Liedpredigt zu "Christ lag in Todesbanden" (EG 101, Martin Luther)

Erfurt, Frühjahr 1524. Johannes Loersfeld hat die ganze Nacht fieberhaft in seiner Druckerei gearbeitet. Seit Meister Gensfleisch aus Mainz den Buchdruck mit beweglichen Lettern erfunden hat, boomt die Druckbranche. Und seit Doktor Luther in Wittenberg die ganze Welt in Aufruhr versetzt hat mit seinen Büchern und Flugschriften, reißen die Leute den Druckern ihre Ware buchstäblich aus den Händen.
Und jetzt hat Johannes Loersfeld den ganz großen Fisch an der Angel: das Erfurter Enchiridion. Ein Liederbuch mit 25 Stücken von den Liedermachern der Reformation, davon 18 von Martin Luther höchstpersönlich. Wenn das kein Bestseller wird, dann will er nicht mehr Loersfeld heißen.
Enchiridion heißt Handbuch. Dieses Buch gehört in jede Hand und in jede Manteltasche. Auf den Marktplätzen sollen die Menschen Luther-Lieder singen und am Feierabend vor ihren Häusern. Loersfeld will helfen, die Ideen der Reformation durch Gesang zu verbreiten. Und dabei nebenbei ein reicher Mann werden.
Martin Luther war ein großer Theologe, er war aber auch Pädagoge. Einer, dem es wichtig war, dass seine Gedanken bei den Menschen ankamen. Er wusste: Was gesungen wird, das prägt sich ein ins Gedächtnis und ins Herz. Und so dichtete er Programmlieder der Reformation. Manche sind bis heute populär: „Ein feste Burg ist unser Gott“ oder „Vom Himmel hoch“ zum Beispiel. Andere sind sperriger, Text und Melodie erschließen sich uns heute nur schwer. Zu diesen gehört das Lied „Christ lag in Todesbanden“.

Ein anderer, noch deutlich älterer Gesang ist bis heute der Nummer-eins-Hit unter den Osterliedern, und zwar in der evangelischen und der katholischen Kirche: Christ ist erstanden. Vielleicht haben Sie es ja beim Singen schon gemerkt: Genau dieser Gesang diente Luther als Vorlage für „Christ lag in Todesbanden“. „Christ ist erstanden gebessert“, heißt deshalb auch die Überschrift im Erfurter Enchiridion. Das klingt ein bisschen nach Besserwisserei, ist aber anders gemeint. Luther hat den Gesang aus dem 12. Jahrhundert hoch geschätzt. Jetzt will er ihn erweitern, will seine Wirkung vermehren und vertiefen. Und er will mit seiner Hilfe den gnädigen Gott verkündigen.
Die ersten fünf Töne beider Melodien sind genau gleich, dann weicht Luther ab und schafft etwas Neues auf der altvertrauten Basis. Aber auch im weiteren Verlauf zitiert er immer wieder Teile des Textes und der Melodie von „Christ ist erstanden“. Und er benutzt eine weitere, noch ältere Vorlage: einen Ostergesang aus dem 11. Jahrhundert, der noch heute in der katholischen Osterliturgie gesungen wird. Auch hier beginnt die Melodie genauso, auch hier gibt es Anklänge in Melodie und Text. Ein gregorianisches Halleluja, immer weiter ausgebaut, ist also die Wurzel unseres Osterliedes. Und das hört man dieser geheimnisvollen Melodie bis heute an.

Christ lag in Todesbanden,
für unsre Sünd gegeben,
der ist wieder erstanden
und hat uns bracht das Leben.
Des wir sollen fröhlich sein,
Gott loben und dankbar sein
und singen Halleluja.
Halleluja.

Ein altehrwürdiger, geheimnisvoller Klang. Fast ein wenig zu traurig für ein Osterlied. Das liegt an Tonart und Rhythmus. Die alte dorische Kirchentonart klingt für unsere Ohren ähnlich wie Moll. Der Rhythmus ist frei und getragen, kein tänzelnder Dreiertakt, wie wir ihn aus vielen Osterliedern kennen.
Die erste Strophe fasst das Lied zusammen wie der Vorspann eines Zeitungsartikels. Zugleich deutet sie das Ostergeschehen im Sinne von Luthers Theologie. Christus ist gestorben, um uns von der Macht der Sünde und des Todes zu befreien. An Ostern geht es nicht um ein historisches Ereignis, das viele Jahrhunderte zurückliegt. Es geht um Freiheit und Leben für uns.
In den nächsten drei Strophen entfaltet Luther seinen Blick auf die Osterereignisse, immer bezogen auf unser Sein als Menschen vor Gott. Luther geht in zwei Stufen vor. Er beschreibt die Situation der Menschen vor dem Erscheinen des Christus und er erzählt, was sich für uns Menschen geändert hat, seit er auf die Erde gekommen ist. Luther bedient sich dabei der bekannten Bilder und Vorstellungen aus Bibel und Theologie. Der Tod ist der Sünde Sold, heißt es bei Paulus. Mit anderen Worten: Weil der Mensch sich durch die Sünde von Gott entfernt hat, ist er unentrinnbar vom Todesschicksal betroffen, fühlt er sich als Gefangener im Reich des Todes.

