Sehnsucht – Liedpredigt zu EG 7

Brandenburg - die Stadt, die dem Land seinen Namen gab. Die „Stadt im Fluss“, durchzogen und umgeben von der Havel und ihren Seen. Der Dom auf seiner Insel, die „Wiege der Mark“. Die wunderschönen gotischen Kirchen St. Gotthardt und St. Katharinen. Die ehemaligen Klosterkirchen St. Pauli und St. Johannis. Das gotische Rathaus, Brücken, Park- und Wallanlagen, der Marienberg mit seinem Weinberg und einem weiten Rundum-Blick über Stadt und Land. Ich lebe und arbeite in dieser Stadt, die auf über tausend Jahre Geschichte zurückblicken kann. Inmitten der Menschen und Häuser hier fühle ich mich geborgen und wohl. Die Bundesgartenschau 2015 zog Zehntausende Besucher in die Stadt, und ich bin sicher, dass viele von ihnen wiederkommen werden, um hier ein paar Tage zu entspannen oder Urlaub zu machen.

In meinem Alltag aber wächst dennoch Sehnsucht. Obwohl ich an einem Ort lebe, an dem viele Menschen Urlaub machen, möchte ich gerade das hier nicht: Urlaub machen. In mir wird nach Monaten der „Alltagsarbeit“ das Bedürfnis immer größer, die Stadt zu verlassen. An einen Ort zu reisen, nach dem ich mich sehne. Einer der Orte meiner Sehnsucht ist Stockholm. Eine Stadt auf lauter Inseln im Meer, verbunden durch Hunderte Brücken. Unzählige Türme von Rathaus und Kirchen. Schlösser und prachtvolle Häuser blitzen in der Sonne. Und mittendrin in der Stadt Schiffe, kleine und riesige, auf Ruhe spendenden Wasserflächen, mal spiegelnd, mal rau.

Mit dem Schiff dann nach Mariefred, ein malerisches Städtchen mit weithin sichtbarem, leuchtend weißem Kirchturm. Der Blick von der Kirche über die Fläche des Wassers, in dem sich das legendäre Schloss Gripsholm spiegelt, zieht mich jedes Mal in seinen Bann. Kein Stockholm-Besuch ohne Mariefred.

Marienfrieden. Das Licht, die Farben, der Frieden dieses Ortes werden zu meinem Licht, zu meinen Farben, zu meinem Frieden. Jedes Mal, wenn ich dort bin. In solchen Momenten tanke ich Kraft für meinen Alltag. Meinen Alltag in Brandenburg, bis zum nächsten Urlaub. Alle Jahre neu an einem Ort meiner Sehnsucht. Vielleicht in einem Wald in Värmland. Oder einem See in Mecklenburg. Oder an einem Strand auf den Kanaren, gerade in der dunklen Jahreszeit.

Was der Urlaub für den Alltag ist, ist der Advent für das Leben. Die Zeit vor dem Weihnachtsfest wird alle Jahre neu zur Zeit der Sehnsucht nach dem letzten Advent Gottes. Dem Tag, an dem Jesus Christus das Leben von uns Menschen endlich zurechtbringen wird. An dem alles, was jetzt hakt und nicht stimmt, stimmen wird. An dem alle Fragen ihre Antwort gefunden haben werden.
Lasst uns einstimmen in ein Lied dieser Sehnsucht:

O Heiland, reiß die Himmel auf EG 7, die Strophen 1-3.

Vor beinahe vierhundert Jahren hat Friedrich Spee diesen Lied-Text geschrieben. Er gibt damit der Sehnsucht nach dem Heil des Lebens seine Worte. Er nutzt dafür Bilder, wie sie uns schon aus dem ersten Teil unserer Bibel bekannt sind:
„Ach dass du den Himmel zerrissest und führest herab, dass die Berge vor dir zerflössen, wie Feuer Reisig entzündet und wie Feuer Wasser sieden macht, dass dein Name kundwürde ...“, lesen wir beim Propheten Jesaja (63,19b-64,1a).
„O Heiland, reiß die Himmel auf!“
Nimm sie weg, die grauen Nebelschwaden, die uns die Sicht nehmen. Reiß sie auf, die dichten Novemberwolken, die den ohnehin schon kurzen Tagen nun auch noch das Sonnenlicht rauben. Reiß Schlösser und Riegel weg, die uns die Wege versperren, die Wege zueinander, die Wege in die Freiheit, den Weg zum Leben.
„Träufelt, ihr Himmel, von oben, und ihr Wolken, regnet Gerechtigkeit! Die Erde tue sich auf und bringe Heil, und Gerechtigkeit wachse mit auf!“ - so Jesaja (45,8).
„Ihr Wolken, brecht und regnet aus den König über Jakobs Haus!“
So, wie der Regen Leben über ausgedörrtes Land zurückbringt, sollen die Wolken den König aller Welten über die Menschen unserer Welt regnen lassen.
„Und es wird ein Reis hervorgehen aus dem Stamm Isais und ein Zweig aus seiner Wurzel Frucht bringen.“ - Jesaja (11,1).
„O Erd, herfür dies Blümlein bring, o Heiland, aus der Erden spring!“ Nicht nur aus den Wolken geregnet, sondern bodenständig gewachsen, neben und für uns. Damit wir Menschen endlich sehen, wie Gott das Leben für uns gemeint hat!

