Die Aufforderung zur Buße und Umkehr, die in der Verkündigung Jesu einen zentralen Stellenwert im Zusammenhang mit seiner Botschaft vom Anbruch des Reiches Gottes einnimmt, muss vielmehr mit hartnäckigen Widerständen rechnen, die eine saturierte bürgerliche Wohlfühl-Religiosität ihr entgegensetzt. Diese will das eigene Dasein vor äußerer Infragestellung und innerer Erschütterung bewahren: Ihre Abwehrrituale zielen darauf, sich die Konfrontation mit der Härte des Lebens und der unangenehmen Erinnerung an seine offenen Baustellen vom Leib zu halten.
Diese Erwartung findet durch die Umkehrforderung Jesu freilich keine Bestätigung. Im Gegenteil: Die Aufforderung „Kehrt um und glaubt an das Evangelium“ (Mk 1,15), mit der Jesus nach dem Bericht des Markus- Evangeliums seine öffentliche Verkündigung einleitet, geht aufs Ganze: Sie zielt auf eine Neubestimmung des Menschen, die diesen in der Mitte seiner Existenz trifft. Vom Wortsinn des griechischen Begriffs metanoia ausgehend, muss man geradezu von einer Revolution der Denkart und von einer radikalen, d. h. von der Wurzel ausgehenden Bewusstseinsänderung sprechen.
Angstgetriebene Existenz überwinden
Diese Umkehr setzt im Zentrum des Denkens, Fühlens und Handelns an, für das die biblische Metapher des Herzens steht. Mit diesem Wechsel der Blickrichtung vollzieht sich eine Umkehr der Perspektive, unter der jeder sein eigenes Leben betrachten soll: Leitend ist nicht mehr die Sorge, ich könnte meinen religiösen Status vor Gott durch falsche gesellschaftliche Außenkontakte kontaminieren (so könnte man das Bemühen um die Reinhaltung des eigenen Lebens vor unreinen Dingen in die heutige Lebenswelt übersetzen), sondern die Frage, welche Einflüsse aus mir selbst hervorgehen, die das Böse und Gewaltsame um mich herum verbreiten. Der Blick, der die Genese des Bösen bis zu seinen Ursprüngen in mir selbst zurückverfolgt, geht von innen nach außen. Er möchte die Fehlhaltung eines egozentrischen Besorgtseins um die eigenen Lebensgrundlagen, also jener „angstgetriebenen Sicherungsbewegung“ (Hans Weder), die blind macht für das Reich Gottes und die Gaben seiner Schöpfung, bis in seine Wurzeln im menschlichen Herzen hinein aufdecken.
Umkehr ist deshalb mehr als das Vollbringen äußerer Bußwerke, die die Zerknirschung über die eigene Sünde nach außen kehren und vor dem Menschen unter Beweis stellen wollen. Das „In-Sack-und-Asche- Gehen“ oder die Erfüllung äußerer Bußauflagen können ein sinnvolles Moment im Bußvorgang sein, vor allem wenn die Suche nach einem praktischen Erweis der inneren Umkehrbereitschaft phantasievoll die Lebensumstände derjenigen Nächsten berücksichtigt, die ich durch meine Lieblosigkeit verletzt habe. Doch mindestens ebenso groß erscheint die Gefahr, dass äußere Bußleistungen mit der inneren Abkehr vom Bösen in eins gesetzt werden. Die Selbstzufriedenheit, die sich durch die Erfüllung als unangenehm empfundener Bußauflagen als süßes Gift in der Seele breit machen kann, blockiert dann den Umkehrprozess. Statt Umkehr zu ermöglichen, erleichtern sie es dem religiösen Menschen, der geforderten Neuorientierung seines ganzen Lebens aus dem Weg zu gehen. Auch die sakramentale Beichte kann auf diese Weise zu einem „Bußumgehungsinstitut“ (Paul Zulehner) verkommen.
Buße als Verlebendigung des Glaubens
Die Rede von der Buße als einem prozesshaften Geschehen, das sich über den gesamten Glaubensweg erstreckt und erst in der letzten Begegnung mit Gott ans Ziel gelangt, bedarf vor dem Hintergrund des Umkehrrufes Jesu der Erläuterung. In seiner Verkündigung meinen Buße und Umkehr zunächst den ersten Schritt, der zum Glauben an das Evangelium führt. Im eigentlichen Sinn bezeichnet Buße daher den einmaligen Vorgang der Abwendung vom Bösen und der Hinwendung zu Gott, der auf Seiten des Menschen die freie Entscheidung voraussetzt, sich von der schöpferischen Macht der Liebe Gottes bestimmen zu lassen. Der Akt des Zum-Glauben-Kommens, der von Paulus mit der Taufe verbunden und mit unterschiedlichen Bildern als Herrschaftswechsel im Menschen, als große Existenzwende am Anfang des Christseins und als einmaliges Geschenk der Liebe Gottes beschrieben wird, soll den gesamten weiteren Lebensvollzug der Getauften prägen. Auch wenn in der paulinischen Theologie der Bekehrungsvorgang als ein Geschehen gedacht wird, das dem Menschen widerfährt, muss er seine Bereitschaft, sich dem Wirken Gottes zu öffnen, doch ein Leben lang in freier Entschiedenheit durchhalten.
