Der Jude Franz Werfel und sein Zeugnis für die Armenier"Werfel gab uns die Seele"

Mit seinem Buch "Die vierzig Tage der Musa Dagh" erwies der jüdische Schriftsteller Franz Werfel den Armeniern einen großen Dienst.

Denkmal von Franz Werfel
© Unsplash

Weihnachten 1935 stellte Franz Werfel (1890–1945) in New York sein Buch "Die vierzig Tage der Musa Dagh" vor. Die Zuhörer waren armenische Emigranten, Überlebende des ersten im 20. Jahrhundert begangenen Völkermordes und deren Nachkommen. Der armenisch-orthodoxe Priester sagte in seiner Predigt: "Wir waren eine Nation, aber Franz Werfel hat uns eine Seele gegeben." Nach Jahrhunderten langer Herrschaft über weite Weltgebiete befand sich das Großreich der Osmanen beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges im Zerfall.

Um den Nationalismus im Kernland zu entflammen, benötigte die Obrigkeit einen Sündenbock. Die Armenier, ein Volk ohne Land, die in etlichen Ländern des Nahen Ostens zerstreut und in ihrer Mehrzahl in der Türkei lebten, waren als Feindbilder am besten geeignet. Der Kollaboration mit den gegnerischen Kriegsmächten bezichtigt, wurden sie massenweise verhaftet und hingerichtet. Aus der gegen die armenische Minderheit aufgebrachten türkischen Mehrheitsbevölkerung zogen Scharen misshandelnd und mordend durch die Gegend und drangen auch in die Häuser von politisch total unbeteiligten Zivilisten. Armenische Mädchen und Frauen wurden vergewaltigt.

Da die Armenier bereits seit den Zeiten des Frühchristentums der christlichen Kirche angehörten, schürten die osmanischen Politiker auch den Religionshass. Schließlich beschlossen sie, die Türkei von den Armeniern zu "säubern". Männer, Frauen und Kinder wurden massenweise in die karge und heiße Gegenden der syrischen Wüste deportiert und in enge, unwirtliche Lager gedrängt. Dort kam die meisten unter ihnen an Durst, Hunger und Krankheiten elend um. Die Weltöffentlichkeit schwieg. Vereinzelt erhobene Proteststimmen fanden keinen Widerhall.

"Erinnere"

Als Zueignung seines Romans "Die vierzig Tage der Musa Dagh" schrieb Franz Werfel: "Dieses Werk wurde im März des Jahres 1929 bei einem Aufenthalt in Damaskus entworfen. Das Jammerbild verstümmelter und verhungerter Flüchtlingskinder, die in einer Teppichfabrik arbeiteten, gab den entscheidenden Anstoß, das unfassbare Schicksal des armenischen Volkes dem Totenreich alles Geschehenen zu entreißen." "Zahor" , "Erinnere", gehört seit biblischen Zeiten zu den Grundbegriffen des jüdischen Glaubens.

"Vergessen führt zu einem Leben in der Fremde, Erinnern ist der Anfang der Erlösung", mahnte Rabbi Israel Ben Elieser seine Jünger. Nach blutigen Pogromen, die das osteuropäische Judentum fast völlig auslöschten, begründete er im 18. Jahrhundert die Gemeinschaft der Chassidim ("chassid", hebräisch "fromm"). Er lehrte, Gott durch die guten Taten des Alltags zu loben, und erhielt den Beinamen "Baal Schem Tow", "Meister des guten (göttlichen) Namens".

Der Chassidismus blieb auf Osteuropa lokalisiert und geriet in Vergessenheit, um am Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert von einem der bekanntesten jüdischen Philosophen, Martin Buber (1878–1965), wiederentdeckt zu werden. Buber verfasste und veröffentlichte aufgrund alter chassidischer Legenden eigene Erzählungen. Der chassidische Geist einer verinnerlichten Religiosität kam auch in seiner Philosophie zur Geltung, und in diesem Sinne prägte er den Begriff "Zion der Seelen".

