Lichthaus der HoffnungVon der Nekropole zur Wohnstatt Gottes

Auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin hat der Künstler James Turrell eine Kapelle gestaltet, die einen österlichen Kontrapunkt zum Totengedenken an den Gräbern setzt.

Die von James Turrell gestaltete Kapelle auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin
© privat

Bei einbrechender Dämmerung betreten wir – der Berliner Künstlerseelsorger Georg Maria Roers SJ und ich – durch ein Tor den Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin. Wir sehen die Gräber unter einer Decke von Schnee liegen. Nur wenige Besucher sind da, um die Ruhe des Ortes zu erfahren und die alten Gräber zu besichtigen. Der Friedhof, der 1762 von Friedrich II. gegründet wurde, ist ein Gegen-Ort in der pulsierenden Metropole. Die Gegenwart wird relativiert, ihre Imperative werden für einen Augenblick ausgesetzt. Wer den Friedhof betritt, vernimmt die leise Lektion: Es gab eine Zeit vor uns – und es wird wohl auch eine Zeit nach uns geben. Am Ort des Gedenkens wird klar: Unser Leben hat eine Frist. Unwillkürlich schießt mir ein Satz wieder in den Sinn, den der 1937 geborene Schriftsteller Hartmut Lange tags zuvor in einem Gespräch geäußert hat: "Wenn es keinen Gott gibt, sind wir alle verloren."

Der Berliner Künstlerseelsorger geht mit mir durch die Grabreihen. Er weist mich auf die Formenvielfalt der Gräber hin – Stelen, Obelisken, Mausoleen finden sich hier ebenso wie Wandgräber und Gedenkplatten. Auch zeigt er mir die besonderen Gräber. Führende Köpfe des deutschen Idealismus wie Johann Gottlieb Fichte und Georg Friedrich Wilhelm Hegel liegen auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof ebenso bestattet wie bedeutende Politiker, Unternehmer und Mäzene, aber auch Künstler, Architekten und Literaten wie Bertolt Brecht, Anna Seghers, Johannes Becher, Christa Wolf, Heiner Müller und Wolfgang Hilbig.

Grab von Gerhard und Christa Wolf in Berlin

Das Grab von Gerhard und Christa Wolf in Berlin. Foto: Jan-Heiner Tück

Im Inneren: Purismus pur

Nachdenklich durchstreifen wir die Wege zwischen den Gräbern und nähern uns der neu gestalteten Trauerkapelle, die wider Erwarten geöffnet ist. Eine augenfällige Lichtinstallation illuminiert das Innere des Sakralraums. Wir treten näher. Einige Leute sind in der Kapelle, gleich wird ein Vortrag über die Geschichte des Dorotheenstädtischen Friedhofs und die Neugestaltung der Kapelle durch den US-amerikanischen Lichtkünstler James Turrell beginnen. Eine ältere Dame vor dem Portal lädt uns ein, die Trauerhalle doch auch von innen anzusehen. Das tun wir.

Die Innengestaltung folgt einem ikonoklastischen Impuls. Nichts, was den Blick ablenken könnte. Purismus pur. Keine Bilder und Statuen, die an den Chor der Heiligen oder die Gottesmutter erinnern, keine Kerzen und Blumen, die den Raum ausschmücken. Auch die Apsis ist leer, kein Kreuz, kein Christus – der Blick geht ins Weite. Die Schlichtheit wirkt. Die kahlen Wände erinnern daran, dass der Mensch alles abstreifen muss, um dem Heiligen zu begegnen. Er muss leer werden, die Bilderfluten hinter sich lassen, sich sammeln. Erst dann lässt sich die bildlose Fülle des Mysteriums erahnen.

Nur in den Altar in der Mitte ist – bei genauem Hinsehen erkennbar – ein Kreuz eingelassen, das diskret anzeigt, dass es sich um einen christlichen Sakralraum handelt. Das bildlose Mysterium hat sich selbst ein Bild gegeben. Der Kolosserbrief spricht von Christus als der "Ikone des unsichtbaren Gottes" (Kol 1,15). Neben dem Altar, an dem des Leidens und Sterbens Jesu Christi gedacht wird, gibt es den Ambo, von dem aus das Wort der Heiligen Schrift verlesen und ausgelegt wird.

