Guardini spricht

Romano Guardini (1885–1968) ist alles andere als vergessen. Eine Vorliebe für seine Schriften verbindet nicht nur den gegenwärtigen Papst mit seinem Vorgänger; sie geht auch über theologische Fachkreise hinaus. Dass ein katholischer Autor der Zwischenkriegsgeneration heute noch gelesen wird, ist dabei eine bemerkenswerte Ausnahme. Während die im engeren Sinne systematischen Theologen dieser Zeit heute kaum noch bekannt sind (erst die folgende Theologengeneration konnte im Umfeld des Zweiten Vatikanischen Konzils theologische Pionierarbeit leisten), sind andere wichtige «Grenzgänger» der Weimarer Jahre (wie Erich Przywara, Alois Dempf oder Odo Casel) zwar im Gedächtnis geblieben. Ihre Schriften kennen jedoch meist nur Spezialisten.

Warum aber finden Guardnis Werke weiterhin Leser? Der nun erschienene Band «1945. Worte zur Neuorientierung» mit Texten Guardinis aus der frühen Nachkriegszeit (herausgegeben von Alfons Knoll unter Mitarbeit von Max A. Oberdorfer) ist nicht nur Ausdruck eines verlegerischen Optimismus. Guardini spricht an, damals wie heute – als Meister des Wortes, als geistiger und geistlicher Begleiter, als sensibler Kulturhermeneut und Zeitbeobachter, als Glaubenszeuge und Prediger. Viele seiner Texte – auch in diesem Band – gehen auf Vorträge für das gebildete Publikum zurück, ein Genre, das er zur Vollendung geführt hat und das seinem Bemühen um Aktualität und Lebensrelevanz entsprach. Dass diese zwangsläufig zeitgebundene Form der bleibenden Bedeutung seiner Texte keinen Abbruch getan hat, beruht zum einen auf Guardinis Gabe, anlassbezogen Grundsätzliches zu sagen. Zum anderen sind es die Anlässe selbst, die Zeitlagen, auf die Guardini das zweifelhafte Glück hatte sich beziehen zu können, die von grundsätzlicher Bedeutung waren und rückblickend als Zeitenwenden offenbar geworden sind.

Die Texte, die der vorgelegte Band umfasst, bilden Guardinis erste Schritte zurück in die Öffentlichkeit. Die letzten Kriegsjahre hatte er im Pfarrhaus eines Freundes im allgäuischen Mooshausen verbracht. Von hier brach er im Sommer und Herbst 1945 zu seinen ersten Vorträgen nach Memmingen, Ulm und Stuttgart auf. Die Manuskripte dieser Vorträge macht der Band nun erstmals zugänglich. Darunter befinden sich drei unter dem Titel «Memminger Triduum» zusammengefasste kurze Beiträge («Recht und Unrecht», «Die Wahrheit», «Die Vorsehung») und ein Vortrag mit dem Titel «Wahrheit und Lüge». Man erkennt bereits an den Titeln, welchen Weg Guardini hier einschlägt, wenn er sich an eine von den Wirren des Krieges aufgewühlte und erschöpfte Zuhörerschaft wendet. Es sind schnörkellose Worte über grundlegende ethische Zusammenhänge, sozusagen eine «Erstversorgung» in ethisch-moralischer Urteilsbildung, die ohne theoretischen Ballast und Anleihen an Bildungsgut auskommt. Der christliche Glaube wird in den Vorträgen nur gestreift. Guardini spricht vor allem als Lehrer und Bildner des Gewissens. Auch die Zeitumstände kommen nur sehr zaghaft zur Sprache. Über den zurückliegenden Jahren liegt eine Sprachlosigkeit, die erst langsam aufgebrochen werden muss. Guardini tut dies nur punktuell, etwa indem er auf die Diskreditierung des Gewissens durch den biologistischen Vitalismus der NS-Propaganda hinweist (vgl. 39).

Ausführlicher sind Guardinis Bemerkungen in anderen Texten. Hervorzuheben ist der bisher ebenfalls unveröffentlichte Beitrag «Unsere Verantwortung für die Sprache», der auf einen Vortrag vor Schulräten der französischen Besatzungszone in Tübingen zurückgeht. Guardini zeigt hier, dass seine sprachliche Sensibilität keine weltfremde Bildungshuberei war, sondern ihn in die Lage versetzte, das Inhumane, Erbarmungslose und Rohe der nationalsozialistischen Ideologie zu erkennen. An vielen Beispielen entschlüsselt er den verderblichen Einfluss, der von den nationalsozialistischen Begriffsprägungen und -verdrehungen ausgeht. Hans Maier, der dem Band ein pointiertes Geleitwort vorangestellt hat, erinnert in diesem Zusammenhang an das von Dolf Sternberger und anderen vorgelegte Buch «Aus dem Wörterbuch eines Unmenschen».

