Was wurde erreicht – was fehlt?Wie ist das eigentlich mit der Prävention?

In einer für kirchliche Verhältnisse schon als Eiltempo zu bezeichnenden Geschwindigkeit haben die deutschen Bischöfe für alle Bereiche der katholischen Kirche bereits 2014 eine Präventionsordnung erlassen. Seitdem gibt es flächendeckend Präventionsschulungen – aber hat das zu einer Überwindung der Missbrauchskrise geführt? Der Autor widmet sich der Frage, ob die bisherigen Präventionsmaßnahmen wirklich Wirkung entfalten oder ob es 13 Jahre nach der ersten großen Welle in der Missbrauchskrise nicht doch einer Kurskorrektur bedarf.

Fazit

Präventionsmaßnahmen wirken erst dann nachhaltig, wenn sie zu einer inneren Haltung gegen sexualisierte Gewalt führen. Die katholische Kirche verfügt wie kaum eine andere Organisation in Deutschland über ein umfassendes Instrumentarium für Präventionsmaßnahmen. Nur müssen diese um eine Komponente ergänzt und erweitert werden, damit die wichtigen Inhalte der Präventionsschulungen auf offene und sensibilisierte Menschen treffen, die mit der Prävention sexualisierter Gewalt kein Pflichtprogramm, sondern eine wichtige Aufgabe für Kirche und Gesellschaft verbinden.

Im Zuge der Nachrichten rund um das Berliner Canisiuskolleg und der sich anschließenden Analysen haben sich die deutschen Bischöfe bereits 2014 dazu entschlossen, eine umfassende Präventionsordnung in Kraft zu setzen. Sexualisierte Gewalt sollte zumindest in der Zukunft nicht mehr Teil der katholischen Geschichte sein. Und dazu sollte eine umfassende Präventionsarbeit dienen, die grundsätzlich jeden Engagierten in der katholischen Kirche in Deutschland erreichen sollte: Ganz gleich ob in der Gemeindepastoral oder bei einem katholischen Unternehmen, gleich ob in der Jugend- oder Erwachsenenarbeit, ob hauptberuflich oder ehrenamtlich tätig: Jeder war aufgerufen, die für seinen Arbeits- und Aufgabenbereich vorgesehene Präventionsschulung zu besuchen. Dabei wurde die Schulungsintensität in Abhängigkeit zum Kontakt zu den Schutzsubjekten definiert: Je näher an Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Schutzbefohlenen, desto intensiver und umfangreicher die Schulungen. Begleitet wurden diese, auf die einzelnen Personen abzielenden Präventionsmaßnahmen durch strukturelle Schutzmechanismen: Erweiterte Führungszeugnisse, institutionelle Schutzkonzepte, Verhaltenskodizes und Selbstverpflichtungen hielten Einzug in die unterschiedlichen Ebenen von Gemeinden, Verbänden und katholischen Institutionen und gehören mittlerweile zum alltäglichen „Geschäft“ katholischen Engagements in Deutschland.

Prävention ist ein weltumspannendes Thema

Selbst auf der Metaebene ist Prävention zu einem, mittlerweile weltumspannenden Thema geworden: Nachdem die MHG-Studie 2019 als erste Studie explizit von systemischen Ursachen sexualisierter Gewalt in der Kirche sprach und alle folgenden diözesanen Studien den Ansatz systemischer Ursachen nicht nur stützten, sondern nachhaltig schärften, hat die große Mehrheit der Deutschen Bischöfe einen mutigen Schritt getan: Den ersten Schritt auf dem Synodalen Weg, der nicht nur in Deutschland, sondern weit darüber hinaus Beachtung findet und dessen Thesen und Ansätze keinen deutschen Sonderweg beschreiben, sondern einen breiten internationalen Wiederhall hervorgerufen haben, wie zuletzt die Rückmeldungen zur Weltsynode gezeigt haben.
Man könnte also versucht sein anzunehmen, dass in Anbetracht dieser ungeheuren Fülle solcher Maßnahmen auf allen Ebenen des katholischen Daseins Prävention umfangreiche Früchte trägt und die hässliche Fratze des Missbrauchs aus der Gegenwart verschwunden ist. Sicherlich tragen die vielen Aktivitäten zu einer anderen Sichtweise und zunehmender Sensibilisierung vieler Menschen zum Thema Missbrauch und sexualisierte Gewalt bei.

