"Weh denen, die Dich verschweigen"Martin Walser über den Gott, der fehlt

2012 hat der Schriftsteller Martin Walser in einem viel beachteten Essay über Rechtfertigung geschrieben und darin festgehalten: "Gott fehlt. Mir." Er brachte damit jenes Hin- und herschwanken zwischen Glaubenwollen, aber Nichtglaubenkönnen ins Wort, das viele Menschen heute umtreibt.

Martin Walser | Foto: Elke Wetzig, CC BY-SA 3.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0>
© Elke Wetzig, CC BY-SA 3.0 , via Wikimedia Commons

I.

Der Schriftsteller Martin Walser (1927–2023) hat einen Phantomschmerz artikuliert, den viele kennen, aber nur wenige aussprechen: Es fehlt etwas, wenn die Rede von Gott wegbricht oder gesellschaftlich tabuisiert wird. In seinem Essay Rechtfertigung, eine Versuchung (2012) hat Walser die alte Frage nach der Rechtfertigung des Menschen neu aufgeworfen, er hat sie aus dem Ghetto des kirchlichen Binnendiskurses herausgeholt und mit existentieller Nachdenklichkeit in eine breitere Öffentlichkeit hineingetragen. Was rechtfertigt unsere Existenz? Was macht unsere Identität aus? Arbeit? Erfolg? Leistung? Geld? Attraktivität? Anerkennung durch andere? Und: Was müssen wir tun, um angesehen zu sein und uns gerechtfertigt zu fühlen? Andere heruntermachen, um selbst besser dazustehen? Auf unser Recht pochen auch dann, wenn wir im Unrecht sind?

Das "Reizklima des Rechthabenmüssens" hat Walser in seinen Büchern oft und virtuos beschrieben. Der soziale Mechanismus, sich selbst auf Kosten anderer groß zu machen, ist hässlich, und der Glaube könnte auch deshalb schön sein, weil er eine andere Geschichte erzählt, die vom Rechtfertigungsdruck befreit. Diese Geschichte handelt von der Gnade, sein zu dürfen, wie man ist – trotz allem angenommen zu sein, ohne dafür etwas leisten zu müssen. Die Geschichte von dieser Gnade (gr. charis) wäre eine Geschichte der Freude (gr. chara). Aber wo sind die, die diese Geschichte heute glaubwürdig erzählen? Und können wir dieser Geschichte heute noch glauben?

II.

Stellt euch vor, so scheint Walser seinen un- und halbgläubigen Zeitgenossen (und sich selbst) zugerufen zu haben, stellt euch vor, es gäbe einen Gott, der uns ansieht und gerade dadurch gibt, was wir uns selbst nicht geben können: Ansehen und Würde! Gratis und umsonst! Das wäre eine unglaubliche Geschichte, die aus der gnadenlosen Spirale des Rechthabenmüssens herausführen könnte. "Glauben – eine Verschönerung der Welt." In seinem Roman Muttersohn deutet Walser an, dass der Glaube nicht gemacht, nicht einfach gewollt werden kann, sondern selbst ein Geschenk ist. Ohne zuvorkommende Zuwendung Anderer kein Glaube: "Wenn niemand an dich glaubt, kannst du an niemanden glauben. Glauben kann nur, wer er-lebt hat, dass an ihn geglaubt wird. Das kann nicht gewollt werden. Und was ist das denn: Jemand glaubt an dich? Das sagt dir: Du darfst sein, wie du bist. Immer." (168)

Kann man sagen, dass es für jemanden, der wenig Zuwendung erfahren hat, schwerer ist, zum Glauben zu kommen? Vielleicht. In jedem Fall ist das Hin- und Herschwanken zwischen Glaubenwollen, aber Nichtglaubenkönnen auch von Stimmen in der Philosophie der Gegenwart beschrieben worden. Anders als vollmundige Salon-Atheisten, die den Tod Gottes proklamieren, ohne eine Ahnung davon zu haben, was fehlt, wenn Gott fehlt, geht Walser dieser Ahnung nach.

III.

Dabei hat er eine Schwäche für Karl Barth, der sprachgewaltig die Alterität und Unbegreiflichkeit Gottes beschworen hat. Der Einbruch des Ewigen in die Zeit hinterlasse "Einschlagstrichter und Hohlräume", ja "ausgebrannte Krater", heißt es im Römerbrief (21922, 6 u. 32). Der expressionistische Sprachstil des frühen Barth hat den Schriftsteller Walser ganz offensichtlich beeindruckt. Er selbst deutet an, dass der Schmerz über die Abwesenheit Gottes – gut dialektisch – ein Modus seiner Anwesenheit sein könnte:

"Verlassen zu sein, ist ein Schuh, der auch drückt, wenn man ihn nicht anhat. Die Höhle in jedem von uns, in der das Dunkel Platz hat, das zu uns gehört, dürfen wir Gott nennen. Und sie ist leer, diese Höhle. Leute, denen die Leere fremd ist, sind mir fremd. Lasst die Leere zu. In ihr ist Gott daheim."

Wenn aber die Leere des Menschen zum Ort einer möglichen Gegenwart Gottes wird, könnte es dann nicht auch eine Instanz geben, die die fundamentale Anerkennungsbedürftigkeit des Menschen stillt? Könnte! Denn ob es eine Anerkennung des fehlbaren Menschen durch Gott tatsächlich gibt, wie der christliche Glaube behauptet, ist für Walser, den Suchenden, ungewiss. Er bezeichnet Gott als Leerstelle, die er sich weigert, durch Ersatzgrößen aufzufüllen. In seinem Roman Muttersohn heißt es im Blick auf Gott: "Weh denen, die Dich verschweigen." (122)

 

Buchtipp: Was fehlt, wenn Gott fehlt? Martin Walser über Rechtfertigung - theologische Erwiderungen. Von Jan-Heiner Tück (Herausgeber). Verlag Herder. 1. Auflage 2016

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