Die sakramentale Ehe – ein obsolet gewordenes Modell?Chancen von Ehe und Familie in einer pluralen, sich nicht festlegenden Gesellschaft

Der 2021 erschienene Neunte Familienbericht der Bundesregierung mit dem Titel „Eltern sein in Deutschland“ betont unter anderem, dass das Familienleben heute vielfältiger und bunter als noch vor zehn oder zwanzig Jahren geworden ist. Immer mehr Kinder wachsen bei nur einem Elternteil oder in „Patchwork-“ und „Regenbogenfamilien“ auf, das klassische Bild von Vater, Mutter, Kind sei einem Wandel unterworfen.

Fazit

Unsere Gesellschaft ist in den letzten Jahrzehnten vielfältiger und bunter geworden und damit haben auch die unterschiedlichen Konstellationen von Partnerschaften, Ehen und Familien zugenommen. Dennoch ist das von der Kirche favorisierte Modell von Ehe, einer auf Unauflöslichkeit beruhenden heterosexuellen Partnerschaft mit der prinzipiellen Offenheit für die Weitergabe von Leben keineswegs obsolet geworden. Nicht alles ist beliebig. Daher bedarf es einer dauerhaften pastoralen Anstrengung, um Paare, die bereit sind, ihre Partnerschaft auch vor Gott zu tragen, auf eine sakramentale Ehe vorzubereiten und sie, wenn es gewünscht ist, während der ganzen Zeit ihrer Ehe zu begleiten. Wir müssen für sie da sein, wann immer sie uns benötigen, gleich in welcher Phase ihres Ehe- und Familienlebens. Zu unseren Aufgaben gehören aber natürlich auch der Respekt vor anderen Lebensentwürfen und eine Pastoral, die sich aller Menschen annimmt

Diese Aussagen treffen zweifellos zu. Man kann jedoch die Fragen stellen, ob dies ein allgemeiner, fortschreitender Trend und es daher nur noch eine Frage der Zeit ist, bis es die herkömmliche Form von Familie nicht mehr gibt? Ob das dauerhafte Zusammenleben von Ehepaaren in Form der Familie mit ihren Kindern eine immer unbedeutender werdende Lebensform ist? Ob sie kurzfristigen Bindungen und Partnerschaften mit sogenannten Lebensabschnittspartnerinnen und -partnern, die im Verlauf des Lebens wechseln, und einem generell eher hedonistisch auf Selbstentfaltung und Selbstverwirklichung ausgerichteten Lebensentwurf weicht?

Ein Blick auf die Fakten

Ganz einfach sind diese Fragen nicht zu beantworten, weil unterschiedliche Motive in unterschiedlichen Lebensabschnitten eine Rolle spielen. Heutzutage dauern die Berufsausbildung und das Finden einer ersten festen Arbeitsstelle oftmals sehr lange. Dies nimmt Einfluss auf die Entscheidung zur Eheschließung, womit das durchschnittliche Heiratsalter steigt. Derzeit liegt es für Männer und Frauen bereits deutlich über 30 Jahren, was wiederum einen Einfluss auf die Nachwuchsplanung hat. Nicht immer sind die individuellen Entscheidungen allein vom eigenen Willen abhängig, private und gesellschaftliche Möglichkeiten und Anreize sind oft maßgebliche Faktoren. Wenn junge Menschen in den ersten Jahren des Berufslebens nur befristete Arbeitsverträge erhalten, beeinflusst dieser Umstand gewiss ihre Lebensplanung. Die gesellschaftlichen Bedingungen für die private Lebensführung haben sich seit den 1960er Jahren sehr stark gewandelt. Soziale Kontrolle und Diskriminierungen bestimmter Lebensformen haben abgenommen, die wirtschaftlichen Bedingungen für die Partner sind ausgeglichener, die Zusammensetzung der Gesellschaft wird durch die Zunahme der Menschen mit Migrationshintergrund vielfältiger. Auch in religiöser Hinsicht haben sich die Gewichte in den letzten Jahrzehnten verschoben. Die Zugehörigkeit zu den beiden großen Kirchen hat prozentual deutlich abgenommen. Auch durch den Wegfall oder den Bedeutungsverlust der religiösen oder kirchlichen Schließung einer Ehe verlieren Ehe und Familie für viele ihre früher deutlich stärker gegebene Selbstverständlichkeit.
Moderne, ausdifferenzierte und auf demokratischen Prinzipien basierende Gesellschaften ziehen sich aus der Gestaltung des Privatlebens der Einzelnen zurück und versuchen einen Lebensraum zu ermöglichen, in dem Leben in Freiheit, Sicherheit und Prosperität in hohem Maße eigenverantwortlich gestaltet werden kann. Dem Staat obliegt dabei die günstige Gestaltung der Rahmenbedingungen. Die Bürgerinnen und Bürger können ihr Leben umfassend selbst gestalten, sind aber vor vielfältige individuelle Entscheidungen gestellt. Die Zurückhaltung bei der Bindung an große, überindividuelle Einheiten spüren die politischen Parteien, Gewerkschaften, Verbände und nicht zuletzt die Kirchen sehr deutlich.
Da der bzw. die Einzelne ohnehin ständig neue Entscheidungen treffen muss, scheint es gar nicht nötig, auch im privaten Lebensbereich langfristige Bindungen und Verbindlichkeiten einzugehen. Dies scheint in „normalen“ Zeiten, vor allem bei jungen Erwachsenen, recht gut zu funktionieren. Bisweilen wird die Generation der 20- bis 30-Jährigen gar als „Generation Maybe“ bezeichnet, als Generation der Unentschlossenen.

