Versöhnung - auch politisch?

Als Brandenburgs Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) im Herbst 2009 seine Koalition mit der Linkspartei damit begründete, daß man zwei Jahrzehnte nach Überwindung der DDR-Diktatur den "überfälligen Prozeß der Versöhnung" endlich ernst nehmen müsse, erntete er mannigfachen Widerspruch. So hielt ihm die Bundesbeauftragte für Stasi-Unterlagen Marianne Birthler entgegen, daß in Brandenburg die Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit bisher systematisch vermieden wurde, die Beteiligung der Linken an der Regierung machtpolitischem Kalkül entspringe und Versöhnung etwas Persönliches und "keine politische Kategorie" sei.

Nun ist Versöhnung aber in den letzen vier Jahrzehnten zu einem zentralen Begriff nicht nur der politischen Rhetorik, sondern auch ernsthafter Friedensbemühungen aufgerückt. Immerhin entstanden seit dem Jahr 1971 weltweit mehr als 40 Kommissionen, die auf Tatsachenerhebung ("Wahrheit"), Ahndung und zunehmend auch auf Versöhnung ausgerichtet waren und darum als "Wahrheits- und Versöhnungskommissionen" bekannt wurden. Ist Versöhnung /Aussöhnung, die Wiederherstellung einer durch Unrecht und Feindschaft zerstörten sozialen Beziehung, also vielleicht über den privaten Bereich hinaus doch auch eine gesellschaftliche und politische Zielvorstellung - sowohl für Staaten wie Deutschland und Polen als auch innerstaatlich? Und will, wer sie auf persönliche Beziehungen eingrenzt, möglicherweise ein Unbehagen an einem fast unerreichbaren Ideal artikulieren, an das mißbräuchlicherweise appelliert wird, wenn ehemals Mächtige etwa nach dem Untergang der DDR-, Apartheid- oder Pinochet- Herrschaft ungestört weitermachen wollen?

Die Erfahrung mit Versuchen, in Übergangsgesellschaften Unrecht und Schuld einer Diktatur aufzuarbeiten, beispielsweise die gut dokumentierte Arbeit der südafrikanischen Wahrheits- und Versöhnungskommission nach 1995, lehrt, daß Versöhnung zwar an anspruchsvolle Voraussetzungen gebunden ist, aber trotzdem das Ideal- und Fernziel eines ethisch-rechtlichen, psychologischen und politischen Wiederaufbaus bilden kann, der nicht nur auf Strafe, sondern auch auf Heilung ausgerichtet ist. Der Weg führt von der Wahrheit zur Gerechtigkeit und von da aus möglicherweise zur Versöhnung.

Wahrheit: Die faktengetreue Ermittlung und Öffentlichmachung von begangenem Unrecht, sei es strukturelle Benachteiligung oder individuelle Erpressung, Einschüchterung, Folter und Bespitzelung, bildet die notwendige Grundlage für ein neues Klima, das das Lügen und Verschweigen der Repression überwindet und Wahrhaftigkeit und Transparenz zur Norm erhebt. Sie soll Opferschicksalen Auf-

merksamkeit und Anteilnahme gewährleisten, den Willen der neuen Gesellschaft zur Achtung der Menschenrechte bekunden und ein gemeinsames Geschichtsbild schaffen, das nationale Einheit ermöglicht und einer Verklärung der Diktatur vorbeugt. Darum ist man von einer Versöhnung noch weit entfernt, wenn viele Linke die DDR nicht als "Unrechtsstaat" betrachten und sich in Brandenburg nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung für eine Auseinandersetzung mit der DDR-Vergangenheit interessieren. Um so wichtiger ist, daß die "Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED- Diktatur" seit 1998 mit ihrem Archivmaterial, ihren Veröffentlichungen und der Unterstützung von Opferverbänden dem Vergessen entgegenwirkt und daß man eine einseitige Täterfixierung vermeidet.

Gerechtigkeit erfordert eine Aufarbeitung deshalb, weil die Mißachtung von Rechten nicht fortdauern darf; weil die Täter nicht Positionen besetzen dürfen, die Opfern einst versperrt wurden, und das Rechtsvertrauen wiederhergestellt werden muß. Das ist etwas anderes und Konstruktiveres als bloße Vergeltung oder gar Rache. Gerechtigkeit kann einem Verurteilten, der mit der Strafe auch die neue Rechtsordnung akzeptiert, wieder Selbstachtung und soziale Anerkennung verschaffen. Sie kann ihn resozialisieren. Eine Strafverfolgung war bzw. ist freilich nur teilweise möglich; eine Wiedergutmachung (mit Renten für Folteropfer und ähnlichem) auch.

In Südafrika bot man allen, die politisch motivierte Rechtsbrüche zugaben, Amnestie an - auch wenn sie nicht bereuten. Diese allzu leicht gewährte "Straffreiheit für Wahrheit" hat viele Opfer verletzt, die geständigen, aber uneinsichtigen Folterern und Mördern gegenüberstanden. In Deutschland wurde bestraft - aber milde. Von den 1426 Personen, die sich wegen Rechtsbeugung und Todesschüssen an der Mauer verantworten mußten, wurden 753 mit Strafen belegt - jedoch alle (außer 46) mit Bewährung. Vieles entzieht sich der strafrechtlichen Aufarbeitung. So wurden Spitzel und Mitläufer nicht vor Gericht gestellt, sondern nur gesellschaftlich geächtet. Können sie nach 20 Jahren als vom "Makel des Verrats" gereinigt gelten? Dazu müßten sie zuerst einmal gestehen, bedauern und die Geschädigten um Vergebung bitten, damit man an einen echten Gesinnungswandel wirklich glauben kann. Einzelne hatten die Größe dazu.

Versöhnung: Sie setzt, soll sie mehr sein als ein Sich-Arrangieren, auf seiten der Täter genau diese Einsicht in die persönliche Verantwortung und die Bitte um Vergebung voraus. Denn niemand kann sich selbst "entschuldigen" - von den Opfern aber verlangt sie die Bereitschaft zu verzeihen. Versöhnung übersteigt eine bloße Gerechtigkeitsethik. Sie war kein Ideal der Aufklärung oder des Kommunismus. Manche Politologen nennen sie eine "ethische Vision" und fragen auch nach spirituellen Quellen. Wer glaubt, daß Gott uns zur Versöhnung befähigen will und diese fordert, bevor wir die Opfergabe zum Altar bringen (Mt 5,23), sollte sich und anderen diese Vision und Noblesse auch eher zutrauen und nicht resignieren, wenn die Friedensarbeit dieses hehre Ziel bei einzelnen und Repräsentanten von Täterkollektiven nur selten erreicht.

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