„Bornkinnel“ – Eine weihnachtliche „Königskind-Tradition“ aus dem Erzgebirge

„Bornkinnel“ – Eine weihnachtliche „Königskind-Tradition“ aus dem Erzgebirge

Als Zugezogener begegnete ich vor über 20 Jahren dem „Bornkinnel“ zum ersten Mal. Eine Begegnung, die seitdem mein Weihnachtsfest prägt. Wie mir wird es vielen gehen, die in den Weihnachtstagen in das meist hochverschneite Erzgebirge kommen, die Kirche besuchen, zum Altar gehen. Auge in Auge. Kaum Abstand. Eine erst fremde, dann eindrückliche Begegnung mit dem „Bornkinnel“. Da war keine Krippe zwischen den Kerzenleuchtern aufgestellt wie oft. Kein imposantes dreiflügeliges Transparent, mit einer Kerze dahinter, die den Stall von Bethlehem in ein warmes Licht taucht. Besonders die Krippe – das Bettchen des Babys. Da liegt es auf Heu und auf Stroh. Auf unserem Altar dagegen steht das Königskind. Im roten Mantel mit edler Borte. Ein goldener Strahlenkranz über dem Kopf. Du gehst einen Schritt auf Distanz.

Das „Bornkinnel“ ist keine neu eingekleidete Puppe aus dem Puppenwagen. Auch kein Püppchen, das man gelegentlich als Baby-Ersatz in die weihnachtlichen Futterkrippen legt. Es ist ein Königskind. Steht da für Gottes Gegenwart in der stillen und Heiligen Nacht. Es ist etwas Besonderes. Das spürte ich bei meiner ersten Begegnung. Das Kind spricht. Es für spricht für sich und mit seinem Gegenüber. Es entsteht eine Beziehung. Gut erinnere ich mich noch, wie mich seine Rechte, die Hand des Segnens, überraschend berührte. Du kannst dich dieser segnenden Hand nicht entziehen. Das empfinde ich übrigens Jahr für Jahr aufs Neue. 

Eine kleine, strahlende, in sich ruhende und einladende Geste vom Altar: „Fürchte dich nicht!“ Drei Worte – stärker als alle Abhandlungen, Erklärungen, Beteuerungen. „Fürchtet euch nicht!“ Ausrufezeichen. Das kommt über dich und erfasst dich. Wie die schräg stehende Dezembersonne. Sie wärmt dein Gesicht. Stellt dich ins Licht. Der lange Schatten fällt hinter dich zurück. 

„Fürchtet euch nicht. Friede auf Erden. Freiheit im Segen.“ Eine großartige Botschaft, auf den Kopf zugesagt. Damit‘s in Fleisch und Blut übergeht. Man redet in diesen Wochen immer wieder von Transformation. Wenn sich die Gestaltung des Lebens, der Wirtschaft ändern, unseres Miteinanders ändern muss. Die Botschaft vom Altar, die biblische Botschaft lädt ein, die Gestaltung unseres gesellschaftlichen wie auch unseres ganz persönlichen Lebens zu ändern. Fürchte dich nicht, deine Ausrichtung zu ändern. Fürchte dich nicht, dich darauf einzulassen, dass dieses Gotteskind dich verändert.

Fürchte dich nicht, dein Herz weit zu machen, so weit, dass Gott auch in dir geboren wird. Kirchenliederdichter und Lehrer schrieben davon, dass unser Herz die Krippe des Herrn sein möge. Geburtsort der Liebe. Christus – mein Gott und mein Herr! 

Mit so manchen Herrschaften haben wir schlechte Erfahrungen gemacht. Also: Abstand!? Ich schaue auf die Hände des „Bornkinnels“. In der Linken ruht die Weltkugel. Genauer gesagt: der Reichsapfel. Neben Krone und Zepter ein Symbol der Macht. Spontan gehen mir dabei Aufnahmen der Erde aus dem Weltall durch den Kopf. Von unserem faszinierenden blauen Planeten. Wir sollen ihn bewahren, sagt die Bibel am Anfang. Denn wir haben nur diese eine Erde! Friede aller Kreatur! Die Welt liegt in der Hand dieses Kindes. „Lass sie bitte nicht fallen!“, rufe ich dem „Bornkinnel“ in Gedanken zu. Denn welche Einsicht: Unsere Gegenwart, unsere Zukunft liegen in Kinderhänden. Gottlob! Alles gut! – könnte man meinen.  