Deshalb bedarf es in einem abgeleiteten Sinn der ständigen Umkehr als einer andauernden Verlebendigung des Glaubens. Sein anfänglicher Schwung kann erlahmen, die Liebe ihre Ausdauer verlieren und die Begeisterung für die Sache Gottes in der Welt lähmender Resignation weichen. Wenn das eigentliche Wesen der Sünde nicht erst in einem bewussten, endgültigen Nein zu Gott, sondern bereits darin besteht, dass der Mensch sich in seinem praktischen Lebensvollzug an anderen Zielen orientiert, dann bedarf er ständig der Buße, um erneut an Gott als dem großen und letzten Ziel seines Lebens Maß zu nehmen. In ihrer gefährlichsten Form bedroht die Sünde den Menschen nämlich nicht erst dort, wo er Gottes Liebe aktiv zurückweist, sondern bereits dadurch, dass er es unterlässt, ihr zu antworten. Deshalb sieht die mittelalterliche Theologie in der Trägheit nicht nur eine Deformation der Seele, sondern eine sündhafte Fehlhaltung, die der bewussten Korrektur bedarf.
Freude am Guten gewinnen
In der Buße geht es zuallererst darum, die ursprüngliche Freude am Guten wiederzugewinnen und die verlorengegangene Initiative auf dem Weg der Liebe erneut zu ergreifen. Die innere Umkehrbereitschaft, die in der klassischen Bußtheologie oft mit der empfundenen Traurigkeit angesichts der eigenen Sünde (der sogenannten vollkommenen oder unvollkommenen Reue) identifiziert wurde, wirkt dann als existenzielles Gegengewicht gegen die Versuchung zur Trägheit, die es versäumt, mit dem Guten zu beginnen. Nur selten äußert sich die Sünde in einer dramatischen Revolte gegen Gott, die die ursprüngliche Glaubenszustimmung aufkündigt. In ihrer banalen Alltagsgestalt kommt die Sünde als allmähliche Abkehr von Gott meist unauffälliger daher. Sie zeigt sich als lethargischer Rückzug in das eigene Ich, als Misstrauen gegen die Anderen, als schleichende Mutlosigkeit, die im Lauf der Jahre in einen faktischen Unglauben übergeht, weil sie nicht mehr ernsthaft mit den Möglichkeiten der Liebe Gottes rechnet. Befreit man den Gedanken der Buße von den späteren frömmigkeitsgeschichtlichen Überlagerungen der innern Zerknirschung oder des seelischen Schmerzes, so erweist sie sich als eine unerlässliche Regenerationskraft im Dienst am Guten, als Verlebendigung des Glaubens, als langfristige Sicherung der Lebenslust. Sind Umkehr und Buße somit nur paradoxe, besonders nachhaltige Strategien zur Wiedererlangung verlorener Glaubensfreude? Die Antwort hängt davon ab, welche Bedeutung dem Wort „Strategie“ zukommen soll. Denken wir dabei an die überlegene Planung, die alle Spielzüge des Lebens übersieht, um vor Überraschungen sicher zu sein, dann hat Buße nichts von souveräner Selbstverfügung über die eigene Lebensgeschichte an sich. Sie setzt das Eingeständnis einer Niederlage voraus und beginnt mit dem Bekenntnis, dass mir mein eigenes Tun und Lassen gegen meinen Willen restlos entglitten ist. „Ich unglücklicher Mensch! Ich tue nicht das Gute, das ich will, sondern das Böse, das ich nicht will“ (Röm 7,19.24). Am Anfang der Umkehr steht die Erkenntnis, dass ich mich verrannt habe und durch mein fehlgeleitetes Tun in eine ausweglose Isolation geraten bin. Die Sünde richtet Mauern der Trennung auf, aus denen der sündige Mensch von sich aus nicht mehr ausbrechen kann. Indem er jedoch die Selbstanklage ausspricht, kehrt er in die Gemeinschaft mit Gott und den Menschen zurück, die er durch sein böses Tun zerstörte.
