Rudolf Walter im Gespräch mit Bernardin Schellenberger"Auf die Stille hören. Aber mit dem ganzen Leben!"

18 Jahre im Trappistenkloster – und zurück in die Welt: Um die „große Stille“ zu er¬fahren muss man nicht unbedingt in einem Kartäuserkloster leben. Der ehemalige Trappist Bernardin Schellenberger sagt, worum es ihm noch heute geht: intensive Wahrnehmung. Stille ist allerdings Voraussetzung dafür.

Sie haben 18 Jahre lang als Trappist gelebt, in einem der radikalsten Schweigeorden in der Tradition der Zisterzienser. Warum sind Sie damals eingetreten?

Was mich dort faszinierte war der andere Lebensentwurf: Dass man im Unterschied zur Leistungsgesellschaft ein zweckfreies Leben führte, ein Leben allein für Gott.

Sie beschreiben die Zisterzienser ein­mal als „die Gotttrunkenen“. Es gibt in der spirituellen Tradition ja die Einsicht, dass Stille und die Erfahrung Gottes zusammenhängen.

Wenn man in der Stille ist, geht einem eine Präsenz auf: „Gegen-wart“ – ein schönes Wort übrigens: Man wartet auf das einem Entgegenkommende. Im Verständnis von „warten“ steckt zudem das „Pflegen“. Die Gegenwart ist also etwas, das man wahrnimmt, schätzt und pflegt. Stille schafft Gegenwärtigkeit, und auch eine Ge-wärtigkeit. Wenn man sich etwa des Knisterns des Feuers oder Summens eines Teekessels gewärtig wird, schafft das eine intensive Wahrnehmung. Statt ständig mit dem Kopf in der Vergangenheit oder Zukunft herumzuschweifen, wird man für Augenblicke ins reine Gegenwärtig-sein versetzt, sanft aber sehr wirksam. Das ist Stille. Auch der Begriff „Wahrnehmung“ ist sprachlich interessant. Wara ist im Althochdeutschen „das Tragende“. Im englischen Wort „warranty“, aus dem bei uns durch die Lautverschiebung „Garantie“ geworden ist, steckt das noch: also das, was festen Boden unter die Füße gibt, was trägt und Substanz hat. Wahrnehmen heißt also dann: an die Substanz rühren. Das erfolgt in der Stille: Man nimmt etwas wahr, das man vor sich hat. Wenn man es intensiv wahrnimmt, ist alles andere weg und man ist „gegenwärtig“. Diese Tiefe hat etwas Geheimnisvolles, eine Präsenz, die etwas mit Gott zu tun hat, dem zuinnerst Gegenwärtigen.

Diese Wahrnehmung ist ja zu­nächst vor allem eine Offenheit, ein Ausgerichtetsein auf Anderes, da muss man noch nicht theologisch werden?

Natürlich. Aber wenn man etwas wirk­lich wahr-nimmt, wirklich aufmerksam ist, mit seinem ganzen Leben hinhört, kann man ein Geheimnis ahnen. Mit dem traditionellen Begriff „Gott“ wäre ich auch vorsichtig. Es ist eher eine Ah­nung des Unerklärbaren, Unsagbaren…

Aber ist das dann schon Erfüllung? Oder bringt es einen erst auf den Weg dorthin? Befeuert es nicht erst noch die Sehnsucht weiter?

Man spürt zumindest: Es gibt eine an­dere Dimension, eine Wirklichkeit, die gleichzeitig faszinierend und trostvoll und anziehend ist, vor der man verstummt und über die man nicht reden kann und will. Etwas, das man erst durch Schweigen – das etwas anderes ist als bloßes Nichtreden – hört und das einen selbst zum Schweigen bringt.

Stille ist dann nicht Stillstand, son­dern eine Bewegung, eine Spannung?

Sie ist jedenfalls äußerste Wachheit, Empfänglichkeit. Keine Passivität, sondern Kontaktaufnahme zu dem Tieferen, das uns trägt. Man spürt: Wenn ich darin bin, ist das etwas ganz anderes als der übliche Betrieb, die üblichen Gedanken, das übliche Sorgen. Wer in dieser Kraft, in diesem Kraftfeld ist, erfährt keinen Stillstand. Aber ein Zur-Ruhe-Kommen.

