"Korn, das in die Erde" (EG 98) – Lieder predigen

Die alten Passionslieder sind oft von drastischer Anschaulichkeit. Die menschliche Seele, die sich heilig aufmacht, Jesus zu begleiten, und ihm an die Seite tritt, um all das mit anzusehen und mitzuerleben, wovon die Evangelien ausführlich berichten, wird nicht geschont. Da wird nichts verschwiegen, nichts verhüllt.

Die Passionszeit ist auch reich an Bildern des Grauens. Ein jugendlicher Amokläufer in Winnenden im März 2009, ein Mann, der erst seine Familie und dann sich selbst erschießt, ein Vater, dem der Prozess gemacht wird, weil er seine Tochter jahrzehntelang eingekerkert und vergewaltigt hat. So viele Passionsgeschichten überfallen uns und drängen uns ihre Schrecken auf. Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich halte diese Bilder kaum aus.

Das Lied, das wir gerade gesungen haben, spricht eine andere Sprache. Es lebt zwar wie die alten Passionschoräle von Bildern. Von großen Bildern. Aber sie malen nicht aus, sie deuten nur an. Sie springen uns nicht blutig und dornig ins Gesicht. Sie entfalten ihre Kraft auf andere Weise. Das tut mir mitten in diese Passionszeit mit ihren grausigen Bildern gut.

Korn, das in die Erde, in den Tod versinkt, Keim, der aus dem Acker in den Morgen dringt. Liebe lebt auf, die längst erstorben schien: Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün.

Da ist eine andere Gewalt am Werk, die Gewalt der Schöpfung. Als ich am Freitag vor einem langen Trauerzug her über den Friedhof ging, war ich erstaunt über das Knospen und Blühen auf den Gräbern. Ich hatte es wieder einmal verpasst wie die Kinder den Osterhasen. Dabei versuche ich ihn jedes Jahr wieder zu beobachten, diesen Moment, in dem der Frühling beginnt. Aber es gelingt nicht. Ich kriege ihn nicht zu fassen. Plötzlich ist es wieder da, das Leben, das Vogelgezwitscher, das Grün, Blüten und Blätter. Der Winter war hart und lang, aber der Frühling kommt mit Macht. Schaut nur, die Natur macht es euch vor: Liebe lebt auf, die längst erstorben schien. Und da kommen dann auch wieder die anderen Bilder von den Opfern und ihren Angehörigen. So viel Leid, so viel Elend, alle Bilder des Schreckens, sie wollen uns weismachen, dass alles abgestorben ist. Liebe lebt auf, die längst erstorben schien. Auch aus abgestorbenen Lebensbereichen kann wieder etwas sprießen. Das heißt ja nicht, es wird wieder alles wie früher. Aber das heißt, dass aus den verprügelten, mit Füßen getretenen, abgeknallten Menschen und Hoffnungen Neues entstehen kann. Menschen müssen nicht sterben an Enttäuschungen, an Verlusten, an Versäumnissen. Davon hält dieses Lied einen Keim der Hoffnung wach.

Liebe wächst wie Weizen. Meine Großmutter hat in jeder Advents- und in jeder Passionszeit in einem alten Suppenteller mit Goldrand Weizenkörner ausgestreut und sie jeden Tag geduldig begossen. Und rechtzeitig zu Weihnachten oder zu Ostern war ein Ring aus grünen Halmen um die Stumpenkerze in der Mitte gewachsen. Der wurde mit einem Band zusammengebunden und auf den Tisch gestellt. Das habe ich jetzt auch angefangen. Noch sieht es wüst und leer aus und unansehnlich. Aber ich sage es mir jeden Tag vor, wenn ich die Körner begieße: „Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün." Ein zitternder Halm erst, ein geknicktes Rohr. Er wird es nicht zerbrechen. Wenn das Weizenkorn nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt es allein, wenn es aber stirbt, bringt es viel Frucht, wird zur Nahrung für viele, wird Brot des Lebens, sein Leib, für uns gegeben zum Leben. Da klingt von ferne, aus jenem noch fernen Sommer, schon jene andere Liedstrophe zu uns herüber: „Der Weizen wächset mit Gewalt, darüber jauchzet Jung und Alt und rühmt die große Güte des, der so überfließend labt und mit so manchem Gut begabt das menschliche Gemüte." Bis es so weit ist, wollen wir uns in Geduld üben und noch einmal die erste Strophe singen:

EG 98,1

„Über Gottes Liebe brach die Welt den Stab, wälzte ihren Felsen vor der Liebe Grab. Jesus ist tot. Wie sollte er noch fliehn? Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün."

Gott selbst scheitert mit seiner Liebe. Sein Sohn Jesus stirbt unschuldig am Kreuz wie die Kinder in den Klassenzimmern der Albertville-Realschule vor drei Jahren. Wie können wir da noch singen: „Gott liebt diese Welt, und wir sind sein eigen"? Ich vergesse nicht den Satz eines Mannes, der einmal zu mir gesagt hat: „Ich glaube, manchmal mit angehaltenem Atem, dass Gott uns liebt." So ist es. Wem nicht ab und zu der Atem stockt vor dieser Liebe, der hat von Gottes Liebe nichts begriffen. Der vergisst, was in diesem Lied heißt: „Über Gottes Liebe brach die Welt den Stab." Sie wollten diese Liebe nicht. Sie haben sie nicht ertragen. Ans Kreuz geschlagen haben sie den, der Gottes Liebe in Person war. Fertig gemacht, zur Strecke gebracht. Einen Felsen vor das Grab gewälzt, ihm den Weg abgeschnitten. Aber die Kraft des Weizenkorns brachte auch diesen Stein ins Rollen. Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün.