Den Tod niemand zwingen konnt
bei allen Menschenkindern;
das macht alles unsre Sünd,
kein Unschuld war zu finden.
Davon kam der Tod so bald
und nahm über uns Gewalt,
hielt uns in seim Reich gefangen.
Halleluja.

Jesus Christus, Gottes Sohn,
an unser Statt ist kommen
und hat die Sünd abgetan,
damit dem Tod genommen
all sein Recht und sein Gewalt;
da bleibt nichts denn Tods Gestalt,
den Stachel hat er verloren.
Halleluja.

Der Mensch sieht sich dem Tode ausgeliefert. Ob täglich in der „Tagesschau“ oder im eigenen Erleben: Alles deutet darauf hin, dass wir Gefangene im Reich des Todes sind. Aber dieses Gefühl täuscht. Jesus Christus hat die Sünde und damit auch den Tod überwunden. Karfreitag und Ostern gehören zusammen. Wenn die Sünde besiegt ist, dann ist auch der Tod besiegt. Sünde und Tod sind zwar noch sichtbar, aber „da bleibt nichts denn Tods Gestalt“. Der Tod ist eine Sinnestäuschung, nur noch ein Schatten seiner selbst, keine wirklich Macht mehr. „Den Stachel hat er verloren.“ Er ist ein zahnloser Tiger geworden.

Es war ein wunderlich Krieg,
da Tod und Leben ’rungen;
das Leben behielt den Sieg,
es hat den Tod verschlungen.
Die Schrift hat verkündet das,
wie ein Tod den andern fraß,
ein Spott aus dem Tod ist worden.
Halleluja.

„Es war ein wunderlich Krieg, da Tod und Leben ’rungen“. Mit dieser Strophe kommt Action in das Osterlied. Den Menschen zu Luthers Zeit traten jetzt wahrscheinlich sofort apokalyptische Szenen vor Augen. Wer nicht die Bilder von Hieronymus Bosch sehen konnte, der kannte Passions- und Osterspiele, in denen der Kampf gegen die bösen Mächte drastisch vorgeführt wurde. Heute geht man ins Kino, wenn man sich gruseln will. Damals boten dieses Vergnügen Schauspieler auf den Marktplätzen der Städte. Die Höllenfahrt Christi gehörte zum Standardprogramm. Christus steigt hinunter in das Totenreich, begegnet dem Teufel und besiegt ihn, was mit viel Spektakel vorgeführt wurde. Am Ende müssen sich Tod und Teufel geschlagen geben und werden zum Gespött der Zuschauer - ganz ähnlich, wie wir das bis heute vom Kasperl und dem Krokodil kennen.
An solche Bilder knüpft Luther an. Auch hier baut er aber auf meisterliche Weise seine Theologie ein. Schon die Heilige Schrift hat verkündet, dass das Leben den Sieg behält und „wie ein Tod den andern fraß“. Der Tod Jesu frisst unseren Tod. Durch seinen Tod kommt das Leben für alle.

Bislang hat Luther das Ostergeschehen gedeutet. In den letzten drei Strophen wendet er sich der Feier des Osterfestes zu:

Hier ist das recht Osterlamm,
davon wir sollen leben,
das ist an des Kreuzes Stamm
in heißer Lieb gegeben.
Des Blut zeichnet unsre Tür,
das hält der Glaub dem Tod für,
der Würger kann uns nicht rühren.
Halleluja.

So feiern wir das hoh Fest
mit Herzensfreud und Wonne,
das uns der Herr scheinen lässt.
Er ist selber die Sonne,
der durch seiner Gnaden Glanz
erleucht’ unsre Herzen ganz;
der Sünden Nacht ist vergangen.
Halleluja.

Wir essen und leben wohl,
zum süßen Brot geladen;
der alte Sau’rteig nicht soll
sein bei dem Wort der Gnaden.
Christus will die Kost uns sein
und speisen die Seel allein;
der Glaub will keins andern leben.
Halleluja.