Diese Sicht des Judentums führte dann – besonders nach 1918 um die Schrecken des ersten industriell geführten Krieges zu verarbeiten – zu der sogenannten "jüdischen Renaissance". Eine neue Generation wollte nach den starken assimilatorischen Bestrebungen ihrer Eltern zum Judentum zurückkehren, nicht in einer orthodoxen Befolgung der 613 Gebote und Verbote, sondern in Betracht der inneren Werte des jüdischen Glaubens angepasst an die Begebenheiten der Gegenwart. Das Augenmerk war besonders auf die uralte Sendung des Volkes Israel gerichtet: "Es ist zu wenig, dass du mein Knecht bist, / nur um die Stämme Jakobs wieder aufzurichten / und die Verschonten Israels heimzuführen. Ich mache dich zum Licht der Nationen, damit mein Heil bis an das Ende der Erde reicht (Jesaja 49,6).

Im Gegensatz zu dem zeitgenössischen politischen Zionismus glaubten diese spirituell orientierten Juden an eine jüdische Wiedergeburt im deutschen Sprachraum, die gleichzeitig auch die deutsche Kultur bereichern sollte. Das Unterfangen ging durch das Aufkommen Nationalsozialismus in Brüche. Doch die Spiritualität der jüdischen Renaissance lebte in den Exilländern, wohin die deutschen Juden geflohen waren, weiter.

Notwendiger Dialog

Martin Buber gelang es auch, in britisch Palästina und nach der jüdischen Staatsgründung in Israel eine religiöse Brücke zum säkularen politischen Zionismus zu schlagen. Der in Prag geborene Franz Werfel verstand das Jude sein ebenfalls "von Innen" heraus. Die Gestalt des Propheten zur Zeit des babylonischen Exils aus seinem biblischen Roman "Jeremias" trägt Züge eines "alter Ego" des Autors. Schon in jungen Jahren schrieb er die Verse: "Prag gebar mich. Wien zog mich an sich. Wo immer ich liege / Werd ich es wissen? Ich sang Menschengeschicke und Gott."

Die tschechische Hauptstadt war zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Hort jüdischer Gelehrsamkeit in deutscher Sprache. Max Brod, Franz Kafka, Egon Kisch, um nur einige Namen zu nennen, schufen dort ihre Meisterwerke. Das Zusammenleben zwischen Juden und Christen gestaltete sich friedlich und konstruktiv. Doch die jüdische Gelehrsamkeit rief auch das Ressentiment von Neidern hervor, das sich in antisemitischen Vorurteilen äußerte.

In seinen Novellen beklagt Werfel, dass gewisse Kreise der Gesellschaft die Juden trotz deren Anpassung an die europäische Kultur und der staatsbürgerlichen Gleichstellung als "Fremdkörper" betrachten. 1912 ging Werfel nach Leipzig und arbeitete als Lektor im Kurt-Wolff-Verlag. Der Inhaber protegierte den bereits bekannten Dichter als ein gutes Aushängeschild für seinen Verlag, und der junge Mann konnte sich intensiv seiner schriftstellerischen Tätigkeit widmen.

Im Ersten Weltkrieg wurde auch Werfel einbezogen, doch die meiste Zeit verbrachte er als Pressebeauftragter hinter der Front. Aus dieser Zeit stammen seine Antikriegsgedichte. Nach Kriegsende lebte er in Wien. Im Habsburgerreich grassierte der Antisemitismus, der nur durch die positive Haltung von Kaiser Franz Joseph Juden gegenüber teilweise unterschwellig blieb und nach 1918 in der Republik Österreich immer stärker in die Öffentlichkeit trat.

Doch der Beitrag der Juden in der deutschen Kultur konnte nicht geleugnet werden. Auch Franz Werfel kam zu Ehren, und am 19. März 1937 verlieh ihm Bundeskanzler Kurt von Schuschingg das "Österreichische Verdienstkreuz für Kunst und Wissenschaft". Am 12. März 1938 zog Hitler unter dem Jubel der Einheimischen in Wien ein, und Werfel musste fliehen.

