umbrüche. Diese werden nun abschließend mit Blick auf die Einleitung des Beitrages als fünf Thesen zusammengetragen. Damit soll nicht zuletzt eine Antwort auf die Ausgangsfrage gegeben werden: Überfordern globale Krisen die Demokratie? Die hier vertretene These lautet: Globale Krisen überfordern die Demokratie, wenn Gesellschaft, Politik und Ethik verkürzt interpretiert werden. Es braucht deswegen ein produktives Weiterdenken des gesellschaftlichen und politischen Selbstverständnisses (inklusive ihrer normativen Grundlagen), um angemessene politische Antworten auf globale Krisen geben zu können.
1. Das politische Subjekt sollte heute immer schon als ein globales gedacht werden. - In einer vernetzten Welt haben (politische) Handlungen an einem Ort vielfältige Folgen an anderen Orten der Welt. Das Engagement westlicher Allianzen im Nahen und Mittleren Osten hat Einfluss auf die Situation vieler Flüchtlinge. Der westlich geprägte Konsumstil hat Auswirkungen auf Klimafolgen und damit die Lebenssituationen vieler Menschen in den Ländern des globalen Südens. Und auch Kommunalpolitiker wie der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter haben beispielsweise angesichts der wachsenden Zahlen von Flüchtlingen in den vergangenen Monaten sehr deutlich gespürt, dass ihre kommunalpolitischen Entscheidungen eng mit globalen Entwicklungen verbunden sind. Lokalpolitik, die mit Flüchtlingen umgehen und Wege der Integration suchen muss, lässt sich nicht mehr losgelöst von globalen Prozessen betreiben.
Oftmals werden diese globalen Vernetzungen in der Konzeptualisierung des politischen Subjekts jedoch nicht abgebildet. Das politische Subjekt ist heute aber immer schon ein globales. Politische Debatten über Einwanderungsgesetze oder Transitzonen reichen deshalb beispielsweise als Antworten auf die Flüchtlingsthematik nicht aus. Politische Antworten greifen jedoch meist auf politische Modelle zurück, die genau diesen global vernetzten Charakter des Politischen zu wenig Beachtung schenken. Theoretiker wie Michael Hardt und Antonio Negri haben dies als Ursache für die defizitäre Konzeptualisierung globaler Politik eindrücklich diagnostiziert:

„Die Ansätze zur theoretischen Beschreibung [globaler Politik] blieben dem Konstitutionsprozess einer supranationalen Weltmacht allerdings völlig unangemessen. Statt das wirklich Neue der supranationalen Entwicklungen anzuerkennen, versuchten Rechtstheoretiker in ihrer großen Mehrheit, angesichts neuer Problematiken auf anachronistische Vorstellungen zurückzugreifen.“10