Luther greift die Tradition des Osterlammes auf und führt sie auf das jüdische Pessach zurück. Im Zweiten Buch Mose werden die Israeliten in Ägypten vom Engel des Todes verschont, wenn sie das Blut des Lammes an ihre Türpfosten streichen. Genau so, meint Luther, sollen die Christgläubigen auf das Blut Christi hinweisen, wenn der Tod an die Tür klopft. Der wird dann keine Macht über sie haben.
An Ostern besiegt das Licht der Welt die Nacht der Sünde und des Todes. Die Feiern sollen dazu dienen, sich von diesem Licht durchdringen zu lassen, die Menschen bis ins Herz hinein zu erleuchten. Luther selbst hat erlebt, wie frei die Erfahrung der Gnade Gottes machen kann. Ostern soll helfen, dass alle das erleben können.
Und schließlich weist er noch einmal auf das jüdische Pessach hin. Das Osterbrot ist süß, Sauerteig hat bei diesem Fest nichts zu suchen, wie es zu Pessach bis heute Brauch ist. Luther möchte all das überwinden, was vom Wort der Gnade ablenkt. Christus soll im Mittelpunkt stehen. Und er soll selbst uns nähren in Brot und - wir dürfen ergänzen: Wein. Das süße Osterbrot ist hier das Brot beim Abendmahl.

Die Menschen zu Luthers Zeiten lebten in Angst vor dem ewigen Tod. Das Leben zu verfehlen hieß, nach dem Tod büßen zu müssen, im schlimmsten Fall auf ewig in der Hölle zu landen. Da ist es kein Wunder, dass Luthers Botschaft von der Freiheit eines Christenmenschen begierig aufgenommen wurde. Diese Botschaft war der Stoff, aus dem man Bestseller machte.
Wenn wir heute weitgehend frei von diesen Ängsten leben, so ist das ein gutes Zeichen. Offensichtlich war Luthers Osterbotschaft erfolgreich und hat sich durchgesetzt, weit über die Grenzen der evangelischen Kirche hinaus.
Die Frage ist: Wie sehen die Ängste aus, mit denen die Menschen sich heute plagen? Und welche Botschaft hat das Osterfest heute für uns?
Zu Luthers Zeiten war das irdische Leben nur eine Episode auf dem Weg zur Ewigkeit. Das wahre Leben hoffte man nach dem Tod zu finden, wenn man sich hier angemessen vorbereitet hatte. Heute konzentrieren wir uns auf die Zeit zwischen Geburt und Tod. Die soll Sinn haben, soll erfüllt und möglichst schön sein. Angst haben wir vor dem Leid und davor, dass alles einmal zu Ende geht. Das Thema Sünde steht heute eher im Hintergrund.
Dennoch gilt die Botschaft des Osterfestes auch uns Menschen des 21. Jahrhunderts. Mit dem Osterlied von Martin Luther können wir wieder lernen, über die Grenzen unseres irdischen Lebens hinauszublicken. Wir können lernen, Erfüllung und Sinn nicht nur in den schönen und genussvollen Seiten des Lebens zu suchen. Wir können vielleicht die Erfahrung machen, dass wahres Leben manchmal nur durch das Leid hindurch zu finden ist. Wir können uns an diesem Osterfest Nahrung für Leib und Seele schenken lassen, die uns weit über die engen Grenzen unseres Lebens hinaus speisen kann. Dafür können wir Gott loben und ihm dankbar Halleluja singen.

Hinführung zum Kyrie:
Herr, du hast den Tod überwunden und willst auch uns von der Macht des Todes befreien. Uns fällt es aber oft schwer, dir zu vertrauen. Wir bitten dich: Hilf unserem Kleinglauben auf, erwecke unser Vertrauen in dich.

Kollektengebet:
Gott, du hast Jesus Christus von den Toten auferweckt. Wir bitten dich: Rette auch uns aus den Fängen des Todes, damit wir in der Nachfolge deines Sohnes das Leben finden. Durch Jesus Christus, der mit dir und dem Heiligen Geist lebt und Leben schenkt von Ewigkeit zu Ewigkeit.

Psalmvorschlag: Psalm 118,14-24
Evangelium: Markus 16,1-8
Lesung: 1. Korinther 15,1-11
Liedvorschläge: 99 (Christ ist erstanden)
101 (Christ lag in Todesbanden)
105 (Erstanden ist der heilig Christ)
112 (Auf, auf, mein Herz, mit Freuden)
117 (Der schöne Ostertag)
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