Massenhafte Präventionskurse führen nicht automatisch zur Überwindung des Missbrauchs

Es sei aber auch die These erlaubt, dass der erhoffte Effekt, auch in der Überwindung der Missbrauchskrise in unserer Kirche, ausgeblieben ist und es gibt eine Reihe von Parametern, an denen man genau das feststellen kann. Dazu zwei Beispiele, eins aus dem Alltagsleben einer Gemeinde, eines aus der hohen Kirchenpolitik, aber beide dürften jedem in der Pastoral tätigen Menschen bekannt sein:
Wer hat nicht schon reihenweise die Reaktion in einer Gemeinde, einer örtlichen Gruppe, eines Verbandes etc. auf die Einladung zu Präventionsschulungen erleben müssen: Warum muss ich denn da hin? Ich bin doch kein Täter? Das ist Sache der Geweihten, damit haben wir Laien nichts zu tun! Immer dieser Generalverdacht: Als Priester bin ich doch regelmäßig Vorverurteilungen ausgesetzt! Ich bin doch nur Kommunionhelfer, da komme ich doch nicht mit Kindern allein in Kontakt! Die Liste der Reaktionen ließe sich hier beliebig fortsetzen und ich bin mir sicher, dass jeder schon solche Rückmeldungen hat erleben müssen, insbesondere dann, wenn man in der Schulungsarbeit und hier vor allem in der Durchführung von Präventionsschulungen engagiert ist.
Machen wir einen kleinen Ausflug nach Rom, zum Ad-Limina-Besuch der deutschen Bischöfe im Herbst 2022. Da schwadronierte Kardinal Ouelett, der Präfekt des Dikasteriums für die Bischöfe, nicht nur über „sogenannte“ systemische Ursachen sexualisierter Gewalt in der Kirche. Nicht nur das: Er sprach auch expressis verbis von „sogenannten“ Missbrauchsopfern. Einer der einflussreichsten und obersten Kirchenmänner negiert eindeutige und in der Wissenschaft nicht mehr angezweifelte Ergebnisse zahlreicher Studien, die den Missbrauch in der katholischen Kirche analysieren, und es zeigt sich, dass die bisherigen Ergebnisse durch laufende diözesane Studien nicht nur bestätigt werden, sondern noch deutlich schärfen. Die kürzlich in Essen vorgestellte Missbrauchsstudie weitet die Betrachtung und Analyse des Missbrauchskomplexes im Rahmen einer fall- und gemeindeorientierten Analyse um die sozialwissenschaftliche Dimension und bildet die systemischen Ursachen sexualisierter Gewalt in der katholischen Kirche sehr umfassend ab. Darüber hinaus hat ein solches Lamentieren, wie jüngst von Ouellet, durchaus das Potenzial, Betroffene und Opfer sexualisierter Gewalt im Raum der Kirche zu retraumatisieren.
Die beiden Beispiele könnten auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein: Was hat die örtliche Gemeindeebene mit der römischen Kurie zu tun? Vielleicht nähern wir uns mit einer anderen Frage: Was haben die Aussagen aus der Gemeinde mit denen dieses Kirchenfürsten aus Rom im Kontext von Prävention gemeinsam?