Bleibende Fragen

Allerdings stehen dabei einige Fragen im Raum: Sind alle Menschen dazu in der Lage, selbstverantwortlich und wohlüberlegt die große Anzahl an Entscheidungen zu treffen, die in ihrem Leben nötig sind? Werden dabei nicht insbesondere junge Menschen überfordert und halten sich deshalb ihre Wahlmöglichkeiten offen? Gibt es nicht viele Menschen, die eine soziale Einbettung stärker als andere benötigen, um ihr Leben meistern und stabilisieren zu können? Sie scheitern womöglich an der Unübersichtlichkeit, ziehen sich zurück oder schließen sich populistischen Bewegungen mit zweifelhaften Thesen an, weil sie meinen, dort eine Beheimatung zu erleben.
Haben wir nicht gerade in Zeiten der Corona-Pandemie und in den ersten Tagen und Wochen nach der verheerenden Flutkatastrophe im letzten Sommer erlebt, dass in diesen Krisensituationen soziale Bindung und gesellschaftliche Kohäsion die richtigen Wege waren, nicht das Pochen auf Individualität und eigene Stärke? Es war für mich sehr bemerkenswert zu sehen, dass in keinem Statement zu den Hilfen für die Opfer der Flutkatastrophe die materielle Hilfe an erster Stelle genannt wurde. Dass auch sie nötig war und ist, wird keiner leugnen wollen. Aber stets wurde zuerst die überwältigende Solidarität genannt: dass sich Menschen für andere Menschen einsetzen unter Hintanstellung ihrer eigenen Interessen. Dass man sich verlassen kann auf Familie, Verwandte, Freunde, Nachbarschaft und sogar auf eine große Anzahl von Fremden, die solidarische Hilfe als eine wesentliche Komponente der Mit-Menschlichkeit erkannt haben. Trotz aller gut funktionierenden Institutionen und Systeme ist das empathische Engagement, das Füreinander-Einstehen nicht obsolet geworden.
Wir sollten uns immer wieder ernsthaft fragen: Was hält eine Gesellschaft zusammen, welches sind die Dinge, die sie menschlich machen und ihren Fortbestand in einer humanen Weise sichern? Die kleinste und stabilste Zelle solch eines menschlichen Miteinanders ist nun einmal die Familie, in deren Zentrum die langfristige Bindung eines Paares steht, jedenfalls in den überwiegenden Fällen von Familie. Im Kern bleibt es die dauerhafte Aufgabe der Familienpolitik, günstige Rahmenbedingungen für eine langfristige Bindung von Paaren zu schaffen, denn sie bildet die beste Grundlage für die Erziehung von Kindern. Sind die Rahmenbedingungen günstig, hat die Paarbindung gute Chancen, zu einer Familiengründung zu führen, einem Miteinander von erwachsenen Personen mit ihren Kindern.

Erfahrungen

Bei Visitationen führe ich oft Gespräche mit Paaren, die gerade geheiratet haben oder demnächst heiraten werden. Sie erzählen mir, welches Interesse und welche Fragen sie bei ihren Freundinnen und Freunden oder Kommilitoninnen und Kommilitonen wecken. Oft gehörte Fragen sind dann: Warum soll man überhaupt heiraten? Was interessiert den Staat unsere private Lebenssphäre? Nur noch eine begrenzte Zahl von Menschen, die in einer festen Beziehung leben, wollen staatlich heiraten. Wenn sich ein Paar dann zusätzlich zur kirchlichen Hochzeit entschließt, lautet die Frage: Warum wollt ihr jetzt auch noch christlich heiraten, was soll das? In dem Fall, dass ein Paar katholisch heiratet, sind die Fragen gerade in Berlin noch von einem viel stärkeren Unverständnis geprägt: Ihr heiratet katholisch, da dürft ihr euch ja gar nicht mehr scheiden lassen. So sind diese Paare immer stärker herausgefordert, ihre Entscheidung argumentativ zu vertreten.
Besteht bei jungen Menschen eine überproportional große Aversion gegen die katholische Ehe? Oder haben wir als Kirche bei einem Ehealter von durchschnittlich mehr als 30 Jahren bereits den Anschluss an die jungen Menschen weitgehend verloren? Ein kurzer Blick in die 18. Shell-Jugendstudie (2019) kann helfen zu verifizieren, was junge Leute für wichtig halten und ob wir mit unseren Vorstellungen von Ehe und Familie so falsch liegen.