Das Herzstück des Bandes ist jedoch ein Text, der zu den bekannteren Guardinis zählt und auch in systematischer Hinsicht am meisten Beachtung verdient. Auch er wurde teilweise 1945 in Vorträgen erprobt. Erst in der Aufsatzfassung hat er den Titel «Der Heilbringer in Mythos, Offenbarung und Politik» erhalten. In den Vortragstiteln («Christus und der Mythos» u.ä.) klingt das in einer Vorform des Textes («Der Heiland», 1935) vorherrschende religionsphänomenologische Anliegen noch an. Auch in der Endgestalt gilt der Text zu einem großen Teil einer Verhältnisbestimmung des Christlichen zur Welt des Mythos einschließlich ihres archetypischen Heilbringers.

Dahinter scheint die grundsätzlichere theologische Verhältnisbestimmung von Natur und Gnade auf. Guardini gibt ihr eine dialektische Wendung. So sind die im mythischen Weltbild möglichen Erfahrungen des Numinosen einschließlich ihrer Verkörperung in den Gestalten eines Heilbringers zunächst «Aneignungsgrundlage» des christlichen Erlösungsglaubens (106): «[S]olange der an sie Glaubende im Advent steht, ahnt er in ihnen die echte Erlösung.» (105) Als solche können die mythologischen Heilbringer sogar in den christlichen Bilderkosmos eingefügt werden und die «überweltliche Bedeutungsfülle» Christi «innerweltlich» repräsentieren. Doch Christus ist nicht nur die Erfüllung von Heilssehnsüchten, er durchbricht auch mythologische Heilsvorstellungen: «Wer ist also Christus? Jener, der gerade von dem erlöst, was sich in den Heilbringern ausdrückt. [...] Er durchbricht die verzaubernde, scheinbar von allem Daseinssinn gesättigte, in Wahrheit alle personale Würde auflösende Eintönigkeit der Natur.» (101) Die Durchbrechung des mythologischen Weltbildes durch die Christusoffenbarung steht also für Guardini letztlich im Dienst der personalen Würde des Individuums, das gegen ein «Sich-Hineingeben in den Rhythmus der Natur», wie es dem Mythos eigen sei, nur protestieren könne: «Keine Romantik des Alls, keine Mystik der Erde und des Blutes vermag diese Stimme zu widerlegen.» (101)

Diese kritische Beziehung der Christusoffenbarung zum Mythos steht in der Zeit nach dem Erscheinen Christi im Vordergrund. Der Glaube an einen mythologischen Heilbringer stellt nun einen Rückfall da, der sich «in innerweltlichen Lösungen einschließt»: «[D]ann werden die Heilbringer zu Verneinungen Christi. Dann treten sie in einen neuen, furchtbaren Advent: sie werden zu Vorentwürfen des Antichrists.» (105) Sind die mythologischen Figuren des Heilbringers durch ihre christliche Integration gewissermaßen eingehegt worden, werden sie durch einen Abfall von Christus wieder entfesselt, insbesondere dann, wenn sich eine ganze Gesellschaft von Christus entfernt.

Hier schließen Guardinis Überlegungen über den politischen Heilbringer an. Dabei geht er keineswegs anachronistisch davon aus, dass Hitler, der «Heilbringer der Zwölf Jahre», von seinen Anhängern tatsächlich als mythologische Figur – wie die antiken Gottkaiser – verstanden wurde. Das Welt- und Lebensgefühl des Mythos ist im technischen Zeitalter unwiederbringlich verloren. In der menschlichen Psyche macht Guardini jedoch einen nicht zu tilgenden Hang aus, «geeigneten Erscheinungen des individuellen und kollektiven Lebens einen mythischen Hintergrund zu geben.» (108) Dieser psychologische Hang zur Mythologisierung, der besonders im Politischen wirksam ist, hat sich Guardini zufolge auch während der nationalsozialistischen Herrschaft Bahn gebrochen. Er illustriert dies an einigen Aspekten des NS-Führerkultes, die die pseudoreligiöse Verehrung Hitlers vor Augen führen, darunter besonders verstörende wie ein Kindergebet an den Führer.

Guardini geht es dabei nicht nur um die polemische Symmetrie zwischen kirchlicher Christusverehrung und dem Führerkult, sondern auch um eine Ursachenanalyse. Die Entfesselung des politischen Heilbringers beruht bereits auf einer Abkehr von Christus. Denn die christliche «Aufhebung» des Mythos hatte Guardini zufolge im christlichen Abendland auch das Politische ergriffen und ihm im «christlichen Herrscher» eine gehegte Gestalt gegeben. Das Lösen dieser Bindung hat einer Re-mythologisierung des Politischen den Weg bereitet: «Was ist da geschehen? Das nicht mehr durch Christus überwundene und zugleich erfüllte mythische Grundmotiv des Heilbringers ist ins Heidnisch-Unerlöste zurückgefallen und hat sich als solches zur Geltung gebracht. Seine ortlos gewordene Energie, die nicht mehr durch die Gestalt des christlichen Herrschers gebunden und legitimiert war, hat sich wieder in ihrer heidnischen, richtiger gesagt, in ihrer abgefallenen Form den Weg in die Geschichte gebahnt.» (124)

Die Verhältnisbestimmung des Christentums zum Politischen, wie sie hier sichtbar wird, ist also durchaus misstrauisch gegenüber der Emanzipation der politischen Ordnung aus dem Raum der christlichen Offenbarung. Das Abstreifen der christlichen Bindungen birgt für die politische Ordnung die Gefahr, sich selbst absolut zu setzen und äußerstenfalls mythologisch zu verkörpern. Dennoch bedeutet die christliche Bindung des Politischen für Guardini keine Heteronomie sondern eine Art freisetzender Theonomie, die das Politische vor der Remythologisierung bewahrt und auf diese Weise in den Dienst der Würde des freien Individuums steht. Dies ist neben der Christusoffenbarung gewissermaßen der andere Pol, der gegen das (neu-) mythologische Weltbild immer wieder aufbegehrt.