Friedrich Spee war Sohn eines adligen Amtsmannes in Kaiserswerth, heute ein Stadtteil von Düsseldorf. Im Alter von 19 Jahres entschied er sich gegen den Willen der Eltern für das Leben als katholischer Mönch und trat 1610 als Novize beim Jesuitenorden in Trier ein. Er studierte und wurde zum Priester geweiht, und war später als Seelsorger und Theologieprofessor in Paderborn, Köln und Trier tätig.
Er erlebte das Dunkel der Hexenverfolgung in Deutschland, das Tausende von Frauen das Leben gekostet hat. Ein dunkles Kapitel deutscher Kirchengeschichte. Einige gehen davon aus, dass er die zum Tod auf dem Scheiterhaufen verurteilten Frauen auf ihrem letzten Weg begleiten, sie als Seelsorger auf ihr grausames Sterben vorbereiten sollte.
Sicher ist, dass er anonym ein Buch veröffentlicht, in dem er die Methoden und den Sinn der Hexenverfolgungen kritisiert. Als Friedrich Spee schon 1635 in Trier stirbt, ist der Dreißigjährige Krieg noch voll im Gange. Spees Leben hat in grausige Abgründe des Menschseins sehen müssen.

Wohl darum sprechen ihm die Worte Jesajas, der lange vor Spee mit ansehen muss, wie sein Volk sich mehr und mehr von Gott entfernt, so aus dem Herzen. Darum ruft er mit ihm: Herr, komm, und halte selber die Menschen auf, die sich wie Wahnsinnige das Leben selbst zur Hölle machen. Und bis heute sind die Menschen dieser selbst gemachten Hölle nicht entkommen. Die Sehnsucht nach dem letzten Advent Gottes wird wohl lebendig bleiben, solange diese Welt sich dreht.

Lasst uns die Strophen 4 und 5 singen:

Die ersten drei Strophen des Liedes haben mich an Kinofilme aus Hollywood erinnert. „Reiß ab vom Himmel Tor und Tür“ - man kann sich richtig plastisch und akustisch vorstellen, wie mit großem Getöse die Himmelstür aus den Angeln gerissen wird und ein unbeschreiblich helles Licht erstrahlt. Mit festem Schritt tritt Gott heraus - unwiderstehlich, machtvoll, strahlend - der Sieg ist ihm nicht mehr zu nehmen.

In diesen beiden Strophen aber scheint Spee leiser geworden zu sein. Man spürt plötzlich, dass er weiß, dass bis zu dem großen Finale der Apokalypse noch sehr viel Zeit auf dieser Erde vergehen wird. Zeit, in der Menschen geboren werden und ihr Leben gestalten müssen. Zeit für Leben und Sterben, Frieden und Streit. Wie werden sie Gott nahe kommen können?

Man kann heraushören, dass für Friedrich Spee diese Welt nicht nur „Jammertal“ und „Finsternis“ ist, sondern auch Zeiten der Gottesnähe kennt. Momente des Trostes, Augenblicke voller Wärme und Schönheit.
„O Sonn, geh auf, ohn deinen Schein/in Finsternis wir alle sein“.
Bis zum großen Tag haben wir die Lichtstrahlen am Horizont nötiger denn je. Wir brauchen die Perspektive, dass sich in unserem Leben etwas verändern kann und verändern wird. Dass Gott etwas verändern kann und verändern wird, sodass unser Leben und Sterben in seiner Hand geborgen sein wird. Das lässt uns wie in einem Urlaub aufatmen und Kraft für den Alltag finden.

Die letzten beiden Strophen: EG 7,6.7.

Ist es Ihnen auch aufgefallen? Die beiden letzten Strophen sind sehr unterschiedlich. Die sechste Strophe führt den klagenden Ton fort und ruft noch einmal nach der letzten, großen Hilfe, die uns in das Reich Gottes führen möge. Und die siebte ist dann mit einem Male ein Lobpreis der Erlösung und des Erlösers. Sie wirkt befreit und froh.
Wer unter dem Lied die Quellenangaben liest, erkennt: Die letzte Strophe ist gar nicht von Friedrich Spee. Sie wurde neun Jahre später nach David Gregor Corner angefügt. Er war wie auch Spee durch die Schule der Jesuiten gegangen und hat sich mit der bedeutendsten katholischen Kirchenliedersammlung des 17. Jahrhunderts einen Namen gemacht.
Offenbar fehlte ihm wie vielen anderen ein klarerer, deutlich positiverer Zug im Lied. Ein Schlusspunkt, der nach aller Gottessehnsucht auch die Erfüllung sieht: gewissermaßen ein Amen unter dem, was Friedrich Spee dichtete.