Auf Zukunft hin: Was halten junge Leute für wichtig

Die auf empirischen Untersuchungen beruhenden Shell-Jugendstudien werden schon seit 1953 herangezogen, um Erkenntnisse über Werte, Gewohnheiten und das Sozialverhalten von Jugendlichen in Deutschland zu erhalten. Was die Frage nach den Wertorientierungen betrifft, so bestätigt die 18. Jugendstudie erneut, dass Familie und Beziehungen die zentralen Orientierungspunkte für die eigene Lebensführung sind. Sie werden noch höher bewertet als Eigenverantwortlichkeit und Unabhängigkeit. Weiterhin geben ca. 70 Prozent der Jugendlichen einen Kinderwunsch an.
Die Hochschätzung der Werte Familie und Beziehungen und die unverändert hohe Kinderwunschquote bieten günstige Voraussetzung für das, was wir unter Ehe und Familie verstehen. Unser Bild einer dauerhaften Partnerschaft in Form einer Ehe, die für gläubige Menschen auch ein Bitten um Gottes Segen umfasst, ist offenbar so unmodern nicht. Auch die statistischen Daten belegen, dass immerhin zwei Drittel der Ehen halten und minderjährige Kinder zu 70  Prozent in einer Ehe aufwachsen. Offenbar ist die Lebensform Ehe auch heute noch die bei weitem präferierte Form der Paarbeziehung.
Dennoch lässt sich die kirchliche Sicht von Ehe und Familie nicht so einfach an diese Befunde anschließen. Unser Verständnis von einer sakramentalen Ehe erschließt sich nur eingebettet in das Gesamt der Glaubensüberzeugung. Die Ehe als ein Sakrament macht die unwiderrufliche Liebe Gottes zu den Menschen sichtbar und weist damit weit über das Säkulare hinaus. Gott selbst segnet und heiligt die Liebe von Mann und Frau. Er ist es, der ihre Verbindung unauflöslich macht, weil sie ein Abbild seiner unwiderruflichen Liebe zu den Menschen sein soll. Wenn das Brautpaar feierlich und in kirchlicher Gemeinschaft seine Ehe in der kirchlichen Trauung schließt, bekundet es, dass es seine Ehe im Glauben an Gott führen will. Dafür erbittet das Brautpaar Gottes Segen und seinen Beistand und verspricht sich Treue in guten wie in schlechten Tagen. Außerdem bestätigt das Brautpaar seine Mitverantwortung in der Kirche und in der Welt. Damit wird die kirchlich geschlossene Ehe zu einem Glaubenszeugnis in unserer säkularen Gesellschaft, zum gelebten Glauben. Die Ehe, zur Familie geworden, ist auch der erste Ort der Weitergabe des christlichen Glaubens an die Kinder, gerade in der Verbindlichkeit dieser Lebensform. Dies ist von unschätzbarem Wert für den Fortbestand unseres Glaubens.
Das sakramentale Verständnis von Ehe muss von den Herkunftsfamilien, den Pfarreien, den kirchlichen Gemeinschaften und den Seelsorgenden aber auch vermittelt werden. Dazu bedarf es auf Seiten der Kirche sicherlich einer guten Hinführung zum Sakrament der Ehe, worauf auch Papst Franziskus in Amoris laetitia hinweist. Da häufig keine ungebrochene Verbindung der Brautleute zur Kirche mehr besteht, ist dies umso nötiger. In der Familienkommission der Deutschen Bischofskonferenz haben wir intensiv über die Bedeutung einer gründlichen Hinführung zum Ehesakrament diskutiert, unter dem mehr verstanden wird als eine schöne Traufeier. Mit dem vom Ständigen Rat der Deutschen Bischofskonferenz im Jahr 2018 veröffentlichten Flyer „Eckpunkte zur Ehevorbereitung – für die Hand der Seelsorgenden“ haben wir versucht, einige Standards der Ehevorbereitung zu beschreiben.
Ebenso wichtig ist eine Begleitung der Eheleute bis in das hohe Alter hinein. Auch mit dieser Frage hat sich die Familienkommission beschäftigt und dem Ständigen Rat den Text „Eckpunkte zur Ehebegleitung und Ehespiritualität – für die Hand der Seelsorgenden“ vorbereitet, der im Jahr 2021 erschienen ist. Hier geht es unter anderem darum, Paare als Paare bewusster in den Blick zu nehmen und ihnen in ihren je unterschiedlichen Lebenssituationen zu begegnen. Es ist eine andauernde, anspruchsvolle Aufgabe für unsere Seelsorgenden in einer Zeit, in der die Bindung an die Kirche schwindet.
Es ist mir auch wichtig darauf hinzuweisen, dass Kirche bei allen Menschen sein will. Wir schließen niemanden aus, der aus welchen Gründen auch immer sein Leben anders gestaltet oder gezwungen ist, zu gestalten. Wir wollen eine Weggemeinschaft anbieten auch mit Unverheirateten, mit Alleinerziehenden und Getrennten. Auch Paare – deren Anzahl nimmt zu –, bei denen ein Partner nicht religiös ist, sind uns selbstverständlich willkommen. Wir würden unseren Auftrag gründlich falsch verstehen, wenn wir Menschen ausschließen.

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