Vorstellungen politischer Ordnung, die aus lokalen Modellen gewonnen werden, können nicht eins zu eins auf die globale Ebene übertragen werden, weil die weltgesellschaftliche Dynamik in ihren Eigenheiten damit nicht beachtet wird.
Natürlich entstehen aus dem Verständnis des politischen Subjektes als eines globalen auch neue Verantwortlichkeiten, denen sich Ethiker als Wissenschaftler und Menschen als Bürger stellen müssen. Entsprechend der Neuausrichtung ethischer Argumentation sollten diese Verantwortlichkeiten jedoch nicht top-down als abstrakt begründete Pflichten ausgewiesen und begründet, sondern von den pluralen und kulturell geprägten Erfahrungswelten der Menschen aus gedacht werden. Von hier aus gilt es, nach den Potenzialen der kulturellen Vorstellungen von Normativität für die politische Bearbeitung globaler Krisen zu fragen.
2. Die Demokratie im Zeitalter der Globalisierung ist auf eine Reflexion ihres pluralen und interkulturell vernetzten Gesellschaftscharakters angewiesen. - Die gesellschaftstheoretischen Überlegungen haben die Notwendigkeit eines Nachdenkens über Gesellschaft angezeigt, bei dem insbesondere der plurale Charakter moderner Gesellschaften mehr Beachtung finden sollte als bisher. Es gibt keine homogenen Gesellschaften mehr, und es wird sie nicht mehr geben. Stattdessen sollte die integrative Kraft der pluralen und sich wechselseitig überschneidenden Praktiken und Diskurse beachtet werden. Aus diesen kann eine neue gesellschaftliche Klammer entstehen, die jenseits traditioneller Grenzziehungen angesiedelt ist.
Wenn moderne Gesellschaften ihren pluralen und globalen Charakter anerkennen und wertschätzen, ist es beispielsweise auch leichter, über Integration nachzudenken. Zentrale politische Aufgabe der demokratischen Gesellschaft ist es dann, sich immer wieder diese Pluralität und ihr gesellschaftliches Potenzial vor Augen zu führen. Bürger nur entlang eines Identitätsmerkmals zu behandeln, wird pluralen Identitätskonstruktionen nicht gerecht. Vorurteile gegenüber dem Islam oder den muslimischen Flüchtlingen sind hierfür wenig hilfreich. Sie entsprechen weder der kulturell ausdifferenzierten Realität noch dem Selbstbild dieser Gruppe.
Diese Suche nach einem neuen gesellschaftlichen Selbstverständnis ist dabei keine rein theoretische und schon gar keine technisch operationalisierbare Aufgabe. Sie sollte vielmehr bei den Erfahrungswelten der Menschen ansetzen und gemeinsame Praktiken jenseits kultureller Grenzen fördern. Dazu ist es wichtig, Kontaktmöglichkeiten zu schaffen, um solche Praktiken zu ermöglichen - beispielsweise zwischen Christen, Muslimen, Juden und Atheisten. Erst das Entstehen solcher Praktiken kann auch das gesellschaftliche Selbstverständnis als Ganzes verändern.
3. Demokratie vermeidet heute den Streit und dies ist eine Gefahr. - In einer demokratischen Gesellschaft, die sich ihrer eigenen Pluralität besonders bewusst ist, kommt es zum Streit. Dieser Streit der Meinungen und politischen Positionen ist kein Defizit der Demokratie, sondern einer ihrer wesentlichen Motoren. In der Tradition der Diskursethik von Jürgen Habermas oder des Gerechtigkeitstheoretikers John Rawls gerät diese Bedeutung des Streites teilweise aus dem Blickfeld, weil sie den vernünftigen Ausgleich der Meinungen, den Konsens, als zentrales Moment der Demokratie herausstellen.
Im politischen Alltag kann man die Präferenz der deutschen Bevölkerung nach der Bundestagswahl 2013 für eine große Koalition als Ausdruck dieser Sehnsucht nach Ausgleich interpretieren. Mit dieser Sehnsucht nach Konsens kann aber die Sichtbarkeit zentraler Themen und Positionen verloren gehen, was wiederum eine Gefahr für die Demokratie darstellt. So sind heute die Themen der Pegida-Bewegung vor allem diejenigen, die in den vergangenen Jahren in der politischen Öffentlichkeit unterrepräsentiert waren. Weil es keinen demokratischen Streit über diese Themen gab, so könnte man schlussfolgern, haben sich diese Themen nun ihr eigenes Ventil gesucht - in einer politischen Bewegung, die vor dem Hintergrund unserer eigenen Sittlichkeitsbestände als hoch problematisch angesehen werden muss.
Die Bedeutung einer Streitkultur für die Demokratie wurde in den vergangenen Jahren vor allem von den (poststrukturalistischen) Theoretikern einer radikalen Demokratie herausgestellt. So konzeptualisiert beispielsweise die belgische Philosophin Chantal Mouffe Demokratie als eine Pluralisierung politischer Auseinandersetzungen. Demokratie lebt davon, dass es Gegner gibt, deren Positionen leidenschaftlich bekämpft werden. Mit dem Begriff „Gegner“ bringt sie zum Ausdruck, dass jedem das Recht zugestanden werden sollte, eigene Positionen (auch vehement) zu vertreten. Mit dieser Konzeption von radikaler Demokratie wird das herkömmliche Demokratieverständnis kritisiert, das auf einen Typus öffentlicher Vernunft setzt und zu wenig die Pluralität von Handlungspraktiken und ihre Bedeutung für die Demokratie sieht. Erst mit einer Berücksichtigung dieser kommen nämlich auch die gesellschaftlichen Bindungswirkungen der Handlungspraktiken und ihre Motivationsfunktion in den Blick. Ähnlich wie schon Kommunitaristen wie Michael Walzer11 betont sie das Moment der Leidenschaft, die sie als einen Motor demokratischer Prozesse interpretiert:

„Politik hat immer eine Dimension leidenschaftlicher Parteilichkeit […]. Genau das fehlt aber bei der heutigen Glorifizierung der leidenschaftsfreien und unparteiischen Demokratie.“12