EG 98,2

Im Gestein verloren Gottes Samenkorn, unser Herz gefangen in Gestrüpp und Dorn. Hin ging die Nacht, der dritte Tag erschien. Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün.

Nun sind wir mit dabei, hängen mit drin. Wir sind gar nicht nur Betrachter der Passion Christi, sind nie nur Zuschauer vor den Bildschirmen mit ihren Schreckensnachrichten. Wir sind tief verstrickt in diese Geschichten. Jetzt, in der letzten Strophe, finden wir uns wieder als ein Samenkorn, das ausgestreut wird wie in jenem Gleichnis vom Sämann, der ausging zu säen. Wir finden uns in verschiedenen Lebenssituationen mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen vor. Mal gibt der Ackerboden unseres Lebens mehr, mal weniger her zum Wachsen und Gedeihen, mal schießt es schnell und rasant in die Höhe, mal geht es eher in die Breite, mal halten wir uns gerade so über Wasser. Und dann gibt es auch diese Zeiten, von denen das Lied sagt: „Unser Herz gefangen in Gestrüpp und Dorn."

Da hängen wir fest, kommen nicht von der Stelle, weder vor noch zurück, und jede Bewegung schmerzt. Alle unsere Leidensgeschichten sind hier ins biblische Gleichnisbild gefasst vom Samenkorn, das irgendwo hinfällt, wo es nicht aufgehen kann, sich nicht entfalten, nicht seiner Bestimmung entgegenwachsen.

Hin ging die Nacht. Es ist die Nacht, die auf den Karfreitag folgt. In ihr sind viele Passionsgeschichten zu Hause. In ihrem Dunkel sitzen viele Menschen gefangen.

Oft habe ich schon darüber nachgedacht, warum es diese Nacht und einen ganzen Karsamstag und noch eine Nacht geben muss, bevor die ersten Menschen von der Auferstehung erfahren, warum es nicht schneller Ostern wird, warum diese drei Tage. Im Glaubensbekenntnis heißt es an dieser Stelle: Hinabgestiegen in das Reich des Todes. Das ist sozusagen die Erklärung aus göttlicher Sicht.

Christus nimmt nicht nur den Tod auf sich, er geht auch durch die Hölle, durchmisst alle denkbaren Schreckens-tiefen. Er lotet die Tiefe des Todes aus. Er geht bis in den letzten Winkel der Hölle.

Und auf der menschlichen Seite? Auf der Seite unserer Erfahrung? Da stehen diese drei Tage für all das Ausmaß menschlichen Elends, das ausgehalten sein muss, das sich nicht wegwischen lässt mit ein paar Worten, das sich nicht auf morgen vertrösten lässt. Ja, es gibt Menschen, die im Karsamstag wohnen, viele Tage und Nächte, vielleicht sogar jahrelang. Aber auch ihnen gilt: Der dritte Tag erscheint. Jesus zieht uns mit in das Licht des Ostermorgens, lässt uns teilhaben an seiner Auferstehung, oder wie dieses Lied es nicht müde wird zu sagen: Liebe wächst wie Weizen, und ihr Halm ist grün.

Eingangsgebet:
Gott, ich möchte beten.
Ich möchte heraustreten aus meinem Versteck
und hintreten vor dich.
Hol du mich heraus aus allem, was mich gefangen hält.
Lehre mich, mein Leben neu zu sehen,
nicht als grauen Alltag, sondern als kostbaren Augenblick.
Gott, ich möchte beten.
Und du trittst mir entgegen,
trittst heraus aus deinem Geheimnis.
Du kommst mir entgegen in Jesus, in seinem Wort,
in seinem Weg, in seinem Leiden, seiner Not.
Gott, ich möchte beten und spüre,
wie ganz anders du bist.
Ich suche dich in den weiten Fernen,
hinter den Dingen und jenseits der Welt.
Doch du schaust mich an
mit den Augen eines leidenden Menschen,
du sprichst mich an
mit dem Hilferuf eines Gepeinigten.
Dein Wort ist im Seufzen menschlicher Not.
Gott, ich möchte beten und weiß nicht,
was auf mich zukommt.
Nimm du mein Beten in deine Hand.
Höre uns, wenn wir rufen: Kyrie …

Fürbitten:
Gott, was wir gesungen haben, möge sich einnisten als ein Samenkorn tief in unserer Seele, dort, wo die Ängste wohnen und die Sehnsüchte und wo die Weichen gestellt werden für unsere Lebensbahn, da soll er ruhen, der Glaube an deine Auferstehung.
Da soll er aufspringen, der Glaube an deine Auferstehung wie das Samenkorn bei genügend Wärme, da soll er Wurzeln bilden und vorsichtige Triebe, die das Dunkel durchwachsen.
Gott, wenn uns die Bilder überfallen und die Ängste, wenn wir nicht mehr wissen, wie es weitergehen soll, wenn die Gewalt zu groß wird und wir verzagen wollen im Glauben an Gerechtigkeit und Frieden, dann lass es aufgehen, das Samenkorn, und die Hoffnung keimen.

Psalmvorschlag: Psalm 84
Lesung: Johannes 12,20-24
Liedvorschläge: 78,1.2.9 (Jesu Kreuz, Leiden und Pein)
98 (Korn, das in die Erde)
„Die Sach' ist dein, Herr Jesu Christ" (EG bad. 606)

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