Erfahrungen aus der PräventionsarbeitFür eine Kultur des achtsamen Miteinanders

Damit Kinderschutz wirksam wird, braucht es nicht nur eine gezielte Stärkung der Kinder. Es braucht vor allem den bewussten Blick auf die erwachsenen Akteure und die verschiedenen Zusammenhänge, in denen sich Kinder, aber auch schutz- und hilfebedürftige Erwachsene im Raum der Kirche bewegen. Das zeigen Erfahrungen aus der konkreten Präventionsarbeit. Sie schärfen den Blick und geben Anstöße zur Weiterentwicklung.

Inzwischen ist die im katholischen Bereich gestartete Präventionsarbeit schon einige Jahre erprobt. Die MHG-Studie konstatiert: „Die Bemühungen der katholischen Kirche um eine gute Präventionsarbeit sind zu begrüßen und können in Teilen als Modell für andere Institutionen dienen.“ (Harald Dreßing u. a., Forschungsprojekt Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, Mannheim/ Heidelberg/ Gießen 2018; im Internet abrufbar unter: www. dbk.de – Dossier Sexueller Missbrauch). Das hängt auch damit zusammen, dass der umfassende Ansatz ein Alleinstellungsmerkmal ist. Denn bedingt durch die vielfältigen Einrichtungen und Dienste in katholischer Trägerschaft sind einerseits die Felder der territorialen und kategorialen Pastoral einbezogen, ebenso aber auch katholische Einrichtungen der Bildung, der Erziehung, der Beratung, der Pflege und im Gesundheitswesen. In ganz unterschiedlichen Trägerstrukturen (pfarrliche, diözesane oder caritative Träger, Ordensträger, gGmbHs, e.V.s usw.) wird mit den jeweils aktiven Berufsgruppen auf das Ziel hingearbeitet, eine Kultur achtsameren Miteinanders aufzubauen. Außer in den US-amerikanischen Diözesen, wo der Prozess bereits nach 2002 begann, wurde bislang nirgendwo sonst ein gesellschaftlich so breit aufgestellter Präventionsansatz angegangen. Inzwischen liegen Erfahrungen mit Chancen und Stolperfallen vor, wenn es darum geht, achtsames präventives Handeln als Standard in der ganzen Breite kirchlicher Lebens- und Arbeitsfelder zu etablieren.