Parteilichkeit ist kein Schaden der Demokratie, sondern ein Anzeichen für ihre grundlegende Offenheit und Vitalität. Der demokratische Streit eröffnet auch die Möglichkeit, sich deutlich abzugrenzen von den Positionen, die jenseits der demokratischen Kultur liegen. Persönlich erachte ich die Abgrenzung von physischer, psychischer und struktureller Gewalt gegenwärtig für besonders wichtig. Die schleichende Akzeptanz von Gewalt in Deutschland angesichts der Flüchtlingsthematik stellt ein enormes Problem für die Demokratie dar, dem entschieden entgegengetreten werden sollte.
4. Demokratien sind auf neue Formen demokratischer Beteiligung angewiesen. - Bei aller berechtigten Kritik gilt die Demokratie heute als die politische Herrschaftsform, in der eine faire und gleiche Beteiligung aller Bürger am besten möglich ist13. Es ist Common Sense der Forschung, dass diese politische Ordnungsform auf der Idee der Partizipation beruht. In den meisten demokratischen Systemen wird diese Idee über eine (wenn auch unterschiedlich gefasste) Form von Repräsentation abgebildet. Repräsentation wird dabei verstanden als das Gegenwärtig-Machen derer, die abwesend sind. Dazu sind Demokratien auf transparente und faire Institutionen angewiesen, mit denen diese Repräsentation gesichert werden kann.
Eine zentrale Herausforderung ist heute, dass demokratisch legitimierte Entscheidungen oft weitreichende Konsequenzen für Menschen haben, die an diesen Entscheidungen gar nicht beteiligt werden, weil sie in Demokratien keinen Repräsentationsanspruch haben. Dies gilt beispielsweise für das Feld der Klimapolitik, deren Ausgestaltung massive Auswirkungen auf zukünftige Generationen haben wird, die aber diese politischen Weichen nicht mitstellen können. Von der Perspektive des All-Affected-Principle aus wird deshalb eingewandt, dass das Standardmodell von Repräsentation zu eng gefasst ist. Auch zukünftig lebende Menschen, die aktuell nicht direkt an den Entscheidungsprozessen beteiligt werden können, sollten, auf Grund ihrer massiven Betroffenheit, in neuen Formen der demokratischen Beteiligung repräsentiert werden14.
Sicherlich gibt es berechtigte Einwände gegen eine solche Ausweitung der demokratischen Repräsentationsidee. Trotzdem zeigt das Beispiel der Klimapolitik auch, dass Interessen zukünftiger Generationen nicht unbeachtet bleiben können. Es geht deswegen um eine produktive Weiterentwicklung demokratischer Institutionen, die diesem Spannungsverhältnis gerecht werden. Dabei gilt es angesichts der Auflösung der Unterscheidung von lokal und global auch um eine Verschränkung der institutionellen Bemühungen um Repräsentation auf allen Ebenen - insbesondere in den Themenfeldern, die ganz explizit eine globale Dimension haben. Der Global-Governance-Diskurs seit den 1990er-Jahren hat hierfür viele produktive Vorschläge entwickelt15.
Natürlich sind Institutionen kein Allheilmittel für globale Krisen. Der Pragmatist John Dewey hat bereits Anfang des 20. Jahrhunderts darauf hingewiesen, dass Demokratie mehr ist als ein institutionelles Arrangement:

„Die Demokratie ist mehr als eine Regierungsform; sie ist in erster Linie eine Form des Zusammenlebens, der gemeinsam und miteinander geteilten Erfahrung.“16