Dem entspricht, dass Guardini offenbarungstheologisch die Übernatürlich­keit des Christus­ereignisses betont: «Und wie erlöst Christus? Vor allem, dadurch, dass er ‹von oben› kommt.» (103). Diese Übernatürlichkeit wird jedoch nicht wie in der katholischen Neuscholastik primär als Unzugänglichkeit von Glaubensaussagen für den natürlichen Intellekt verstanden, sondern als praktische Übernatürlichkeit, die eine kritische Beziehung zum Selbstüberhebungsdrang des Geschöpflichen, insbesondere des Politischen, einnimmt und gerade darin der Würde des freien Individuums dient. Die Wirkungen der übernatürlichen Christusoffenbarung entsprechen also in gewisser Hinsicht dem neuzeitlichen Freiheitspathos und ihm entsprungener politischer Errungenschaften. Als sich unabhängig vom Glauben vollziehende bilden sie allerdings nur die stets fragile Außenseite der christlichen Offenbarung.

Diese theologische Konstellation erinnert an die von Karl Barth im Anschluss an die Barmer theologische Erklärung ausgearbeitete Theologie der «Königsherrschaft Christi», aber auch an die Schriften des Konvertiten Erik Peterson, der in den dreißiger Jahren u.a. in den Texten «Christus als Imperator» und «Zeuge der Wahrheit» in einer ähnlichen Weise die antimythologische Kraft der christlichen Offenbarung beschworen hatte. Deutlicher noch als Peterson, der seine Botschaften philologisch-historisch einkleidet, lässt Guardini dabei erkennen, dass es ihm darum geht, dem heute lebenden Menschen das befreiende Potenzial der christlichen Offenbarung nahezubringen und dabei auch in eine konstruktive Beziehung zur Moderne einzutreten. Das Konzept der «Politischen Religion», wie es später von Eric Voegelin und Hans Maier unter republikanisch-demokratischen Vorzeichen entwickelt wurde, steht in der Fluchtlinie von Guardinis Heilbringer-Aufsatz.

Insgesamt zeigt der Band auch in den anderen Beiträgen (darunter einige einleitende Worte zum Tübinger Vorlesungsantritt und der Text «Die Waage des Daseins» zum Gedächtnis der Geschwister Scholl), dass Guardini kein politischer Kopf war, der nach 1945 im engeren Sinne demokratischen Aufbau betrieben hätte. Er war aber auch kein unpolitischer Schöngeist, dem der Blick dafür fehlte, was nach der «Stunde null» nottat, um ein Gemeinwesen gewissermaßen «von innen» wiederaufzurichten. Dafür fand er unaufdringliche, leise Worte, die im Gegenüber die Stimme des Gewissens wieder hörbar machen wollen. Dafür bot er seine ästhetische Sensibilität in «zivilisierenden» Einsprüchen gegen Formen kultureller Verrohung auf. Dafür profiliierte er den Glauben an die Christusoffenbarung als antitotalitäre, das Politische durch Bindung freisetzende Macht. Dabei unterschätzte Guardini aus heutiger Sicht wohl die Chancen einer Autonomie des Politischen, wie sie der weltanschaulich neutrale demokratische Staat der Nachkriegszeit vor Augen geführt hat. Dennoch ist es der phänomenologische Blick auf die Fragilität der Moderne, ihre geistlosen Reduktionismen und Hypertrophien, der Guardini wenig später von einem «Ende der Neuzeit» sprechen ließ und ihn auch in gegenwärtigen Krisenzeiten wieder interessant macht.

Der Band «1945. Worte zur Neuorientierung» zeigt einen wichtigen Ausschnitt aus dem Schaffen des Theologen und Pädagogen, des Kulturmenschen und Seelsorgers Guardini. Die kundige Einleitung des Bandes und ein ausführlicher Anmerkungsapparat sorgen dafür, dass die Texte noch mehr in ihrer bleibenden Bedeutung hervortreten können. Zum Gelingen des Bandes tragen auch die Abbildungen bei. Einige von ihnen zeigen die Plakate, auf denen Guardinis damalige Vorträge angekündigt wurden. Auf einem von ihnen, das der bekannte Grafiker und spätere Gründer der Ulmer Hochschule für Gestaltung Otl Aicher entworfen hat, findet sich neben den knappen Daten zum Vortrag nur ein stilisiertes Konterfei Guardinis im Profil. Darüber steht offenbar selbstverständlich: «Guardini spricht». Der Band zeigt, dass dies auch heute noch gilt.

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