Wie wir leben wollenUnsere Sehnsucht nach Freiheit

Im Grunde seines Herzens sehnt sich jeder Mensch danach, frei zu sein – frei von der Macht der anderen Menschen, frei gegenüber deren Urteil, frei von inneren Zwängen, Ängsten und Skrupeln, frei von Abhängigkeiten. Die Sehnsucht danach bewegt die Menschen seit jeher.

Unsere Sehnsucht nach Freiheit
Wir sollen uns frei machen von den Erwartungen der anderen und auch in Situationen äußerer Unfreiheit die Freiheit unseres Geistes wahren.© gudrun - fotolia.com

Hingabe als Ziel

Manche verwechseln Freiheit mit Individualismus. Sie meinen, frei sei der, der tun kann, was er will, der sich nicht nach den anderen richtet, sondern nur auf sich selbst sieht. Eine Unterscheidung hilft, den Begriff zu klären und sich zu orientieren: Philosophie und Ethik unterscheiden eine „Freiheit von“ und eine „Freiheit zu“, also eine negative von einer positiven Bestimmung. Es ist wichtig, frei zu sein von den Erwartungen der anderen und von der Herrschaft der eigenen Bedürfnisse. Aber das Ziel der Freiheit ist etwas Positives: sich hinzugeben, sich auf einen Menschen oder auf Gott einzulassen. Diese Freiheit vermag ich nur zu leben, wenn ich zuvor frei geworden bin von der Herrschaft des eigenen Ego.

Jesus – ein freier Mensch

Die Botschaft der Freiheit geht direkt auf Jesus zurück. Jesus selbst war frei den Menschen gegenüber. Er musste sich vor ihnen nicht beweisen. Er musste sich auch den Pharisäern gegenüber nicht für sein Anderssein rechtfertigen. Er war innerlich frei. Und er war frei von äußeren Normen. Er hat die jüdischen Gesetze mit innerer Freiheit ausgelegt. Die Pharisäer, die das äußere Gesetz über das Wohl des Menschen stellten, konfrontiert er mit der Frage: „Was ist am Sabbat erlaubt: Gutes zu tun oder Böses, ein Leben zu retten oder es zu vernichten?“ (Mk 3,4) Wer sich von Normen bestimmen lässt, anstatt sich in Freiheit dem Menschen in seiner Not zuzuwenden, der zerstört letztlich Leben.

Kennzeichen der Christen

Das Wort „frei“ benutzt Jesus im Matthäusevangelium nur einmal. Aber darin wird das Wesen seiner Botschaft sichtbar. Die Juden mussten damals eine Tempelsteuer zahlen. Die Männer, die diese Steuer einzogen, kamen zu Petrus und fragten ihn: „Zahlt euer Meister die Doppeldrachme nicht?“ Petrus antwortete ihnen: „Doch!“ (Mt 17,24f) Als Petrus wieder ins Haus kam, fragte ihn Jesus: „Von wem erheben die Könige dieser Welt Zölle und Steuern? Von ihren eigenen Söhnen oder von den anderen Leuten? Als Petrus antwortete: „Von den anderen!“, sagte Jesus zu ihm: „Also sind die Söhne frei.“ (Mt 17,25f) Die Freiheit ist also das Kennzeichen des Christen, weder staatliche noch kirchliche Stellen können ihn in ein Zwangssystem sperren. Denn der Christ ist als Sohn und Tochter Gottes ein freier Mensch, er steht nur unter Gottes Gebot. Und Gottes Gebot ist der Weg der Freiheit. Wo Gott herrscht, da findet der Mensch zu seiner Freiheit, da wird der Mensch erst zum Menschen.

Falsche Versprechen

Die Kirche hat diese Botschaft Jesu nicht immer ins Zentrum ihrer Lehre gestellt. Sie hat sich vielmehr an die weltlichen Herrscher gehalten und den Christen vor allem Gehorsam verkündet. Doch das Zentrum der christlichen Botschaft ist: Wir sind freie Söhne und Töchter Gottes. Wir gehören keinem Menschen. Wir sind nicht dazu da, die Erwartungen der anderen zu erfüllen und uns von ihnen beherrschen zu lassen. Wir lassen uns ein auf den Staat mit seinen Gesetzen. Aber wir lassen uns nicht versklaven. Heute propagieren alle Politiker die Freiheit der Bürger. Doch der Bürger wird immer mehr zum gläsernen Bürger. Der Staat widerspricht seiner eigenen Botschaft von der Freiheit seiner Bürger, indem er alles von ihnen und über sie wissen will.