Prävention braucht Kulturveränderung und Kulturveränderung braucht Erschütterung

Die Überschrift über die katholische Präventionsarbeit haben die deutschen Bischöfe schon in ihrer ersten Rahmenordnung gesetzt. Es geht um die Entwicklung hin zu einer neuen Kultur des achtsamen Miteinanders (Aufklärung und Vorbeugung. Dokumente zum Umgang mit sexuellem Missbrauch im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz, Arbeitshilfe 246, 3. Aufl., Bonn 2014, A.1; im Internet abrufbar unter www.praevention-kirche.de).
Dabei führt das Ziel einer Kulturveränderung notwendig zu Erschütterungen. Denn es bedarf einer aktiv gesteuerten und nicht nur evolutiven Kulturveränderung. Im Feld der Prävention wird die dazu nötige Erschütterung durch den Umstand ausgelöst, dass sexualisierte Gewalt gerade dort ausgeübt wurde, wo ein sicherer Raum sein sollte und dazu ausgerechnet von denen, denen man am meisten vertraute.
Präventionsschulungen bieten die Chance, erste Schritte aus der erschütternden Erkenntnis heraus zur Veränderung zu gehen. Wichtig ist, dass Schulung nicht als ein Sonderraum erlebt wird, aus dem man zu den Kolleginnen, Kollegen und den Vorgesetzten sowie den Routinen des Alltags zurückkehrt, um dann festzustellen, dass alles, was man besprochen hat, nur schwierig oder gar nicht seinen Platz im beruflichen Regelgeschäft findet.
In der Präventionsarbeit des Bistums Trier hat es sich daher bewährt, bei Schulungen die Personen gemeinsam anzusprechen, die auch sonst zusammenarbeiten. Die Schulungen werden so geplant, dass soweit wie möglich das gesamte Personal einer Einrichtung oder eines Dienstes an einem Tag gemeinsam eine Präventionsschulung durchläuft. Dazu werden die Konzepte mit den jeweiligen Fachabteilungen abgestimmt. Es gibt Vorgespräche und Planungen vor Ort. Und es ist eine methodische Dramaturgie der Veranstaltungen vorgesehen, bei denen Plenum und Gruppenphasen abwechseln. Im Plenum geht es darum, die Position des Bischofs, der jeweiligen Fachabteilung bzw. der Einrichtungsleitung deutlich zu machen. Denn die neue Kultur muss überzeugend von der Leitung vertreten werden, damit sie auch von allen Mitarbeitenden angenommen wird.
Eine solche Schulung ist aufwändig. Man muss für einen Tag den Alltag ruhen lassen und sich Zeit für einen Studientag nehmen. Vor allem bedarf es einer sorgfältigen Vorbereitung, die die Schulungskonzepte an das jeweilige institutionelle Setting anpasst: Eine Kindertagesstätte „funktioniert“ anders als ein Gymnasium. Die Arbeit in Beratungsstellen unterscheidet sich von der Pastoral in einem Dekanat. Aber der Aufwand lohnt sich, wenn diejenigen, die teilgenommen haben, anschließend in ihrem Berufsalltag in dem Bewusstsein arbeiten können, dass alle dieselbe Wissensgrundlage haben und man sich auf eine professionelle Haltung für die weitere Arbeit verständigt hat.
Wenn es gelingt, das Format der Schulung an einen Bereich anzupassen, dann kann erfahrbar werden, was Erschütterung auch bedeutet: In den Teilnehmenden wird eine Sehnsucht und Energie freigesetzt, die zu einer neuen Kultur hinstrebt. Dann kann sich „Revolution“ im Wortsinn ereignen, d. h. Rückbesinnung auf das Ziel, das jeden in diesen Bereichen Tätigen motiviert hat, den Beruf zu ergreifen: nämlich Minderjährigen oder Erwachsenen, die sich einem anvertrauen, zu dienen und ihnen zu helfen, dass ihr Leben gelingt.
Schulungen sind aber nur ein erster Schritt. Jeder Personalwechsel stellt erneut vor die Aufgabe, den „Neuling“ in die Kultur der Einrichtung aufzunehmen. Zudem muss geklärt werden, ob eine Schulung überhaupt möglich ist. Wenn zeitgleich eine Intervention wegen eines akuten Falls läuft, dann braucht es Begleitung der Akteure vor Ort, keinen Studientag. Unter Umständen bestehen noch Irritationen aus einem früheren Missbrauchsfall, die vom jeweiligen „System“ Pfarrei, Einrichtung oder Gruppe nicht strukturiert bearbeitet werden konnten. Das lähmt. In solchen Fällen bedarf es zunächst einer „tertiären“ Prävention, die dazu hilft, die Irritationen zu verarbeiten, indem man zum Beispiel die Personen vor Ort dabei unterstützt, ihre je persönliche Betroffenheit ins Wort zu heben, und damit unter ihnen den Prozess der Verarbeitung wieder in Gang setzt.

Prävention braucht Haltung, aber Haltung muss in geübte Gewohnheit übersetzt werden