Gemeinschaftsorientiertes Geschehen
In seiner kleinen Schrift „Gemeinsames Leben“ hat Dietrich Bonhoeffer den Zusammenhang von Sündenbekenntnis, Buße und Gemeinschaft im Anschluss an die Aufforderung des Jakobusbrief, einander unsere Sünden zu bekennen (vgl. Jak 5,16), herausgestellt. „Die Sünde will mit dem Menschen allein sein. Sie entzieht ihn der Gemeinschaft.“ Doch indem der bußfertige Mensch sich im Sündenbekenntnis von seinen bösen Taten distanziert, ermöglicht er es den anderen, die Gemeinschaft wieder herzustellen. „Die ausgesprochene, bekannte Sünde hat alle Macht verloren.“ Die Einübung der Korrekturbereitschaft im zwischenmenschlichen Gespräch, die mit dem konkreten Eingeständnis eigener Verfehlungen beginnt, wird auch durch den Empfang der sakramentalen Absolution nicht überflüssig. Denn zur Annahme der von Gott gewährten Vergebung gehört die Bereitschaft, diejenigen um Vergebung zu bitten, die ich durch mein Fehlverhalten verletzt habe. Gott vergibt dem Menschen nicht hinter dem Rücken der anderen, so dass die gestörte Beziehung zu ihnen von dem Vergebungswort unberührt bleiben könnte, das wir von Gott empfangen. Denken wir jedoch an die Momente des festen Vertrauens und der unerschütterlichen Siegeszuversicht, dann hat die innere Bereitschaft zu ständiger Buße und Umkehr sehr wohl etwas von einer Strategie gelingender Lebensplanung an sich. Denn wer zu Gott umkehrt, ist sich der Erhörung seiner Vergebungsbitte gewiss. Der Aufbruch der Umkehr und Buße geschieht im Raum der unbedingten Vergebungszusage Gottes. Gottes Versöhungshandeln trägt und ermöglicht die Umkehr des Menschen, es erreicht sein Ziel mit untrüglicher Gewissheit und erfordert auf Seiten des Menschen nicht mehr als die aufrichtige Bereitschaft, sich ohne Vorbehalt darauf einzulassen. Die Gleichnisse Jesu stellen die alle menschliche Berechnung übersteigende Freude heraus, die bei Gott über die Umkehr des Sünders herrscht. „Jetzt müssen wir uns doch freuen und ein Fest feiern“, sagt der Vater im Gleichnis vom verlorenen Sohn zu dem älteren Bruder, „denn dein Bruder war tot und lebt wieder; er war verloren und ist wiedergefunden worden.“ (Lk 15,32).
Buße führt zum Leben
Diese große Freude ist ein Vorschein des Lichtes der Auferstehung, in das Umkehr und Buße einmal führen sollen. Sie haben daher nichts mit Weltverneinung und Lebensverachtung zu tun, wie ein verbreitetes Misstrauen gegenüber asketischen Tendenzen im Christentum annimmt. Buße und Umkehr setzen vielmehr die kreatürliche Zustimmung zur Welt als Schöpfung Gottes voraus, indem sie die verkehrte Fixierung auf isolierte Güter wie Macht, Ruhm, Reichtum und Einfluss korrigieren. Dadurch dass diese Güter in Beziehung zu Gott und dem Nächsten gesetzt werden, erfahren sie eine Relativierung, die ihnen ihren richtigen Platz im Leben zurückgibt. Umkehr und Buße gewinnen dadurch Anteile an der endgültigen Erneuerung des Lebens im Sieg Jesu Christi über Sünde und Tod. Das Aschenkreuz, das die Gläubigen am Beginn der österlichen Bußzeit empfangen, weist den Menschen eindringlich auf die Vergänglichkeit seines Daseins hin. Im Orden der Trappistenmönche, die ihr ganzes Leben als Buße und Umkehr zu Gott verstehen, wird diese Symbolik durch einen weiteren Brauch unterstrichen. Schwerpunktthema 9 Dieser erinnert den Menschen auf drastische Weise an seine ständige Bedrohung durch den Tod und zugleich an die Zukunft des neuen Lebens bei Gott, auf das er sich schon jetzt ausrichtet. Während der Fastenzeit begrüßen sich die Mönche mit dem Wort: memento mori - „Gedenke, dass du sterben musst!“ Dieselben Worte rief im antiken Rom ein Sklave dem siegreichen Feldherrn zu, um ihm im Moment des höchsten Triumphes die Vergänglichkeit allen irdischen Ruhmes ins Gedächtnis zu rufen. Memento te hominem esse - „Bedenke, dass du ein Mensch bist.“ Weil die Buße ihr primäres Ziel nicht in der Loslösung von den irdischen Dingen, sondern in der erneuten Hinwendung zu Gott findet, begrüßen sich die Trappistenmönche in der Osterzeit durch die Mahnung: memento vivere - „Gedenke, dass du leben sollst!“