Ist das eine Erfahrung, die mit dem Wort „heilsam“ annähernd beschrieben ist?

Es ist jedenfalls das Gegenteil von Zerrissenheit und Getriebensein. „Heil“ hat ja mit Ganzsein zu tun. Das englische „whole-ganz“ weist darauf hin. „Heilsam“ und wohltuend ist es also insofern, als es mit dem Ganzen in Berührung bringt.

Aber mit wohltuend im Sinn von Wellness hat das ja wohl nichts zu tun. Das ist ja auch ganz schön mühsam. Zumindest stelle ich mir ein Trappistenleben so vor.

Das kann ich nicht bestätigen. Natürlich liegt man nicht auf der Couch, streckt die Füße von sich und wartet auf spirituelle Erleuchtung. Aber man lebt einfach in einer bestimmten Atmosphäre, die auf intensive Wahrnehmung angelegt ist. Da ist nichts Aufgeregtes. Alle Reize sind reduziert, das Tempo ist verlangsamt, die Akustik „herunter­gedimmt“, so dass das wohltuend und heilsam wirkt und zu dieser Offenheit und Wahrnehmung hinführt.

Wie schaut denn das konkret im Leben eines Trappisten aus? Da gab es ja nicht nur religiöse Übungen. Auch wenn man etwa zur Waldarbeit in Gemeinschaft unterwegs ist – geht das ja ohne große Kommunikation vor sich.

Es gab bei den Trappisten eine eigene aus dem Mittelalter stammende Zeichensprache, in der man sich kurz und knapp signalisierte, was man zu tun hatte. Wir sind damals zu sechst oder acht im Gänsemarsch zur Waldarbeit hinausmarschiert, es wurde vom Leiter kurz erklärt, was zu tun ist und dann haben wir uns schweigend daran gemacht. Es ist eine besondere Atmosphäre, wenn acht Mann in einem Waldstück in aller Ruhe vor sich hinarbeiten. Es gab keine Diskussionen, keine Kritik, keine Belehrungen, überhaupt keine akustischen Signale.

Da lebt also eine Gruppe Menschen auf Dauer zusammen, die konsequent nicht auf permanente Diskussion und Abstimmung aus ist. Man verzichtete auch auf die übliche Eitelkeit, sich verbal in Szene zu setzen und ersetzte stattdessen das übliche Schwätzen durch Leben. Und das alles ganz selbstverständlich. Wenn dreißig Menschen in einem Raum sind, ob im Speisesaal, im Schlafsaal oder im Kreuzgang, und wenn alle schweigen, ist dass eine Atmosphäre des Friedens und der Ruhe. Wirklich wohltuend!

Besteht da nicht die Gefahr, dass soziale Sonderlinge gezüchtet werden?

Natürlich ist das eine Gefahr. Und natürlich habe ich – ich war ja Novizenmeister – einige Junge erlebt, die das nicht aushielten und nach ein paar Tagen wieder abgereist sind. Aber im Prinzip möchte ich sagen: Schweigen ermöglicht eine vertiefte Kommunikation, eine intensive nonverbale Sensibilität füreinander, auch dafür, wie der andere sich gerade fühlt. Wir hatten im Noviziat auch die Einrichtung, dass man in Halbjahresabständen einige Stunden miteinander geredet hat, damit die Jungen sich eingewöhnen und aneinander gewöhnen konnten. Für mich war es damals zunächst spannend, weil ich glaubte, viel über meine Mitbrüder erfahren zu können. Aber ich habe dann fast nichts Neues erfahren über deren Charakter. Sicher, über ihr Elternhaus, über die Stadt, aus der einer stammt, oder darüber, was er studiert hatte. Das waren alles bloß äußerliche Informationen. Im engen Gemeinschaftsleben entwickelt man eine hohe Sensibilität für die Eigenart und Qualität jedes Einzelnen.

Thomas Merton hat einmal gesagt, es gebe einen Grund für das ständige Geschwätz – die Angst vor dem Tod. Schweigen sei Leben. Was meint er damit?