Basis für eine funktionierende Prävention ist eine innere Haltung des Individuums

Beiden Aussagen gemeinsam ist eine fehlende innere Haltung zum Thema sexualisierte Gewalt und Missbrauch in der katholischen Kirche. Natürlich auf Basis einer völlig unterschiedlichen Motivation: Für die gemeindenah engagierten Menschen bedeutet Prävention eine eher technische Maßnahme – die Absolvierung von einzelnen Prozessschritten, die in den unterschiedlichen Ordnungen vorgegeben sind. Für den Kurienkardinal aus Rom geht es schlicht um Machterhalt, ungeachtet der Menschenverachtung und Realitätsferne, die er ja regelmäßig damit zum Ausdruck bringt.
Dass großen Teilen des apostolischen Gerontoklerikalismus eine innere Haltung zum Thema sexualisierte Gewalt und Missbrauch in der katholischen Kirche fehlt, mag ja noch nachvollziehbar sein. Aber warum findet sich dieses Symptom auch auf einer Ebene, deren Vertreter in den zurückliegenden Jahren viele Präventionsschulungen besucht haben?
Die bisher vorliegenden diözesanen Studien zum Missbrauchskomplex lassen keine direkten Antworten zu, allenthalben eine Ableitung möglicher Thesen: Dabei dürfte ein nicht unerheblicher Anteil der Abwehrhaltung des Milieus gegenüber dem Thema geschuldet sein. Hier mögen auch die mit Instrumenten von Machtmissbrauch, Angst und Restriktionen seit Jahrzehnten durchgesetzten Leitsätze zur Sexualität des Menschen und ein völlig abgehobenes und realitätsfernes Bild des Klerus in vielen Gemeinden ein gewichtiger Grund für die fehlende innere Haltung sein. Es kann halt nicht sein, was nicht sein darf!

Es braucht ein Gesicht und einen Ort, um wahrgenommen zu werden

Aber auch, sich bisher nur mittelbar und nicht unmittelbar mit dem Thema sexualisierter Gewalt in der Kirche beschäftigt zu haben, dürfte eine wesentliche Rolle spielen: Die Thematik bekommt insbesondere im gemeindlichen Kontext dann eine völlig andere Relevanz, wenn nicht anonym von und über Missbrauchstaten diskutiert wird. Wenn die sexualisierte Gewalt ein Gesicht und einen Ort, z. B. die eigene Pfarrgemeinde, bekommt. Wenn es einen persönlichen Kontakt zu Betroffenen sexualisierter Gewalt gibt, einen direkten und unmittelbaren Austausch. Ein Austausch, den die katholische Kirche noch bis vor zwei Jahren überhaupt nicht im Programm hatte und auch heute noch mit Fingerspitzen anfasst: Das Zentralkomitee der Katholiken war beispielsweise noch bis 2020 der Auffassung, Aufarbeitung und Aufklärung wäre eine Sache der Bischöfe und des Klerus. Der Synodale Weg, inhaltlich und politisch begründet auf der Missbrauchskrise, startete vollkommen ohne offizielle Betroffenenbeteiligung und diese wurde erst durch Netzwerkarbeit und Hinterzimmerdiplomatie möglich. Das, was in allen Bereichen der katholischen Kirche in Deutschland normal ist, existiert für die Betroffenenbeteiligung nicht: Eine Vernetzung diözesaner und überdiözesaner Betroffenenbeiräte auf der Bundesebene wird aktuell 2023 auf Initiative des Betroffenenbeirats bei der Deutschen Bischofskonferenz diskutiert; bisher hat man das Thema möglichst umgangen.
Dort, wo es zu diesem direkten und unmittelbaren Austausch kommt, wo Gemeindemitglieder die eigene Pfarrei als Tatort identifizieren müssen, wo es zu einer starken und sehr intensiven Auseinandersetzung mit den Gewalttaten kommt, dort setzt bei nicht wenigen Menschen ein Prozess der Reflexion ein, die in nicht wenigen Fällen auch zu einer veränderten inneren Haltung führt. Infolgedessen stellt man eine deutlich höhere Sensibilität für den Missbrauchskomplex an sich, aber auch eine höhere Akzeptanz von Präventionsmaßnahmen fest.