Während der Flucht die ihn durch etliche europäische Länder führte und im amerikanischen Exil hatte Franz Werfel eine treue Gefährtin an seiner Seite, seine Gattin Alma, Witwe des Komponisten Gustav Mahler. Die Katholikin notierte in ihrem Tagebuch: "Ich bin unlösbar mit den Geschicken der Juden verbunden." Die Tagebuchaufzeichnungen von Alma Mahler-Werfel (1879–1964) geben einen tiefen Einblick in das Leben und Schaffen des Dichters.

In seinem in Paris gehaltenen Vortrag "Ohne Divinität keine Humanität" sagte Werfel vor deutschen Emigranten, Juden und Christen, dass auch in einer Zeit "des absolut Bösen" "die geistige und geschichtliche Kraft, welche die Menschheit zu den Höhen von Sinai und Golgatha geführt hat" nicht erloschen sei. Schon seine frühen Schriften deuten auf die Notwendigkeit eines Dialogs zwischen Juden und Christen.

Nach der Aufführung seines Dramas "Paulus" in Wien meinten viele Theaterbesucher, in der Darstellung Völkerapostel "die Melodie des Judentums" wahrgenommen zu haben. Franz Werfel bezeichnete sich als "bewusster Jude im Denken und Fühlen" Doch das göttliche Geheimnis sah er in einer jeden Religion vorhanden.

Ende Juni 1940 gelangte das fliehende Ehepaar Werfel in den südfranzösischen Wallfahrtsort Lourdes, während die Armeen Nazideutschlands immer näher kamen. Alma notierte in ihrem Tagebuch: "Franz Werfels Rettung, meine Rettung... alles liegt in einem trüben Etwas verborgen, von dem wir nichts wissen."

Der Dichter gelobte, falls er und seine Gattin die Küste der USA unversehrt erreichen, werde er das mystische Marien-Erlebnis des Bauernmädchens Bernadette Soubirous beschreiben, und verfasste einige Monate später "Das Lied der Bernadette". Im Mai 1941 vermerkt der Autor im Vorwort des Werkes in Los Angeles: "Dieses Buch ist ein erfülltes Gelübde. (...) Ich habe es gewagt, das Lied der Bernadette zu singen, obwohl ich kein Katholik bin, sondern Jude. Den Mut zu diesem Unternehmen gab mir ein weit älteres und unbewussteres Gelübde. Schon in den Tagen, da ich meine ersten Verse schrieb, hatte ich mir zugeschworen, immer und überall durch meine Schriften zu verherrlichen das göttliche Geheimnis und die menschliche Heiligkeit – des Zeitalters ungeachtet, das sich mit Spott, Ingrimm und Gleichgültigkeit abkehrt von diesen letzten Werten unseres Lebens."

Der "Musa Dagh", der "Berg des Moses" in der südöstlichen Gebirgskette der Türkei war der Rückzugsort armenischer Widerstandskämpfer, die der türkischen Übermacht 40 Tage lang standhielten. Im März 1933 schrieb Alma Mahler-Werfel in ihr Tagebuch: "Heute Nachmittag hat Franz Werfel sein großes Buch "Die vierzig Tage der Musa Dagh" vollendet. Das ganze Haus wartete in Spannung, bis er aus seinem Studio herunterkam. Es ist eine Gigantenleistung für einen Verfolgten einer solchen Zeit, während dieser Anfeindungen ein solches Werk zu schreiben." Trotz der düsteren Zukunft die ihnen bevorstand, schließt Alma ihre Tagebuchnotiz mit den Worten: "Wir beide waren unsagbar glücklich."

Der Autor wollte ein Mahnmal setzen, doch nicht als schwarz-weiß Malerei. Es werden auch solche Türken genannt, die bereit waren, die eigene Freiheit und sogar ihr Leben zu riskieren, und sich für die Rettung ihrer armenischen Landsleute einsetzten. Das 976 Seiten umfassendes Werk verkündet der Welt die biblische Botschaft: "Wenn bei dir ein Fremder in eurem Land lebt, sollt ihr ihn nicht unterdrücken. Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst, denn ihr seit selbst Fremde in Ägypten gewesen (Levitikus 19, 33-34).

Von Monika Beck
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