Globale Institutionen sind in dieser demokratischen Perspektive deshalb in den pluralen Erfahrungswelten der Menschen zu verankern. Dabei spielt heute - genauso wie schon für Dewey - die Bildung eine besonders wichtige Rolle. Globale Krisen können nur demokratisch bearbeitet werden, wenn bereits junge Menschen ein Gespür für globale Zusammenhänge vermittelt bekommen. Eine politische Bildung über globale Zusammenhänge wird damit zu einem Kernbestandteil der Demokratie, was heute bislang in Lehrplänen oder Modulbeschreibungen oft zu kurz kommt.
5. Demokratie und Frieden stehen in einem ambivalenten Spannungsverhältnis, das in der gegenwärtigen Politik zu wenig beachtet wird. - Die letzte Schlussfolgerung führt zurück zu den gegenwärtigen Kriegen, denen Demokratien besonders ohnmächtig gegenüber zu stehen scheinen. Wie können Demokratien Frieden fördern, wenn dies scheinbar die Einmischung in Gewaltkonflikte verlangt, was wiederum der demokratischen Ausrichtung auf Frieden zu wiedersprechen scheint?
In Folge von Kants Schrift „Zum Ewigen Frieden“ (1795) wird bis heute diskutiert, wie dieser Zusammenhang von Demokratie und Frieden zu interpretieren ist. Gerade angesichts gegenwärtiger Kriege wurde die These formuliert, dass Demokratien letztlich geeigneter sind, Frieden und Gerechtigkeit herzustellen als undemokratische Staaten. Diese These bestimmt vielfach weltpolitische Entscheidungen, beispielweise zeigt sich ihre Aktualität mit Blick auf die Begründung westlicher Militäreinsätze in den vergangenen Jahren. George W. Bush hatte explizit den Irakkrieg damit begründet, dass dort eine liberale Demokratie installiert werden solle, um der Region Frieden zu bringen: „Weil Demokratien ihr eigenes Volk und ihre Nachbarn respektieren, wird die Verbreitung der Freiheit zu Frieden führen.“17
Die akademische Debatte über den demokratischen Frieden in den vergangenen Jahren zeigt deutlich die Ambivalenz dieser These18. Denn offensichtlich ist es dem Westen nicht gelungen, die Demokratie als Friedensprojekt in dem Maße zu globalisieren, wie er es sich vorgenommen hatte. Länder wie Afghanistan oder der Irak sind heute mehr denn je von Gewalt geprägt. Dies liegt daran, dass militärische Interventionen von demokratischen Staaten nicht automatisch zu Demokratisierung und damit zu Frieden führten - auch deshalb, weil nicht nach Anpassungen der Demokratie an die kulturellen Gegebenheiten gesucht wurde. Gerade in der genannten Region wurde keine nachhaltige, konstruktive Bearbeitung der Tiefenstrukturen des Konflikts angestoßen. Demokratien als Friedensförderer sollten sich deshalb der grundlegenden Ambivalenz einer demokratisch legitimierten, militärischen „Friedenspolitik“ bewusst sein und die multidimensionalen Voraussetzungen für Friedensprozesse in den Blick nehmen.
Hegel (als Gegenspieler Kants) hatte diese Frage nach den Tiefenstrukturen gesellschaftlicher Prozesse und damit auch nach den Voraussetzungen friedvoller Entwicklung aufgegriffen und betont, dass es in modernen Gesellschaften immer um einen Kampf um Anerkennung geht. Demokratien können deshalb nur Frieden nachhaltig fördern, wenn sie die (kulturell bedingten) Anerkennungskonflikte ernst nehmen. In dieser Perspektive ist Friedensförderung auf gemeinsame Praktiken der Anerkennung angewiesen, die nicht alleine durch die Schaffung eines bestimmten liberalen Typus demokratischer Institutionen geschaffen werden können. Auch der sozioökonomische Aspekt solcher komplexen Anerkennungsprozesse wird in dieser Hinsicht oftmals vernachlässigt, worauf Autoren wie Nancy Fraser aufmerksam machen19. Dabei ist Friedensförderung auch auf eine Berücksichtigung sozialer Benachteiligung angewiesen. Denn Konflikte werden stärker, je größer die Schere zwischen Arm und Reich ist.

Fazit

Globale Krisen sind eine Herausforderung für Demokratien, nicht notwendig eine Überforderung. Um der Überforderung zu entgehen, muss jedoch die Art, politische Wirklichkeit zu denken, neu justiert werden. Die Gesellschaft als politisches Subjekt sollte relational, plural und global verstanden werden. Ethik sollte gleichzeitig nicht als Top-down-Prozess der westlichen Tradition konzeptualisiert werden, sondern bei den kulturell vielfältigen Praktiken bzw. Diskursen und ihren normativen Potenzialen ansetzen. Auf dieser Basis kann das Demokratische produktiv weiter gedacht werden.
Diese philosophischen Überlegungen machen die Welt nicht einfacher. Aber sie eröffnen eine Interpretationsfolie, die der Komplexität der Welt entspricht. Dabei sollten allerdings auch immer die Grenzen demokratischen Handelns beachtet werden, gerade in Zeiten komplexer gewaltsamer Konflikte. In diesem Sinne ist Demokratie keine vollkommene Technik oder ideale Institution, sondern ein offener und unabschließbarer Streitprozess. Demokratie ist begrenzt aufgrund dieser Offenheit. Ein solches Bewusstsein des demokratischen Charakters kann helfen, Demokratie angesichts globaler Krisen neu zu denken, denn die eigenen Grenzen anerkennen heißt human zu sein20.

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