Dass es nicht leicht ist, aus einem guten Start heraus weiterzugehen, gehört zur ernüchternden Erfahrung unseres Alltags. Es ist leicht, in der Theorie eine klare ethische Haltung einzunehmen: Regelmäßig ist die Empörung spürbar, sobald es um das Thema sexualisierte Gewalt geht. Aber die Realität ist nicht schwarz und weiß. Sie ist bunt oder grau, mit vielen Abstufungen in den hellen und in den dunklen Tönen. Oft geht es im Alltag um Situationen, die nicht eindeutig sind. Und im konkreten Vollzug stellen sich dann viele Fragen ein: „Habe ich gesehen, was ich denke, oder bilde ich mir das ein? Ist das, was mein Kollege bzw. meine Kollegin macht, noch professionelle Nähe oder schon eine Grenzüberschreitung? Bin ich überhaupt derjenige, der hier einschreiten kann? Kann überhaupt sein, dass das, was ich vermute, zutrifft? Und wenn ich falsch urteile? Was ist, wenn ich selbst falsch beschuldigt werde? …“ All das sind sehr berechtigte Fragen, die es sorgfältig abzuwägen gilt. Das Risiko besteht darin, dass man sich in einen Zirkel von nicht lösbaren Abwägungen verfängt und am Schluss wie Herr Palmström im Gedicht von Christian Morgenstern endet: „Und er kommt zu dem Ergebnis: Nur ein Traum war das Erlebnis. Weil, so schließt er messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf.“ – Und wegschaut.
Haltung wird erst dann hilfreich, wenn sie geübte Gewohnheit wird. Das aber setzt Übung voraus. Daher sind praktische Trainings wichtig, in denen z. B. die unangenehme Situation erprobt wird, einen Kollegen auf eine bestimmte Wahrnehmung hin anzusprechen. Spielerische Einübung in eine größere Achtsamkeit Schon bei der Form des Übens kann ein Perspektivwechsel hilfreich sein. In Kooperation mit Studierenden des Bereichs Design der Hochschule Trier hat die Fachstelle Kinder- und Jugendschutz des Bistums Trier das bereits prämierte Gesellschaftsspiel „Ich sehe was, was du nicht siehst“ entwickelt. Dieses Spiel funktioniert wie viele solcher Brettspiele: Man würfelt, zieht bestimmte Karten und hat dann Aufgaben im Team zu lösen. Alle Aufgaben entspringen den Bereichen, die für die Prävention gegen sexualisierte Gewalt wichtig sind. So geht es zum Beispiel um

  • die Schulung der Wahrnehmung: Kurz wird eine Bildkarte gezeigt und dann in der Gruppe besprochen, was an dem Bild aufgefallen ist bzw. irritiert hat. Durch diese Übung werden Grenzen unseres Sehens sowie Gruppeneffekte erlebbar;
  • Gefühle: Einer der Spielenden soll ohne Worte ein Gefühl darstellen, das zu der auf der Karte beschriebenen Situation passt. Die anderen versuchen zu erraten, worum es geht. Dabei wird ansichtig, wie unterschiedlich die Gefühle sind, die einzelne Personen in bestimmten Situationen empfinden. Einerseits ist es durchaus möglich, Gefühle des Gegenübers zu erahnen, selbst wenn der andere nichts sagt. Andererseits kann man sich darin auch täuschen;
  • die Bewertung von geschilderten Situationen. Wie bewerten die Mitglieder der Gruppe die Situation: Geht es um eine Grenzverletzung? Ist das schon eine Straftat?
  • Schließlich gibt es – sozusagen als „Königsklasse“ – Karten mit der Schilderung von Situationen und der Aufforderung, sich kurz abzusprechen und dann einen Vorschlag zu machen, wie man die Problematik konkret angehen könnte.

Der spielerische Umgang mit dem Thema mag auf den ersten Blick befremdlich erscheinen. Aber die Erfahrung mit dem Spiel deutet darauf hin, dass eine solche Herangehensweise für das Lernen wirksam ist. Denn damit wird ein Erprobungsraum zur Verfügung gestellt, der eingefahrene Muster unterbrechen hilft. Darüber hinaus erleichtert er den Umgang mit der Thematik der sexualisierten Gewalt, der sich viele nur mit Vorsicht nähern, vielleicht auch deshalb, weil das Thema zu nah an eigenen biographischen Erlebnissen ist.

