Sehnsucht nach dem Licht - Liedpredigt zu EG 56 (Weil Gott in tiefster Nacht erschienen)

Dunkelheit und Finsternis sind nichts, was den Menschen Freude macht. Es gibt sie aber nun einmal: die Monate, in denen die Dunkelheit unausweichlich ist. Kein Wunder, dass dann die Sehnsucht nach dem wächst, was dem Dunkel ein Ende bereiten kann: Sehnsucht nach dem Licht. Der Spätherbst und das Winterhalbjahr sind seit alters her mit Bräuchen verbunden, die besonders das Licht in den Mittelpunkt stellen. Die Laternenfeste, das Martinsfest oder das Entzünden der Kerzen am Adventskranz gehören absolut dazu; ebenso das Schmücken der Häuser, Gassen und Straßen mit weihnachtlicher Beleuchtung. Weiters findet die Sehnsucht nach Licht zum Christfest ihren Ausdruck: Mitten in der Christnacht strahlt der Stern von Bethlehem am Himmel und zeigt den Weisen aus dem Morgenland den Weg zur Krippe. Dort liegt das wahre Licht der Welt. Die Adventszeit macht mir deutlich: Die hell erleuchteten Gassen und Straßen mit ihren vielen kleinen und großen Lichtern sind ein Hinweis auf das wahre Licht. Die Dunkelheit des Spätherbstes und des Winters machen deutlich: Finsternis und Nacht haben nicht das letzte Wort, wir Menschen leben auf das Licht zu, das aller Finsternis ein Ende machen will.

„Weil Gott in tiefster Nacht erschienen …“ So heißt es zu Beginn eines Weihnachtsliedes aus dem vergangenen 20. Jahrhundert. Das Lied schrieb Dieter Trautwein 1963 für eine ökumenische Christmette in Frankfurt am Main mit griechisch-orthodoxen Christen, DDR-Flüchtlingen, Obdachlosen und anderen. Die Sprache des Liedes ist sicherlich bewusst leicht eingängig verfasst. Trautwein (1928–2002) galt damals als ein in der Ökumene erfahrener Stadtjugendpfarrer und wurde später zum Propst in Frankfurt gewählt.
Auffallend ist: Der Kehrvers spricht von „uns“ und die Strophen 2–5 sind direkt an die Menschen gerichtet. Die Menschen werden sogar mit „Du“ angeredet. Strophe 1 deute ich als Erklärung. Schön ist es, dass wie der Kehrvers alle Strophen im Wechsel unterschiedlich aufeinander bezogen Gott bzw. Christus und den Menschen im Blick haben: Strophe 1: Gott/Christus – Mensch, Strophe 2: Mensch – Gott, Strophe 3: Gott – Mensch, Strophe 4: Mensch – Christus, Strophe 5: Mensch.

Zuerst fiel Dieter Trautwein die Melodie zu diesem Lied ein. Dann entwickelte sich der Kehrvers und danach erst der Liedtext. Das Lied hat volkstümlichen Charakter und ist aus der Singbewegung bekannt. Die Tonart und der Dreierrhythmus finden sich auch in anderen Weihnachtsliedern im Evangelischen Gesangbuch (vgl. EG 29 oder EG 35). Der 6/8-Rhythmus erinnert an das Kinderwiegen.

„Weil Gott in tiefster Nacht erschienen …“: Immer wieder sind mir diese Worte durch den Kopf gegangen. Feiern wir gerade deshalb Weihnachten? Und warum bereiten wir uns deshalb dann Monate vorher auf dieses Fest so intensiv vor? Zu keinem anderen kirchlichen Fest bereiten sich so viele Menschen gemeinsam auf einen Abend und auf zwei Feiertage vor. Zu keinem anderen Fest gibt es so viele verbindende Traditionen; manche sind geliebt und auch gefürchtet. Da werden ganz viele Erinnerungen wach. So wie es früher war, so schön soll es auch in diesem Jahr wieder werden. Friedlich, harmonisch, festlich. Und diejenigen, die die unbefangene Weihnachtsfreude kleiner Kinder unter dem Christbaum miterleben dürfen, erzählen davon, wie aus diesen so glücklichen Vorstellungen Wirklichkeit werden kann. Sehnsucht keimt auf und bestimmt unser Denken und Hoffen. Sehnsucht nach Liebe, Sehnsucht nach Geborgenheit, Sehnsucht nach einem erfüllten Leben. Religion und Musik sind Gefühl: zu Weihnachten ganz besonders.

„Weil Gott in tiefster Nacht erschienen …“ In Finnland ist es Brauch, dass am Heiligen Abend die Familien auf die Friedhöfe gehen und dort Lichter anzünden. Gerade zu Weihnachten gehen die Gedanken zu den Angehörigen, die nun nicht mehr unter uns leben. Die vielen Lichter auf den Gräbern sind ein Zeichen der Zusammengehörigkeit. Ich erkenne darin auch ein Zeichen der Hoffnung. Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, kann auch unsere Nacht der Trauer nicht endlos sein. Wir sind nicht allein gelassen. Gott sucht unsere Nähe, er spürt uns auf. Lichter scheinen in der kalten und dunklen Winternacht. Sie scheinen, auch wenn die Trauer um die Angehörigen so groß ist und die Luft zum Atmen wegbleibt. Die Hoffnungslichter sind da, auch wenn wir sie in unserem Schmerz nicht sofort entdecken.

Gott ist in tiefster Nacht erschienen. Gott hat nicht gefragt, ob es passt, ob es jetzt passt oder lieber später. Gott ist einfach gekommen. Gekommen auf eigenes Risiko. In eine unfertige Welt. Gerade auch in eine Welt, die sehnsüchtig auf die Erfüllung aller Hoffnungen wartet, aber immer wieder mit ihrem Scheitern konfrontiert wird. Gott war sich nicht zu schade, gerade dorthin zu kommen, wo keine Herberge für ihn war. In Bethlehem ist damals so manches schiefgegangen, so schreibt es der Evangelist Lukas. Kein Platz, kein Willkommen im Ort. Auf dem Feld bei den Hirten, da erreicht die Frohe Botschaft der Engel Zuhörerinnen und Zuhörer, die sich sogleich auf den Weg machen.

Gott kommt, weil er Sehnsucht nach dem Menschen hat. Gott kommt, weil er uns Menschen unendlich liebt. Seine Nähe soll uns wärmen. Seine Kraft möchte uns stärken. Sein Licht will uns leuchten, nicht nur an dunklen Tagen und Nächten. Gott gibt seine Welt und seine Menschen nicht auf. In diesem Wissen schließt das Lied nach der fünften Strophe: „Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, kann unsre Nacht nicht endlos sein.“

Dieses Weihnachtslied macht mir Mut. Es zeigt mir, dass Weihnachten nicht nur dann Weihnachten ist, wenn ich irgendeine Idylle nachspiele. Weihnachten kann man nicht nicht feiern. Die Weihnachtsbotschaft entfaltet ihre Kraft in Zeiten der Not, der Krankheit und Entbehrung. Gott war sich nicht zu schade für unsere Welt: Er wurde Mensch durch Jesus Christus. Ohne diese Hoffnung sähe es für uns viel dunkler aus. Weil Gott in tiefster Nacht erschienen, kann unser Weihnachten fröhlich sein.

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