Kenosis: Die Macht der Ohnmacht

…in den Augen jeder Metaphysik […] etwas Unmögliches, so unmöglich
wie eine Art Selbstmord Gottes zu sein scheint;
und doch ist das die wahre Wahrheit, Deus seipsum exinanivit.
Maurice Blondel

Die Verlassenheit des Herrn am Kreuz ist die Entleerung des Meeres der Gottheit:
die Abgründe, formlos und grausam enthüllt, starren zum Himmel.
Hans Urs von Balthasar

Der Christuspsalm im Philipperbrief erzählt eine erstaunliche Gottesgeschichte: Gott selbst habe sich seiner Gottheit frei entledigt und entleert, um der sterblichen Knechtsgestalt der Menschen gleich zu werden. Was die Theologie unter dem Begriff «Kenosis» fasst (Phil 2, 7a: ἑαυτὸν ἐκένωσεν – «er machte sich selbst leer»), meint einen Akt der Hingabe, der Selbstentäußerung, ja der Erniedrigung. Im Zentrum des Lieds wird die Ungeheuerlichkeit des Geschehens doppelt eingeschärft: «bis zum Tod, ja bis zum Tod am Kreuz» (Phil 2, 8bc). Nicht ein starker und mächtiger Gott, der über den Himmeln thront, ist es, dessen Bild sich in dieser Dichtung spiegelt. Der Gott der Christen ist der «Esel» unter den Göttern, einer, der sich gerade in Knechtsgestalt zeigt, sich schinden und verwunden lässt. Die Kreuzigung sticht im Spektrum der Hinrichtungsarten nicht zuletzt dadurch hervor, dass sie wie keine andere entehrend ist, «weil sie den Sterbeprozess unter den Voraussetzungen von maximaler Sichtbarkeit, längstmöglicher Dauer und extremer Passivität» inszeniert. Der Gekreuzigte ist der Gottsohn auf dem Nullpunkt seiner Macht. Doch das Erzählziel des Christuspsalms ist die Akklamation der Königsherrschaft Jesu, und so führt die Selbsterniedrigung zur Erhöhung und verkehrt damit die gängigen Herrscherideale. Hans-Ulrich Weidemann zeigt, dass die «Kenosis» einen Herrscher-Typos prägt, der zugleich radikale Herrschaftskritik impliziert.

Im Anschluss an Phil 2 wird das Motiv der Kenosis als Kennzeichen der Menschwerdung des Logos bald theologiegeschichtlich, aber auch kulturell wirksam, wie das vorliegende Themenheft ausführt. Nicht nur wird der Begriff, bisweilen bis zum Eindruck der Multifunktionalität, in verschiedensten theologischen Zusammenhängen eingesetzt; er spielt auch eine erhebliche Rolle in diversen postmodernen Philosophien. Dieser breiten Wirkungsgeschichte der «Kenosis» geht das vorliegende Heft in Schlaglichtern nach:

In der Neuzeit wird das Motiv dialektisch-spekulativ (Hegel), liebend-schöpferisch (Blondel) und innertrinitarisch (Boulgakof) gedeutet. Die unterschiedlichen Ansätze einer Kenosis-Schöpfungslehre untersucht Peter Henrici. Kaum einer hat die Entäußerungsbewegung theologisch so konsequent und zugleich bis an die Grenzen des Denkbaren verfolgt wie Hans Urs von Balthasar. Die Dramatik seiner Theologie gipfelt am Tag, da Gott tot ist, da der Logos verstummt zum «Wort, das kein Wort mehr ist», am Karsamstag. Der tote Gottessohn lässt sich im Gehorsam in den Abstieg zur Unterwelt (descensus ad inferos) verfügen, er «hinterlegt» seine Gottheit in die Hände des Vaters, um denen nahe zu sein, die keine Nähe mehr kennen (Werner Löser).

Dass die Kenosis in der Geschichte des Christentums auch handlungsorientierend wirkt und den Nachvollzug jedes Christen fordert, zeigt zeugnishaft die Gestalt Albert Peyriguères. Durch die schweigende Predigt seines «vormissionarischen» Handelns glich er sich den Berbern des marokkanischen Atlasgebirges an, damit in ihm Jesus den Berbern gleich werde. Seine Entäußerung ging so weit, dass sich die Physiognomie des Franzosen Peyriguère kaum mehr von den Berbern unterschied und er am Ende seines Lebens die millieu-typischen Krankheitsmerkmale dieses Volkes aufwies (Gisbert Greshake).

Zuletzt schlägt sich die «Kenosis» auch in den Künsten nieder. Christliche Ästhetik kann als kenotische begriffen werden – niedrig und gering, und dennoch «schön» (Hans Maier). In ganz besonderer Weise kommt es in der Kunst des 20. Jahrhunderts und der Gegenwart zu einer entäußernden Bewegung in die Mitte von Leid, Not, und Nacht hinein. Kunst bildet nicht länger ab, ist nicht länger «erhaben», sondern verleiht gerade dem Armen, Unwerten und Minderwertigen, dem Abfall der Menschheit eine neue Würde. Analog zur kenotischen Dynamik Gottes in der Gestalt des Gekreuzigten geht die Kunst in kühner, sich exponierender Weise aus dem Gesicherten heraus ins Ungewisse hinein. Die Gegenwartskunst wählt «kenotisch» das Niedrige und Verachtete so sehr, dass sich die Kunst im Kunstlosen zu verlieren scheint (Gustav Schörghofer).

In den Perspektiven widmen sich zwei Beiträge jeweils einem aktuellen Anlass: zum einen dem 50-jährigen Jubiläum des Konzilsdokuments Nostra aetate, zum anderen der gerade entbrannten Berliner Debatte um die kanonische Geltung des Alten Testaments. Das Konzil vollzog einen Bruch mit dem kirchlichen Antijudaismus, tut dies aber auf dem Boden der antimarkionitischen Grundentscheidung der Alten Kirche (Jan-Heiner Tück). Der Versuch des Theologen Markion im 2. Jh., das Alte Testament (sowie Teile des Neuen) aus dem Kanon der Heiligen Schrift auszuscheiden, hat in der Kirchengeschichte verschiedentlich Nachahmer gefunden. Auch heute wird die antimarkionitische Weichenstellung der Alten Kirche wieder zur Disposition gestellt, jedenfalls scheint es in Bereichen der evangelischen Theologie Anzeichen für eine Wiederkehr Markions zu geben (Ludger Schwienhorst-Schönberger). Dem weitgehend erfolgreichen jüngeren christlich-jüdischen Dialog zum Trotz existiert nach wie vor ein Bündel ungeklärter Fragen, die weiterer Aufarbeitung bedürfen.

Den Abschluss bildet ein Beitrag über den jüdischen Theologen Abraham J. Heschel mit erstmals aus dem Hebräischen übersetzten Texten zum Leiden Gottes.

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