Prävention braucht Nachhaltigkeit und Nachhaltigkeit braucht Kümmerer

Die anspruchsvolle Aufgabe der Präventionsarbeit beginnt eigentlich erst, wenn die Empörung verebbt ist und der berufliche Stress sich wieder einstellt. Das Funktionieren im Alltag fordert seinen Tribut. Psychologische Untersuchungen zeigen, wie leicht sich dabei eine Unachtsamkeitsblindheit einstellt. Sehr schnell wird man wieder blind für das, was einen vorher stark beschäftigt hat. Auch das hat seinen Grund: Schon Gerhard Roth hat darauf hingewiesen, dass die Gesamtmenge an Aufmerksamkeit, die einem Menschen pro Zeiteinheit zur Verfügung steht, konstant ist. Das bedeutet: „Je mehr Aufmerksamkeit ich auf bestimmte Geschehnisse konzentriere, desto geringer ist die Menge der gleichzeitig konzentriert verfolgbaren Geschehnisse, und umgekehrt.“ (Gerhard Roth, Das Gehirn und seine Wirklichkeit. Kognitive Neurobiologie und ihre philosophischen Konsequenzen, Frankfurt a. M. 1997, S. 221f.) Je mehr alle gefordert sind, die alltäglichen beruflichen Herausforderungen zu bestehen, umso weniger Zeit bleibt einer Einrichtung, Pfarrei, Pfarreiengemeinschaft o. Ä., sich an die grundlegenden Werte und Handlungsmaximen zu erinnern.
Für die Erinnerung bedarf es deshalb einer eigenen Anwaltschaft. Dafür sieht die Rahmenordnung Prävention der Deutschen Bischofskonferenz die Funktion einer „für Präventionsfragen geschulten Person“ vor. Sie gehört in das Qualitätsmanagement der institutionellen Schutzkonzepte (Rahmenordnung Prävention B. I. 6.).
Im Bistum Trier wird dies in den verschiedenen kirchlichen Bereichen in jeweils angepasster Form umgesetzt. So gibt es die geschulten Personen unter der Bezeichnung „Präventionskräfte“ in den Bistumsschulen, in den katholischen Krankenhäusern dagegen heißen sie „Ombudspersonen“.
Um einen Kümmerer für die Prävention in einem institutionellen System zu installieren, bedarf es einer maßgeschneiderten Vorgehensweise je nach Einrichtungskultur: Es müssen geeignete Menschen gefunden werden, die in den Einrichtungen gut verankert sind und Vertrauen genießen. Sie müssen Mitarbeitende sein, die ein inneres Interesse an dem Themenfeld haben und diesem gewachsen sind. Sie bedürfen der Ausbildung, in deren Verlauf dann definitiv geklärt wird, ob die Leitung bzw. die vorI gesehene Person der Übertragung der Aufgabe wie geplant zustimmt. Ist eine Person in einer Einrichtung installiert und bekannt gemacht, muss ihr die effektive Möglichkeit gegeben werden, zu wirken und sich zu vernetzen. Darüber hinaus braucht es kollegialen Austausch und Fortbildung. Denn die Aufgabe der Prävention sieht sich angesichts der schnelllebigen Zeit, in der wir uns bewegen müssen, vor immer neuen Herausforderungen. Man denke nur an den gesamten Bereich der digitalen Welt.
Insoweit ist der Austausch von Good-Practice-Beispielen so wichtig, braucht es Evaluation und kreative Ideen. Aber all das kann auf den Elementen aufbauen, die als Meilensteine bereits erreicht worden sind.

FAZIT

Damit Präventionsarbeit im Sinne des Kinderschutzes im Raum der Kirche Erfolg zeigt, braucht es eine Kultur des achtsamen Miteinanders. Diese Kultur lebt von der entsprechenden Haltung aller Verantwortungsträger. Damit eine solche Haltung nicht nur Appell bleibt, sondern auch im konkreten Handeln wirksam wird, muss sie praktisch eingeübt und strukturell abgesichert werden.  

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