Sind dann die ganzen Präventionsschulungen, Schutzkonzepte und Maßnahmen umsonst gewesen?

Man wäre fast versucht, diese Frage mit einem eindeutigen Ja zu beantworten und so weit ist diese Antwort ja auch nicht von der Realität entfernt, betrachtet man die eingangs gegebenen Beispiele aus Gemeinde und Weltkirche.
Die Präventionskurse basieren auf diözesanen Schulungscurricula, die nahezu alle Ausdruck einer hohen fachlichen Expertise und Ergebnis intensiver Entwicklungsprozesse sind. Selbstverständlich sind sie gut geeignet, wirksame, präventiv und nachhaltig wirkende Akzente gegen fortgesetzte sexualisierte Gewalt zu setzen. Mit den diversen Angeboten, die sich in den letzten Jahren im Raum der katholischen Kirche entwickelt haben, steht in der Fläche ein qualitativ hochwertiges Instrumentarium zur Verfügung, wie es bisher kaum eine andere Organisation aufzustellen in der Lage war. Daneben hat sich in den zurückliegenden Jahren ein ebenfalls flächendeckendes Netzwerk von fachlich hochversierten und ebenso engagierten Referent/- innen entwickelt, so dass auch die umfassende Methodenkompetenz zur Verfügung steht.

Präventionskurse müssen auf fruchtbaren Boden, auf sensible Menschen treffen

All das muss aber auf Menschen treffen, die nicht dienstverpflichtet oder mit hohem sozialen Druck an Präventionsmaßnahmen teilnehmen müssen. Die Teilnahme an einer Präventionsschulung macht nur dann wirklich Sinn, wenn die besondere Bedeutung, auch gesamtgesellschaftlich, für sich und für die Organisation, in dessen Kontext die Schulungen stattfindet, vom Einzelnen wahrgenommen wird.
Diese Erkenntnis führt in nicht wenigen Diözesen aktuell zu einer Evaluation der Präventionsmaßnahmen und insbesondere der Präventionsschulungen und in deren Folge sicherlich zu zahlreichen Anpassungsmaßnahmen. Aber kein Engagierter in der Gemeinde oder einem Verband muss auf die Evaluationsergebnisse und die gegebenenfalls sich dann anschließende Novellierung eines Schulungsinstrumentariums warten.
Alle deutschen Bistümer verfügen mittlerweile über Stabstellen zum Präventions- und Interventionsmanagement sowie Beiräte mit sprachfähigen Betroffenen sexualisierter Gewalt. Diese Strukturen und dieses Engagement kann man sich bereits heute für die Gemeinde- oder Verbandsarbeit zu Nutze machen. Es muss nicht erst zu einer krisenhaften Situation im Kontext einer Missbrauchsstudie kommen, in der eine Gemeinde oder eine verbandliche Gruppierung als Tatort identifiziert wird. Dabei stehen unterschiedliche Zugänge zur Verfügung: Die direkte, persönliche Auseinandersetzung – viele Betroffene sexualisierter Gewalt stehen zu Gesprächen gerne zur Verfügung, man muss nur auf sie zugehen und sie einladen! Oder man wählt einen inhaltlichen Einstieg: Über Sätze wie „Das kann ich mir überhaupt nicht vorstellen!“ oder „So was macht der Kaplan nicht!“ lassen sich vortrefflich und gute Seminareinheiten entwickeln, die vordergründig erst einmal nichts mit dem eigentlichen Thema zu tun haben mögen, aber bei näherer Betrachtung eine gute Tuchfühlung ermöglichen, denn: Missbrauchsopfer haben das Unvorstellbare erlebt und das Ganze von einem Menschen, dem solch eine Straftat und Gewalt ebenfalls nicht zugetraut worden ist. Möglichkeiten gibt es eine Vielzahl schon heute, man muss sich ihnen nur öffnen.

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