Aber auch in dieser Nacht, da der Himmel zur Erde kommt, bleibt es kalt. Der Stern liegt im Nebel. Die Welt ist in Not. Das Elend zeigt sich in Bildern mit Fremden und mit uns selbst: Zerstrittene, Einsame, Kranke. Bilder von Hunger, Obdachlosigkeit, Flucht. Geschundene Erde. Zerrissener Himmel. Wir stehen hilflos, kopfschüttelnd, wütend. Manchmal stumpfen wir ab, werden gleichgültig. Da läuft so viel schief und aus dem Ruder. Auf der Weltkugel. In „Bornkinnels“ Hand. Wie weiter? Worauf hoffen? Bei wem Halt finden?

Ich stehe vor dem Kind. Auge in Auge. Dieser Stand-Punkt macht mir Mut. Schenkt Halt und Hoffnung. Unbeirrt hält das Kind den Erdball fest. Es macht das mit links. Zeichen für eine universale Wahrheit. Darauf dürfen wir vertrauen. Müssen nicht zweifeln und können trotz großer Skepsis erkennen: Das Kreuz steht über allem. Am Kreuz endete der Erdenweg dieses Königskindes. Im Morgenlicht des Ostertages gelangte er zum Ziel. Wir werden erlöst. Das Leben ist unbesiegbar. 

Am Ende geht es gut aus. Ich glaube daran. Und vertraue, dass es nicht erst zum Schluss gut sein wird, weil sich schon mitten im Alltag, durch alle Veränderungen hindurch das Gute gegen Böses durchsetzt. Gottes Güte stärkt uns. Eine Nachrichtenviertelstunde ist oft die Abfolge unheilvoller Meldungen. Heute drängelt sich die eine gute Nachricht nach vorn. Das Kind hält sie uns hin, kurz und klar: Alles im Griff! Habt keine Angst! Wer behauptet so was? Es ist Gott. Kind und König. Anfang und Ende aller Zeit.

Das Kind und die Weltkugel und das Kreuz und die Liebe und der Segen. Das ist Weihnachten. Anbruch der Herrschafts-Zeiten Christi. Darum zählen wir bis heute die Jahre nach seiner Geburt.

Auf der Äquatorlinie steht für alle Völker geschrieben: „Fürchtet euch nicht!“ Und vom Meridian lesen wir ab: „Friede auf Erden!“ Ein Fadenkreuz der Verheißungen. Wir hören mit offenen Ohren und weitem Herzen: „Es ist erschienen die heilsame Gnade Gottes allen Menschen.“ (Tit 2,11) Die Transformation ist gelungen.

Es geschehen wunderbare Dinge. Dass einem beispielsweise ein Weihnachtskind vor Augen führt, wie einfach es ist, zu glauben, und wie die Liebe Abstände überwindet.

Im Halbdunkel des Kirchenschiffes leuchteten nur die Christbäume. Das Mädchen stand mit seinen Eltern davor. Dann setzten sich die drei still in eine Bank. Im Arm der Kleinen ihre Puppe, eine Babyborn in feiner Winterkleidung. Alles hatte am Heiligen Abend auf dem Gabentisch gelegen. Nach einigen Minuten schlich sich das Mädchen weg. Beinahe unbemerkt. Krabbelte unter der Absperrung hindurch zur großen Krippe vor dem Altar. Eine hohe Kerze war darin befestigt und eine weiße Baumwollwindel faltenfrei über den Trog gebreitet. Mit wenigen Handgriffen war die Kerze herausgedreht. Sie wickelte ihre Puppe vorsichtig in die Windel ein, faltete aus einem Taschentuch ein Kissen. Dann schaute sie voller Hingabe auf das Krippenbettchen, kroch unter der Sperre zurück, huschte wieder neben ihre Mama. Die fragte etwas beunruhigt: „Was hast du denn derweil gemacht?“ Da deutete das Mädel auf die Krippe und flüsterte: „Pssst. Das Jesuskind schläft. Und wenn‘s aufwacht, zwitschern die Vögel.“ 

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