Die eigene Wahrheit entdecken

Im Johannesevangelium wird ein anderer Aspekt der Freiheit sichtbar. Jesus sagt: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Joh 8,32) Viele Menschen fühlen sich nicht frei, weil sie ihre eigene Wahrheit verdrängen. Eine Frau konnte die Stille nicht aushalten. Sie meinte, in der Stille gerate sie in Panik. Sie hatte offensichtlich Angst, dass in der Stille ihre eigene Wahrheit ans Licht kommen könnte. Und die könnte für sie schmerzlich sein. Sie würde einsehen, dass sie an ihrer Wahrheit vorbeigelebt hat, dass sie noch nie richtig gelebt hat. Wenn ich meiner eigenen Wahrheit ausweiche, dann werde ich von meiner Unruhe getrieben. Ich werde beherrscht von der Angst, die anderen könnten meine Wahrheit entdecken. Nur wenn ich vertraue, dass ich mit meiner ganzen Wahrheit von Gott angenommen bin, werde ich frei von dieser Angst. Die Freiheit hat hier zugleich mit Liebe zu tun. Wenn ich mich ganz und gar von Gott angenommen und geliebt fühle, dann bin ich frei, meine ganze Wahrheit zu zeigen. Ich brauche vor Gott nichts zu verbergen. Diese Erfahrung kennen wir auch in der zwischenmenschlichen Liebe. Wenn ich mich vom Ehepartner ganz und gar geliebt fühle, bin ich frei, alles zu zeigen. Ich brauche nichts mehr zu verbergen.

Zur Liebe befreit

Die Freiheit war vor allem ein Lebensgefühl der Griechen. Die griechischen Kirchenväter haben dieses Lebensgefühl in die christliche Theologie hineingebracht. Und sie sind darin auch den stoischen Philosophen gefolgt, die das anfangs eher politische Freiheitsgefühl der Griechen auf eine persönliche Ebene gehoben haben. Die Kirchenväter haben sich vor allem von Epiktet beeinflussen lassen, einem ehemaligen Sklaven, der etwa in den Jahren 50 bis 130 nach Christus gelebt hat. Er hat von der inneren Freiheit geschrieben, die ihm auch der nicht nehmen kann, der ihn schlecht behandelt. Ihm geht es vor allem um die Frage, wie der Mensch seine Freiheit gewinnen kann. Denn für ihn ist Freiheit Leben. Die Freiheit hängt vom Willen des Menschen ab. So sagt Epiktet: „Wenn du willst, bist du frei. Wenn du willst, brauchst du mit nichts unzufrieden sein, nichts anklagen, alles wird nach Wunsch gehen, nach deinem und zugleich dem des Gottes.“ Die Freiheit hängt vom richtigen Wissen ab. Wir sollen unterscheiden zwischen dem, was in unserer Macht steht, und dem, was nicht in unserer Macht steht. Wir sollen nur das ergreifen, was in unserer Macht steht. Das andere sollen wir loslassen. Dann sind wir wahrhaft frei. Diese Freiheit finden wir dann, wenn wir die äußeren Dinge daran hindern, den geheiligten Bezirk des wahren Ich zu betreten. Alles, was auf uns zukommt, sollen mit der Frage prüfen: „Ti pros eme? Was hat das mit mir zu tun?“ Dann werden wir erkennen, dass uns nicht die Ereignisse verwirren, sondern nur die Vorstellungen, die wir uns von ihnen machen. Wir werden frei von Illusionen und entdecken in uns den inneren Raum der Freiheit, in dem Gott in uns wohnt. Die Kirchenväter haben diese Botschaft mit dem Wort Jesu in Verbindung gebracht: „Das Reich Gottes ist in euch.“ (Lk 17,21) Dort, wo Gott in uns herrscht, sind wir wahrhaft frei. Da werden wir weder von anderen noch von unseren Bedürfnissen oder Leidenschaften beherrscht. Das befreit uns auch, uns in der Liebe hinzugeben.

„Ich bin so frei“

Frei zu sein und in Freiheit zu leben, das entspricht unserer tiefsten Sehnsucht. Jesus will uns ermutigen, uns frei zu machen von den Erwartungen der anderen und auch in Situationen äußerer Unfreiheit immer die Freiheit unseres Geistes zu wahren. „Die Gedanken sind frei“, haben die Studenten in ihrem berühmten Lied gesungen. „Ich bin so frei“, sagen wir manchmal, wenn wir uns trauen, den ersten Schritt zu machen oder wenn wir etwas Angebotenes annehmen. Ich wünsche uns allen, dass diese Höflichkeitsformel zu einer inneren Haltung wird: Ich bin so frei, zu denken und zu sprechen und zu handeln, wie es meinem innersten Wesen entspringt. Ich bin so frei, weil Christus mich zur Freiheit befreit hat.  

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