In der Stille, der schweigenden Wahrnehmung spürt man eine Substanz. Im Schwätzen zerredet man viel. Man kann in einer Landschaft stehen und fünf Minuten still in sich hineintrinken, was da still vor einem ist. Das sind nor­malerweise kurze, aber erfrischende, vertiefende Erfahrungen. Wenn man so lebt – und dazu noch in Gemeinschaft –, dass das eine Grundhaltung den ganzen Tag über wird, kann das ent­sprechend intensiver werden. Deshalb bevorzugten die Mönche seit jeher einfache, ruhige, manuelle Arbeiten.

Es gibt eine Zeit zu reden und eine Zeit zu schweigen. Das galt zumindest nicht für die Trappisten.

Das ist ja nicht aus der Regel, sondern aus dem alttestamentlichen Buch Pre­diger. Im Trappistenkloster gab es natürlich für Mönche die Möglichkeit, mit dem Abt, dem Prior oder, für die Novizen, mit dem Novizenmeister zu reden: Man war keineswegs zu ewigem Schweigen verurteilt.

Dann war ja auch noch die Liturgie …

Sicher. Es war ein Leben in Gesang. Wir haben, zu sieben Gebetszeiten über den ganzen Tag verteilt, insgesamt über fünf Stunden am Tag gesungen. Die Stimmen wurden mehr gepflegt als heutzutage.

Es gibt ja auch verschiedene Erfahrungen von Stille. Ein Gefängnisseelsorger sagte kürzlich: „Wenn die Gefangenen in der Gefängniskapelle meditieren, ist das eine andere Stille als die Stille in ihrer Zelle…“

Wenn man im Kloster lebt, gehört es zum Sinn dieses Daseins, dass man gemeinsam in einem Raum der Stille lebt. Wegen meiner Übersetzungsarbeit besuche ich öfter einmal den Lesesaal der Staatsbibliothek in München. Er erinnert mich an diese klösterliche Atmo­sphäre. Da sitzen 30 oder 50 Menschen still nebeneinander und sind in ihre Bücher vertieft, also einer gemeinsamen Aufgabe zugewandt. Das hilft auch, sich selbst zu konzentrieren.

Ein Buchtitel von Ihnen lautet: „Die Stille atmen“. Was hat das Atmen mit der Stille zu tun?

Stille und Atem gehören zusammen. Wer ruhig ist, atmet langsamer und regelmäßiger und tiefer. Aufgeregte atmen kurz und schnell. Umgekehrt macht der gleichmäßige Atem still. Stille atmen, heißt: Diese Qualität der Stille geht in Fleisch und Blut über.

Sie leben jetzt seit fast zwei Jahrzehnten wieder in der „Welt“. Wie und wo finden Sie da Stille?

Durch meine Arbeit als Übersetzer bin ich viele Stunden am Tag allein. Ich lebe jetzt auch in einer schönen Land­schaft, habe viel Natur. Als ich wieder in der Großstadt gelebt hatte, bin ich zum meditativen Spaziergang in die Innenstadt gegangen, in die Hauptein­kaufsmeile, und habe da einfach nur geschaut und wahrgenommen – so wie ich es im Klostergarten praktiziert habe.

Und worauf haben Sie geschaut? In die Schaufenster? In die Gesichter der Menschen. Auf den Verkehr?

Ich habe spielerisch das aufmerksa­me Achten auf bestimmte Dinge geübt, zum Beispiel beobachtet, was es alles für Hüte gibt. Faszinierend! Oder ich habe die Werbung wahrgenommen – und gesehen, wie viele religiöse Bilder und Symbole es da gibt. Einmal las ich: „Auf Ewigkeit gebaut“ – Reklame für ein Steinfliesengeschäft! Ich kann heute noch Dinge intensiv wahrnehmen, anschauen und im Anschauen zur Ruhe und zur Entspannung kommen oder mich darüber freuen. Diese Fähigkeit habe ich aus dem Kloster mitgenom­men. Da ist also viel geblieben. Natürlich muss man außerhalb des Klosters sein eigenes Leben so organisieren, dass man seinen Lebensunterhalt verdient, Termine einhält etc. Da lebt man im Kloster sorgloser. Aber ich nutze die in der Ruhe des Klosters gelernte Sen­sibilität, genieße sie und pflege sie weiter.

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