Mystik im AlltagSchaukel(n)

Vor und zurück, vor und zurück – was wir auf einer Schaukel über das Leben lernen.

Eine Ansage ist für die Ferienzeit oft zu hören: Endlich mal „die Seele baumeln lassen“ – und das schließt natürlich den Körper ein, denn beide getrennt gibt es für lebende Menschen nicht. Das meist abendliche Bedürfnis, mal „abzuhängen“, bekommt in Ferienzeiten hoffentlich mehr Raum. Der besondere Reiz, das Ding schon zu schaukeln – und sich selbst mit –, kommt offenkundig von weit her, vielleicht gar aus vorgeburtlichen Zeiten und Zonen. Jedenfalls ist lebenslang von der Schaukel-Lust der Kinder zu lernen. Es hat mit Balance zu tun, mit der Lustangst zu schweben und zu fliegen auch. Es gilt, die Fliehkraft bis zum Äußersten auszureizen und sich dabei doch gehalten zu wissen, wie zurückgerufen von einem Pol zum anderen – Extreme berühren sich, und wäre alles nur Mitte, wäre es todlangweilig. Aber dieses Schaukeln und Wippen, dieses Angeschubstwerden und in Schwung kommen, und dann Fahrt aufzunehmen und aus eigenem Antrieb einzuschwingen in den größer werdenden Rhythmus – hat dieses freie Spiel der Kräfte nicht mit jener Lust zu tun, die Ewigkeit will? Sonst gilt: Bloß nichts hochschaukeln!

„Viele Jahre blieben/meine Beine in Bodennähe,/ich hatte vergessen, dass Schaukeln/eine geistliche Übung ist.“ So beginnt das Gedicht „Die Schaukel“ von Jürgen Brôcan. Genau beschreibt es die „Bewegung an Ort und Stelle./Vor und zurück in derselben Bahn … Was hoch oder was tief steht,/bleibt, was es ist und war,/es ändert sich bloß/die Perspektive.“ Dabei hängt das überschwängliche Gefühl von Bewegung und Freiheit wortwörtlich von einem Gestell ab, das trägt: „An Ketten hängend,/schwebt man umso leichter,/je anstrengender das Einwiegen ist.“ Nicht zufällig ruft das Gedicht in der letzten Strophe den heiligen Proculus auf. Der sitzt, aus dem heimatlichen Verona vertrieben, immer noch auf dem uralten Fresko der Dorfkirche in Naturns: Von seiner Schaukel schaut er den Betrachter mit großen Augen an, beide Hände Richtung der tragenden Seile, die er aber nicht anfasst. Offenkundig ist er von woanders her schon gehalten und kann sozusagen freihändig schaukeln – welch ein Jongleur, welch eine Freiheit in Bewegung.

„Haltlos und doch gehalten“ – so lautet der Refrain eines der schönsten Gedicht-Gebete von Johannes vom Kreuz, Summe seiner Glaubensweisheit am Beginn der arbeitssüchtigen Moderne, die sich und alles erst hergestalten muss, koste es, was das Zeug hält. Was beide Gedichte empfehlen, ist genau die Gegenmedizin zur Werkeritis und Leistungsreligion. Da wird ausdrücklich zusammengehalten, was neuzeitlich auseinanderbrach: die uralte Einheit nämlich von Arbeiten und Beten, von Ausruhen und Schöpferischsein, von Kontemplation und Aktion. Dieses Ausschwingen der Gegensätze ist die Kunst, „das Ding nach Hause zu schaukeln“ – das genaue Gegenteil von unentschlossener Schaukelpolitik und zwanghaftem Fixieren bloß einer einzigen Perspektive. Liebende wissen wohl, wie man ein Kind schaukelt, Tröstende auch, empathische Menschen mit Haltung und Haltfähigkeit. Und eben mit jener inneren Beweglichkeit, die man hochgestochen „Ambiguitätstoleranz“ nennt. Der große Nikolaus von Kues formulierte sogar einmal den Leitsatz: „Die Größe eines Menschen zeigt sich darin, wie viel Gegensätze er in sich vereinigt.“

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