Vom Klavierstimmer zum Komponisten

Ich las in einem der herausragenden belletristischen Bücher des Jahres 2011. In Astrid Rosenfelds Debütroman „Adams Erbe" (Zürich 2011, 385 S.) geht es um eine der ergreifendsten Liebesgeschichten, die ich je gelesen habe. Ergreifend?
Ja, Astrid Rosenfeld hat eine wunderbare Sprache, ein tiefes Gefühl. Sie geriert sich nicht, sie kokettiert nicht, sie analysiert und zerredet nicht - sie schreibt vom Leben, als ob sie die Erfahrung ihrer Urgroßmutter, ihrer Großmutter, ihrer Mutter und die eigene eines langen Lebens hätte, an das man sich anlehnen könnte, ohne Sorge, verkauft, fallengelassen oder hinters Licht geführt zu werden. Dabei ist sie nach Angaben des Verlags um die 34 Jahre alt.
Sie schreibt über eine Liebe, die es eigentlich nie gab. Die es intensiver aber dennoch nirgends gab. Sie schreibt über eine Liebe in der Zeit des Nationalsozialismus und vergisst den Streit der Historiker. Muss ihn nicht einmal kennen. Denn sie war dabei. Sie weiß, sie schlägt nicht nach, zitiert keine Quellen, wälzt keine Lexika. Sie erzählt, was Adam widerfahren ist, was Edward widerfahren ist - und Anna. Oder nicht widerfahren ist. Oder hätte widerfahren können. Oder widerfahren „sein mecht". Und sie ist im Besitz eines - ich nenne es einmal so - „Testamentes".
Ich betreibe im Editorial der PASTORALBLÄTTER keine Buchwerbung für Belletristik. (Auch wenn in manchem guten belletristischen Buch mehr Lebenserfahrung mit Gott, mehr Glaubenserfahrung mit dem Leben steckt als in wesentlich teureren Werken theologischer Verlage …)
Ich habe viele Stellen „angestrichen". Zwei über die Liebe möchte ich Ihnen in der Sommerausgabe, die ich in einer sonnendurchfluteten Passionszeit mit diesem Editorial fertigstelle, zitieren.
Adam erzählt einem Sturmbannführer, mit dem er mehr und mehr vertraut wird, über die jüdische Anna:
„Wenn sie mich ansieht, dann ist für einen Moment … Es ist, als ob ich nichts … Nein, als ob ich übergroß wäre … zu groß, um mich selbst sehen zu können. Es gibt keinen Spiegel mehr, der mich fassen könnte. Es ist, als ob ich für einen Augenblick die ganze Welt in mir tragen würde. Kontinente, Berge, Meere und Flüsse, und Millionen Vögel, die in mir zum Himmel steigen." (S. 210)
Ach, denke ich, könnten in diesen hoffentlich ebenso sonnigen Sommertagen Menschen in unseren Gottesdiensten, oder Sie, liebe Leserinnen und Leser, bei einer Bergtour, einem späteren Abend am Meer, in den Armen Ihres Mannes/Ihrer Frau, im Spiel mit Kindern, in einer tiefen Stille oder wo auch immer Sie Erholung suchen, dieses paradiesische Glück empfinden, dass „Kontinente, Berge, Meere und Flüsse, und Millionen Vögel, … in mir zum Himmel steigen".
Oder das zweite Zitat. Adam erzählt von seiner ersten der wenigen Begegnungen mit Anna:
„Auf der Straße hatte ich Mühe, mit ihr Schritt zu halten. Aber ich schob mein Fahrrad neben ihr her. Weil ihre Augen, als sie mich ansahen, etwas in mir berührt haben. Eine Berührung, die aus Schreibern Poeten und aus Klavierstimmern Komponisten machen kann. Die jedes ,weil' in eine lächerliche Phrase verwandelt." (S. 175)
Ach, habe ich gedacht, könnte uns Pfarrerinnen und Pfarrern, den Vikaren samt Prälaten, Prädikanten und Bischöfen gelingen, dass in unseren Gottesdiensten „jedes ,weil' in eine lächerliche Phrase verwandelt" wird. Oder ich sage es anders: dass jedes „aber" in eine lächerliche Phrase verwandelt wird.
Dann, so dachte ich noch, werden aus Predigtschreibern Poeten, aus Klavierstimmern Komponisten.
Und ich habe dabei den Ärger über die vielen Klavierstimmer in den eigenen Reihen verloren. Und dieser Verlust ist ein schöner Verlust. Sie mögen die Klaviatur des Evangeliums rauf und runter stimmen, abhorchen nach Ungenauigkeiten, nach Gefahren und Blendungen, - aber gäbe es die Klavierstimmer nicht, woher dann die Komponisten?
Wem also immer Sie näher sind, dem Klavierstimmer oder der Komponistin, der Schreiberin oder dem Poeten - es möge Ihnen von Herzen vergönnt sein, die befreiende Wucht des paradiesischen Glückes zu erleben, in dem Kontinente, Berge, Meere und Flüsse in Ihnen sind und Millionen Vögel in Ihnen zum Himmel steigen.
Ihnen allen solche gesegneten Sommertage! Wir brauchen solche Sonnentage wie das Licht seine Quelle. Und die uns anvertrauten Menschen brauchen authentische Erzählungen.

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