Mein Jahr der Erkenntnis

Elternzeit. Babypause. Etwas ruht jetzt: die Hektik des Berufs, die Logik der Karriere. Aber eine Zeit der Ruhe ist es nicht.

Alles ändert sich

Wenn ein Kind geboren wird, ändert sich alles. Dann liegt da dieses kleine Wunder Mensch, das zappelnde, hilflose Leben, und eine große Reise beginnt. Ein Baby braucht, vor allem in den ersten Monaten, rund um die Uhr enge Betreuung. In Deutschland ist es möglich, bis zu drei Jahre Elternzeit zu nehmen. Ein Anrecht auf Bezahlung gibt es aber nur in den ersten 12 bis 14 Monaten. Genau die werden heute auch von den meisten Eltern genommen, meist von den Müttern. Man nennt das auch „Babypause“. Obwohl ich, zumindest in den ersten Monaten nach der Geburt meines Kindes, nicht so ganz si umcher war, ob das Wort „Pause“ richtig gewählt ist.
Mein eigenes Kind ist inzwischen zwei Jahre alt. Um meine Erinnerungen an diese besondere Zeit wieder aufzufrischen, habe ich mit Frauen gesprochen, die gerade im Elternjahr sind. „Und, was wirst du schreiben?“, wollte eine von mir wissen. „Die Wahrheit oder die Reklame-Version?“ Natürlich bleibe ich bei der Wahrheit. Die ist aber vielschichtig.
Das Elternjahr beginnt mit dem Ende des Mutterschutzes, der nicht um sonst auch „Wochenbett“ genannt wird. Der Körper hat sich noch nicht von den Strapazen der Geburt erholt, das Kind kommt erst langsam in der Welt an, es ist ein kuscheliges, enges Leben im Ausnahmezustand. Erst nach und nach schleicht sich ein neuer Alltag an. Und der ist eben nicht nur reklamerosa: Das Kind schreit nachts, alle bekommen zu wenig Schlaf. Inklusive der Nachbarn. Früher war man immer sauber, geschminkt, hübsch angezogen? In der ersten Phase der Elternzeit ist es ein Luxus, wenn man das Baby lange genug weglegen kann, um in Ruhe zu duschen. Die Klamotten sind, wenn man Pech hat, wirklich so oft mit Milch bespuckt, wie man es in vielen Artikeln zum Thema zu lesen bekommt. Die Wohnung, um die man sich sonst penibel gekümmert hat, verwahrlost ein bisschen. Aber nicht zu sehr, denn irgendwann bekommt man einen Rappel und putzt, wenn das Kind kurz schläft und man sich selbst vielleicht auch besser erholen sollte.

Mein kleiner, launischer Meister

Das klingt anstrengend und ist es auch. Aber damit kann auch etwas beginnen, wonach andere lange suchen oder wofür sie viel Geld ausgeben: Ein Weg, das eigene Wesen zu verändern, eine neue Perspektive zu gewinnen. Man lernt, das Leben mit anderen Augen zu sehen.
„Stirb auf deinem Kissen“, sagt man im Zen. Damit ist natürlich das Meditationskissen gemeint, auf dem das eigene Ego besiegt werden soll. Vielleicht lässt sich das auch auf das Stillkissen übertragen. Ein Baby kann ein kleiner, launischer Meister sein, der seine Schüler auch ohne Sprache unterweisen kann. Das Ego jedenfalls besiegt ein Kind sehr schnell. Wo vorher die eigenen Bedürfnisse und vielleicht noch die des Part- ners zählten, gibt man die Zügel bald aus der Hand. Es beginnt eine Zeit des Treibens. Wann will das Kind essen, wann schlafen? Man kann sich wunderbar die Zeit damit vertreiben, vor dem Kind zu liegen und zu beobachten, wie es sich bewegt. Stundenlang wartet man auf die erste Drehung, streichelt kleine Gliedmaßen.

Was einfacher wird

Es wird einfacher loszulassen. Die Erwartungen, die Ordnung, die Kontrolle. Ich will die Momente, in denen man den Tränen nah ist, sein altes Leben mindestens für eine Nacht zurück will oder sich völlig überfordert fühlt, nicht beschönigen. Die gibt es, und viele junge Mütter erzählen davon. Sie erzählen aber auch davon, dass das Leben einfacher wird, dass die kleinen Dinge plötzlich sichtbarer werden, die Tage voller Liebe sind. Wenn mein Baby auf meiner Brust eingeschlafen war, hätte draußen die Welt untergehen können: Ich lauschte nur auf die leisen Atemzüge, fühlte die Wärme, die Geborgenheit, und spürte eine tiefe Zufriedenheit. Auch wenn ich Sekunden vorher noch an all die Dinge gedacht hatte, die zu tun waren, und wie ich es schaffen könnte, diese während des Nickerchen meines Kindes zu erledigen. Einfach liegenzubleiben, war die beste Entscheidung. Es sind diese Momente, an die ich mich noch immer mit Vorliebe erinnere.

Was ich gelernt habe

Ich habe im Jahr der Elternzeit so viel über Gelassenheit gelernt wie niemals zuvor. Auch meine Freunde finden, ich sei entspannter geworden. Angesichts der großen Aufgabe, ein Kind zu erzie hen, zu lieben und zu versorgen, wurden manche Dinge einfach unwichtiger. Dass ich diese Erfahrung machen konnte, verdanke ich der Zeit, die mir gelassen wurde. Ich will nicht sagen geschenkt, denn wenn sich zwei Menschen auf das Abenteuer Familie einlassen, haben sie diese Zeit doch auch irgendwie verdient. Es muss nicht immer alles um Erwerb gehen.
Das Elternjahr ist wie ein geschützter Raum. Natürlich machen sich viele Frauen Gedanken, ob ihre Karriere die Abwesenheit vertragen wird und wie es danach für sie weitergeht. Aber insgesamt ist das Elternjahr mittlerweile doch gesellschaftlich ganz gut akzeptiert. Wann sonst bekommt man die Gelegenheit, so intensiv in eine neue Lebensphase hineinzuwachsen?

Mit anderen Augen

In meinem ersten Sommer mit Kind gab es einen Tag, an dem eine besonders wichtige Konferenz im Büro stattfinden sollte. Ich würde nicht da sein, das ärgerte mich. Und dann saß ich am Nachmittag auf dem Spielplatz in der Sonne, vergrub meine Zehen im Sand und sah meinem Baby zu, wie es Förmchen aufeinander klopfte und sich freute. Es war schön, das zu sehen und ich war froh, die Zeit dafür zu haben. Auch wenn ich früher geschworen hätte, dass mich so etwas langweilen würde: Es war ein Stück Lebensglück. Dass ich ein Jahr lang solche Erlebnisse sammeln und für mein Kind da sein konnte, habe ich als großes Privileg empfunden.
Der zeitliche Rahmen, den diese besondere Pause im Leben hat, war dafür wichtig. In der Regel wissen diejenigen, die ein Elternjahr nehmen, wann es endet und wann der andere Alltag mit Job und Kinderbetreuung losgehen wird. Das ist gut, es kann entlasten. Denn wenn ich weiß, wann der Zustand wieder endet, kann ich ihn als Abenteuer verstehen, ihn leichter annehmen und auskosten. Eine Zeit anderen Seins, der Neuentdeckung, für mich selbst und den kleinen Menschen, der in die Welt geführt werden will.  

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