"Vom Betrachter zum Betroffenen" – Liedpredigt zu EG 1 "Macht hoch die Tür"

Manche Kirchen, oft besonders schöne, berühmte, geschichtsträchtige, werden in unseren Städten wie Museen besucht, behandelt, betrachtet. Das ist schön, doch wenn wir die Menschen dabei beobachten, die durch diese Kirchen schlendern, wenn wir selbst im Urlaub Kirchen so anschauen, spüren wir den Abstand, den unser Betrachten mit sich bringt. Wir sind in der Kirche, wir staunen über die Architektur, über die Farbe der Buntglasfenster oder über die filigranen Säulen. Wir spüren aber nicht, welche Menschen darin Gott ihr Leid geklagt haben, wer Gott gedankt hat, dass der Krieg vorbei ist, oder wer am Ausgang für die Bedürftigen seines Wohnviertels gespendet hat. Wir können uns über die Schönheit der Kirche austauschen, über die Schönheit der inneren Haltung, die diese Kirche erst so werden ließ, sind wir wortarm. Die Schönheit der inneren Haltung ist unter anderem auch die Demut, die Menschen ein Haus für Gott bauen ließ, das ganz bewusst in den Himmel ragt über die Giebel der anderen Häuser. Die Schönheit der Demut zeigt sich auch darin, dass sie den Boden mit Mosaiken ausgestaltet haben, weil es guttut, Gottes Schönheit widerzuspiegeln auf dem Boden, auf dem wir in seinem Haus gehen.

Betrachten wir etwas wie im Museum, bleiben wir in Abstand zum Betrachteten. So wie wir es ja meist tun. Wir als Subjekt schauen uns ein Objekt an. Wir können dann über das Betrachtete reden und darüber urteilen, was wir gesehen haben. Aber wir sind nicht Teil dessen, worüber wir reden, wir bleiben außen vor, wir sind innerlich nicht wirklich verbunden mit dem, was wir betrachten. Anders gesagt: Wir lieben nicht, wenn wir einen anderen Menschen nur betrachten. Im Betrachten bleibt der andere Objekt, er bleibt Gegenstand unserer Betrachtung so wie die Kirche, in der wir wie im Museum umhergehen.
Auch wenn wir einen Raum, sei es eine Sakristei, sei es ein Anbau im Gemeindehaus, sei es eine Kirche, neu bauen, wollen wir sie einweihen. Wir wollen den Geist Gottes in dieses neue Gebäude erbitten, damit wir in diesem Gebäude Gott spüren können und so vom Betrachter zum Betroffenen werden können.
Dazu hat der Königsberger Pfarrer Georg Weissel 1623 einen Liedtext gedichtet, weil die Altroßgärter Kirche damals neu errichtet wurde. Dieses Lied kennen Sie, dieses Lied mögen viele, dieses Lied steht in Gesangbüchern der verschiedenen Konfessionen. Es wird meist am 1. Advent gesungen, auch wenn die Einweihung damals am 2. Advent stattfand. Der Pfarrer und Lieddichter Weissel nimmt den Psalm 24 auf, er lässt den Schöpfer, den Heiland, den Tröster besingen. Er setzt die Kirchentür mit der Herzenstür gleich.

Mit der ersten Strophe bereits können wir vom Betrachter zum Betroffenen werden, wenn wir Heil und Leben als Geschenk empfinden können. Wenn wir uns aufmachen zu dieser inneren Haltung. Wir alle heute wissen, wie wir entstanden sind. Wenn uns dennoch das Leben, das uns möglich ist, und das Gute, das wir erleben dürfen, dankbar machen, spüren wir etwas von dieser Schönheit der Haltung. Diese Haltung verändert unsere Perspektive und uns, auch wenn wir vieles wissen. Durch die innere Haltung können wir zum Betroffenen werden, können den Kirchenraum wie uns selbst als Tor erleben, durch die Gott einzieht.
Dann können wir singen:

EG 1,1

Oft sahen wir in den Kirchen, die wir besuchen, Christus, die Apostel, die vier Evangelisten oder Heilige, manchmal als Bilder, manchmal als Statuen, manchmal in Szenen eingearbeitet. Die Geschichten und die Erfahrungen der Menschen mit ihnen und auch das Leben der Dargestellten selbst spüren wir allerdings erst, wenn wir vom Betrachter zum Betroffenen geworden sind. Wenn wir in unserem Leben zum Beispiel das Ende der Zeit als Schuldner mit Christus, den wir dort sehen, verknüpfen. Wenn wir Schulden hatten, diese loswerden konnten und das mit der Hilfe Christi verknüpfen können, dann verbinden wir einen wichtigen Teil unseres Lebens mit ihm. Das passiert nicht von selbst, das ist auch nicht zwingend für einen objektiven Betrachter. Es ist ein Geschenk, das eigene Leben mit dem Wirken Christi verbinden zu können, und es ist ein Segen, es tun zu dürfen. Dass wir das Ende unserer Zeit als Schuldner, um das wir inständig gebeten haben, um das wir uns auch mit dem Schuldnerberater bemüht haben, um dessentwillen wir diszipliniert gelebt haben, mit Christi Wirken verknüpfen, das ist eine Möglichkeit, die wir ergreifen können. Wir können unser Leben mit der Barmherzigkeit Christi verknüpfen. Wir müssen es nicht. Wenn wir es tun, werden wir vom Betrachter zum Betroffenen und wir könnten singen:

EG 1,2

Der Geist Gottes kann genauso in Häuser wie in Herzen einziehen. In ein Haus, in dem ein freundlicher Geist weht, gehen wir gerne genauso wie zu Menschen, die ein warmes Herz haben und bei denen Gott im Herzen wohnt. Nicht die Häuser selbst, nicht der Mensch als solcher ist notwendigerweise ein Anziehungspunkt für uns. Häuser, die von einem guten Geist erfüllt sind, seien es Krankenhäuser oder Urlaubspensionen, werden durch den Geist attraktiv. Menschen, die verbindlich, herzlich, zugewandt sind, sind attraktiv, egal, was für eine Frisur oder Figur sie gerade tragen. Wenn wir um einen solchen Geist bitten, wenn wir Freude von Spaß unterscheiden können, wenn wir Gott als Quelle von erfüllter Geborgenheit ansehen können, dann sind wir auf dem Weg zu dieser Haltung, die aus uns Betroffene anstelle von Betrachtern macht. Wenn wir Gott als Trost erleben können, der uns nicht von Leid fernhält, aber uns im Leid trägt, dann zieht der Geist Gottes in uns ein, und wir könnten mit Georg Weissel singen:

EG 1,3

Kirchen, Schlösser, Häuser haben Tore oder Türen. Die Tür zu einem Menschen ist sein Herz. Erreichen wir das Herz des anderen, sind wir ihm nahe und verbunden. Wen wir da hineinlassen, entscheiden wir Menschen wie alle Liebenden selbst. Gott möchte unsere Herzen erreichen, er möchte uns nahe sein, doch wir entscheiden, ob wir dies zulassen. So viel Freiheit ist uns gegeben, so viel Verantwortung tragen wir. Nun kann man Gott bitten, dass er uns bereit macht, dass er unsere Herzenshüter freundlich stimmt. Solch ein Herzenshüter kann eine schlechte Erfahrung mit Religion sein. Ein Herzenshüter kann aber auch die Überzeugung sein, dass nur das, was ich sehe, mein Herz erreichen darf. Ein Herzenshüter kann auch ein Gruppenzwang sein: Wenn die anderen ihr Herz nicht für Gott öffnen, will ich es auch nicht. Wenn Gott allerdings einzieht, dann zieht Rat, zieht Tat und zieht die Gnade ein, so hat es Georg Weissel erlebt und getextet. Heute würden wir sagen, wenn Gott in dein Herz einzieht, spürst du Verankerung und Orientierung im Leben, spürst du den Drang, etwas in seinem Sinne zu tun, spürst du das Geschenk, das dir diese Herzerfüllung bedeutet. Unser Herz erreicht auch oft gute Musik. Sie öffnet unsere Herzen, öffnet uns für neue Botschaften, für andere Sichtweisen. Musik ist ein Schlüssel, ein Öffner, der Menschen auch verbindet, und ein Wecker, der Gefühle aufweckt. Es hat eine Weile gedauert, bis zum Text die richtige Melodie gefunden war. Bis unser Lied, das wir heute mögen, auf den richtigen Wogen zu uns kam. Die heutige Melodie, die unser Herz erreicht und unsere Herzenshüter milde stimmt, stammt aus dem Jahr 1704. Vorherige Melodien konnten noch nicht diese Kraft entfalten. Diese Melodie kann es, oder wie erleben Sie es? Lasst uns weitersingen:

EG 1,4

Wenn wir Menschen uns wie eine Tür geöffnet haben,­ sind wir empfänglich für geistliche Geschenke, für Freundlichkeit, die mehr ist als eine gute Umgangsform, für eine Erfüllung, die uns auch im Alltag begleitet. Wie in Gebäude zieht Gott bei uns ein als Geist, als Christus, als Angebeteter. Die Kirche, zu deren Einweihung Georg Weissel das Lied schrieb, steht nach meinen Recherchen heute nicht mehr. Das Lied aber blieb. Der Hinweis auf die innere Einstellung, die uns beschenkt, blieb und die Melodie öffnet immer noch unsere Herzen. Im Advent können wir vom Betrachter zum Betroffenen werden. Im Advent können wir unser Herz öffnen lassen. Im Advent ist dieses Lied wie einer, der uns die Kirchentür aufhält. Wenn im Advent der Geist Gottes in unser Herz einzieht, spüren wir ihn, erleben seine Barmherzigkeit, schmecken seine Freundlichkeit. Der Graben zwischen uns und ihm ist überwunden. Er ist bei uns eingezogen, in unser Herz wie in eine neu errichtete Kirche. Dann betrifft es uns, dass wir Leben und Heil als Gottes Gabe spüren. Dann betrifft es uns, dass wir Barmherzigkeit und zu Ende gegangene Not mit ihm verbinden. Dann erleben wir ihn als Quelle von Freude, die weit über den Spaß hinausgeht. Dann können wir aus vollem Herzen singen:

EG 1,5

Gebet 1:
Gott, wir sind oft draußen im eigenen Leben, wir betrachten andere Menschen oft nur, statt uns von ihnen betreffen zu lassen, wir stehen selbst in Deinem Haus, Gott, immer wieder draußen, weil unser Herz nicht bei Dir ankommt. Wir bitten Dich, öffne uns für Dich.

Gebet 2:
Geist der Liebe, Geist Gottes, komm in unsere Kirchen, damit wir nicht über Dich reden, sondern mit Dir feiern, damit wir Dich nicht von außen betrachten, sondern in Dir leben, damit wir einander spüren, so wie wir Dich in uns spüren.

Liedvorschläge: 389 (Ein reines Herz)
370 (Warum sollt ich mich
denn grämen)
93 (Nun gehören unsre Herzen)
7 (O Heiland, reiß die Himmel auf)
BEL 666 (Wie ein Fest nach
langer Trauer)
Anzeige: Ich bin, wie Gott mich schuf von Sabine Estner und Claudia Heuermann

Pastoralblätter-Newsletter

Ja, ich möchte den kostenlosen Pastoralblätter-Newsletter abonnieren und willige in die Verwendung meiner Kontaktdaten zum Zweck des E-Mail-Marketings durch den Verlag Herder ein. Den Newsletter oder die E-Mail-Werbung kann ich jederzeit abbestellen.
Ich bin einverstanden, dass mein personenbezogenes Nutzungsverhalten in Newsletter und E-Mail-Werbung erfasst und ausgewertet wird, um die Inhalte besser auf meine Interessen auszurichten. Über einen Link in Newsletter oder E-Mail kann ich diese Funktion jederzeit ausschalten.
Weiterführende Informationen finden Sie in unseren Datenschutzhinweisen.