Die Nekropole, die Wohnstatt der Toten, hat eine Zukunft vor sich, sie kann Gottesstadt werden, die vom lichtvollen Gottesglanz durchflutet wird.

Das Besondere an der Kapelle des Dorotheenstädtischen Friedhofs ist die raffinierte Lichtgestaltung. Normalerweise ist es das Tageslicht, das von außen in Sakralräume einstrahlt und die Bildmotive auf den Kirchenfenstern sichtbar macht. In der Kapelle von James Turrell ergibt sich ein umgekehrter Effekt: Das Licht leuchtet durch das mattierte Glas von innen in die Umgebung außen. Das gestalterische Konzept der leuchtenden ‚Bildlosigkeit‘ tritt dadurch wie eine Botschaft in den Außenraum – vor allem bei Einbruch der Dunkelheit. Die Architekten Nina Nedelykov und Pedro Moreira, die mit der baulichen Umgestaltung der Kapelle befasst waren, unterstreichen diesen Effekt dadurch, dass sie die früher auf Kopfhöhe ansetzenden Fenster bis zum Boden herunterziehen und die einst klassizistisch anmutende Gebäudehülle mit diesem modernen Stilelement durchbrechen.

Im Innenraum aber verwandeln großflächige LEDs an den Seitenwänden die Kapelle in eine Lichtskulptur. Die angestrahlte Flachkuppel zieht den Blick nach oben, als würde die Gravitation der Erde durch die Schwerelosigkeit des Glanzes aufgehoben. "Ziw, jenes Licht" (Paul Celan). Entmaterialisierung durch Illumination, so scheint es zumindest. Die allmähliche, kaum merkliche Veränderung der Farben des Lichts fällt erst nach und nach auf. Gleitend wird die Halle zunächst in Weiß, dann in Blau und Rot und schließlich in Gelb getaucht.

Der Dorotheenstädtische Friedhof erinnert an die, die uns vorangegangen sind. Bekannte und Unbekannte, Glückliche und Gescheiterte, Namen, die in das kollektive Gedächtnis eingegangen oder längst vergessen sind. Die Schatten des Todes, die Trauer um die Toten, die Melancholie über das, was fehlt, haben hier einen Ort. Aber diese Stimmungslagen sollen uns nicht gefangen nehmen. Die Nekropole, die Wohnstatt der Toten, hat eine Zukunft vor sich, sie kann Gottesstadt werden, die vom lichtvollen Gottesglanz durchflutet wird. Das ist die kühne Verheißung der Bibel. "Auch die Finsternis ist für dich nicht finster", preist schon der Psalter den HERRN.

Altar in der von James Turrell gestalteten Kapelle auf dem Dorotheenstädtischen Friedhof in Berlin

Der Altar in der von James Turrell gestalteten Kapelle. Foto: privat

Im Raum der Hoffnung

Die Lichtinstallation von James Turrell – setzt sie nicht einen österlichen Kontrapunkt zum Totengedenken an den Gräbern? Die Trauerhalle ist keine Trauerhalle, sie wird zu einem Lichthaus und damit zu einem Raum der Hoffnung.

Beim Verlassen der Kapelle sehe ich einen Ständer mit einem Set von Karten, welche die Kapelle von Turrell in unterschiedlichen Farben zeigen. Jede Karte wird mit einem Zitat aus der Heiligen Schrift kombiniert: "Sende dein Licht und deine Wahrheit" (Ps 43,3) – "Der Herr ist mein Licht und mein Heil" (Ps 27,1) – "Das Licht scheint in der Finsternis" (Joh 1,5) – "Ich bin das Licht der Welt" (Joh 8,12) – "Die Finsternis vergeht und das wahre Licht scheint jetzt" (1 Joh 2,8) – "Dein Wort ist meines Fußes Leuchte und ein Licht auf meinem Wege" (Ps 119,105).

Wie ein ferner, leicht gebrochener Nachhall auf diese Collage biblischer Licht-Zitate blitzt in meinem Gedächtnis der letzte Aphorismus aus Adornos Minima Moralia auf: "Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Erlösung her auf die Welt scheint. Alles andere erschöpft sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik."

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