IsraelNoch ...

Wandelt sich Israel in einen Unrechtsstaat? Der Priester Stephan Wahl lebt in Jerusalem und beobachtet die politischen Veränderungen mit Sorge.

Wie kannst Du es in diesem Land aushalten?“ Diese Frage kenne ich, seit ich hier lebe. Aber in den letzten Wochen und Monaten wird sie mir häufiger gestellt. Ich kann. Noch. Aber das „heilig-unheilige Land“ macht es mir im Moment noch schwerer als bisher, es zu lieben.

Schon vor der aktuellen rechtsextremen Regierung mit ihrer unsäglichen Agenda war es nicht leicht mitzuerleben, wie der ungelöste Konflikt zwischen Palästinensern und Israelis den Alltag vergiftet. Natürlich kann man sich als christlicher Ausländer in der Kuschelecke der Heiligen Stätten, der Pilgerseelsorge und der zweifellos spannenden neuen archäologischen Funde einrichten, wenn die eigenen Scheuklappen dicht genug sind. Meine sind es nicht. Was geschieht, geht nicht spurlos an mir vorbei, auch wenn es nicht mein Land ist und nie sein wird. Ich bin kein Israeli, kein Palästinenser. Ich gehöre in keines der Lager und schlage mich nicht auf eine Seite. An einem Tag balle ich die Faust über das brutale Vorgehen der Armee in den besetzten Gebieten, am anderen Tag bin ich entsetzt über den Umgang von Palästinensern mit Behinderten oder Homosexuellen.

Meine Sympathie gilt der unbeugsamen israelischen Bewegung Tag Meir, die seit Jahren versucht, verschiedene Gruppen der israelischen Gesellschaft im Kampf gegen Rassismus und Gewalt in Israel zu verbinden. Sie klagen israelische Menschenrechtsverletzungen ebenso an wie palästinensische. Besuchen Familien, die Opfer des Konfliktes geworden sind – auf beiden Seiten. Die Parallele mit dem Vor-Mandela-Südafrika hinkt, aber es ist zweifellos nicht falsch, von apartheidsähnlichen Zuständen zu sprechen. Eine Folge der seit 1967 (!) andauernden Besatzung, die die Menschen in diesem Land faktisch in zwei Klassen einteilt. Leider kommt dieses Thema in der beeindruckenden, seit Wochen anhaltenden Protestbewegung gegen die sogenannte „Reform“ der Justiz nur am Rande vor. Das schmälert aber nicht den Kampf der mit Grund besorgten Bürger um den Erhalt der Demokratie.

Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ein Volk, das auf so fürchterliche Weise unter faschistischen Verbrechern gelitten hat, faschistoide Minister in der eigenen Regierung duldet. Wie sich die verschärfende Spannung zwischen dem jüdisch-nationalreligiösen und dem zumeist säkular-demokratischen Lager entwickeln wird, bleibt abzuwarten. Die beiden stehen sich unversöhnlich, ja teils hassend gegenüber. Unbeirrt von den großen Demonstrationen versucht die Regierung die Rahmenbedingungen so zu ändern, dass neue Gesetze ohne die bewährten Kontrollmechanismen geschaffen werden können. Leider mit ersten Erfolgen. Sollte das auf ganzer Linie gelingen, hätten Palästinenser mit noch größerem Unrecht zu rechnen, und auch die christliche Minderheit hätte Grund zu großer Sorge. Seit sie um den Rückhalt ihrer fanatischen Sympathisanten in der Regierung wissen, häufen sich die Schmähungen und auch tätlichen Angriffe von Siedlern und Ultraorthodoxen auf Christen im Land. Im Moment sehe ich mehr pessimistisch auf die nächsten Wochen und Monate. Der Traum, dass dieses Land wieder mehr als heilig denn als unheilig wahrgenommen wird, ist leider im Moment völlig utopisch.

Trotz allem wache ich immer noch gerne jeden Morgen in Jerusalem auf. Noch ist die irrationale Liebe für dieses verrückte Land größer als mein Erschaudern über das, was geschieht. Noch.

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