Viele sagen, es wäre ehrlicher gewesen, diese Strophe wegzulassen. Friedrich Spee habe in seinem Leben eben aus dem Abgrund heraus den Advent Gottes herbeigesehnt und nicht mehr als den Silberstreif am Horizont gesehen. Für mich ist diese letzte Strophe das Aufatmen, das mir durch die Sehnsucht geschenkt ist.

Aufatmen durch Sehnsucht: Zurück in die Altstadt Stockholms. Die deutsche Kaufmannskirche. Ihr Turm ragt aus den Dächern wie der Finger Gottes, kaum ein Film über die Stadt, der ihn nicht zeigt. Zentrum der deutschen Gemeinde seit Hunderten von Jahren, Ruhepol und ein Stück Heimat in der Ferne bei jedem Gang durch die schönen, eng-kuschligen Gässchen und Straßen.

Vor einigen Jahren habe ich überlegt, mich auf die Pfarrstelle dort zu bewerben. Um mir alles vor Ort noch einmal genauer anzusehen, fuhr ich hin, redete mit dem Pfarrer dort, ging mit einem Freund durch die Straßen und Gassen der Altstadt: Ja, hier ließe es sich gut leben. Aber dann meldete sich plötzlich ein tiefer Zweifel: Was würde aus der Stadt meiner Sehnsucht werden, wenn ich in ihr meinen Alltag verbringen würde? Würde das Licht der Mittsommerzeit seine Strahlkraft behalten, wäre der Blick auf das Schloss Gripsholm immer noch eine Quelle meines Friedens? Würde meine Sehnsucht sterben?

Und ich wusste plötzlich: Sehnsucht ist nichts, worauf wir Menschen notfalls verzichten können. Kein Mangel des Lebens, im Gegenteil. Jeder braucht sein Stockholm irgendwo, damit man die Stunden ohne Licht und die Tage im schmutzigen Schnee übersteht.

Huub Oosterhuis nimmt die Lied-Worte der Sehnsucht so auf: „Reiß die Wolken auseinander und komm. Hier, jetzt, sei unser Gott - wer sonst? Niemand sonst hat uns gesucht, niemand hat unser forteilendes Herz umgewendet, unsere widerspenstige Seele angeredet als du. Niemand sonst hat gerufen wie ein Verliebter: Hier bin ich, hier bin ich. Wie ein Verlorener hast du gerufen, und unser Herz kehrte um und hörte. Wo bist du jetzt? Wo bleibt deine Leidenschaft? Bist du nicht mehr der eine von damals?“

Sehnsucht zu lehren, sie zu wecken und am Leben zu halten: wenn das gelingt, wird Leidenschaft zum Leben freigesetzt. Leidenschaft, die ein Leben entstehen lassen wird, in dem die Sehnsucht vieler zusammenfließen und groß werden wird. Ein Leben in der Sehnsucht auf die Leidenschaft Gottes.

Diese wohl größte Sehnsucht zu lehren, sie zu wecken und am Leben zu halten: Das macht die Adventszeit aus. Die Sehnsucht nach Jesus Christus macht Weihnachten erst zu einem Fest, das es von allen anderen unterscheidet. Zum Ort unserer irdischen Sehnsucht, den wir brauchen und besucht haben müssen, damit wir die Stunden ohne Licht und die Tage im schmutzigen Schnee überstehen.
Aufatmen durch Sehnsucht: Der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, wird unsere Herzen und Sinne bewahren. Durch Jesus Christus.

Tagesgebet:
Dreieiner Gott, die Quelle der Freude,
schenke uns Deinen Geist, der uns Dein Wort in all dem Gerede hören lässt! Lass Deine Freude in uns aufwachen und wachsen, dass wir in Deinem Advent leben und das Geschenk Deines Sohnes uns zum Fest wird.

Bittgebet:
Wenn es dunkel wird, sei Du, Gott, mein Licht! Wenn die Kälte mich erstarren lässt, umhülle mich mit Deiner Wärme. Wenn mir die Zeit verrinnt, birg mich in Deinen Händen! Wenn die Unruhe mich quält, lass mich Ruhe finden in Deiner Nähe! Zu Dir will ich gehen, mein Gott: Deine Gegenwart ist mein Leben! Wir warten auf Dich, besonders in dieser Zeit. Lass uns Dein Licht sehen, das unseren Weg hell macht. Lass uns die Menschen sehen, die im Dunkeln leben. Schenke uns den Funken Licht, den wir für uns und andere brauchen, damit unsere Welt heller und wärmer wird. Um dies bitten wir Dich heute, in Deinem Advent.

Psalmvorschlag: Psalm 50,1-6
Evangelium: Lukas 21,25-33
Lesung: Jesaja 63,15-16(17-19a)19b; 64,1-3;
Jakobus 5,7-8
Liedvorschläge: 11,1-3,9.10 (Wie soll ich dich
empfangen)
15,1-4 („Tröstet, tröstet“)
4,1-3 (Nun komm,
der Heiden Heiland)
16 (Die Nacht ist vorgedrungen)
9,5.6 (Ihr Armen und Elenden)
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