Oasen des Alltags neu entdeckenSpirituelle Oasen als Kraftquellen

Das Wort „Oase“ kommt vom griechischen „Oasis“. Die Griechen haben dieses Wort von den Ägyptern übernommen. Die Ägypter hatten Erfahrungen mit der Wüste. Doch in der Wüste gibt es Oasen, gibt es fruchtbare Wasserstellen. In der Oase wachsen mitten in der Wüste fruchtbare Bäume, Gemüse und Früchte. Da entsteht mitten in der Wüste Leben. Und man kann sich dort niederlassen, sich erfrischen und stärken. Das ist ein Bild für unser Leben.

Fazit

Mitten in der Wüste unseres Alltags gibt es genügend Oasen, in denen wir Erfrischung, Ruhe und Stärkung erfahren dürfen. Aber es liegt an uns, diese Oasen auch aufzusuchen und sie uns zu gönnen. 

Manchmal erfahren wir unser Leben als Wüste. Wir sind innerlich vertrocknet und ausgedörrt. Da brauchen wir spirituelle Oasen, um uns wieder zu erfrischen und zu stärken. Manchmal haben wir auch den Weg und die Orientierung verloren. Oasen zeigen uns wieder den Weg. Unser Weg durch die Wüste geht von Oase zu Oase. So werden wir sicher unser Ziel erreichen.

Die Stille als Oase

Eine wichtige Oase, die wir in der Wüste unseres Alltags brauchen, ist die Stille. Wir sind ständig von Lärm umgeben. Wenn wir durch die Stadt fahren, begegnen wir nicht nur dem Autolärm, sondern auch den lärmenden Mengen. Von Radio und Fernsehen werden wir mit Lärm umrieselt. Da brauchen wir Orte der Stille. Die Stille ist etwas, was uns vorgegeben ist. Es gibt Räume der Stille, in die wir eintauchen können, um selbst still zu werden. Der Wald, in dem wir spazieren gehen, ist still. Eine Landschaft ist still. Die Kirche, in die wir uns setzen, ist ein stiller Raum. Wenn wir mitten aus dem Lärm einer Stadt eine Kirche betreten und uns in eine Bank setzen, dann umgibt uns Stille. Und wir spüren, wie die Stille uns gut tut. Allerdings können viele mit der Stille nichts anfangen. Sie werden nach ein paar Minuten schon unruhig und stehen wieder auf. Die Stille lädt uns ein, selbst still zu werden. Doch da meldet sich der Lärm unserer Gedanken. Der Kopf wird nicht still. Er produziert ständig Gedanken. Wir werden die Gedanken nicht los, indem wir sie unterdrücken. Vielmehr geht es darum, alle chaotischen Gedanken zuzulassen und sie Gott hinzuhalten. Dann kommen wir langsam zur Ruhe. Und entscheidend ist, dass wir die Gedanken nicht bewerten. Solange wir sie bewerten, kommen wir nie zur Ruhe. Viele haben Angst, in die Stille einzutauchen. Sie haben Angst, in der Stille könnte ihnen aufgehen, dass ihr Leben nicht stimmt, dass sie an sich selbst vorbeileben. Jesus sagt: Die Wahrheit wird euch freimachen. Nur wenn ich mir erlaube, meine eigene Wahrheit Gott hinzuhalten, komme ich zur Ruhe. Dann erlebe ich die Stille als etwas, was meine Seele reinigt. Wir brauchen solche Reinigungsbäder der Stille, da die vielen Worte, die auf uns eindringen, unsere Seele oft verschmutzen.

Die Oase des Lesens

Für mich ist das Lesen eine Oase mitten in den Verpflichtungen, die von außen auf mich einströmen. Ich setze mich bequem hin und lese ein Buch, das ich mir bewusst ausgesucht habe. Ich tauche ein in eine andere Welt. Ich komme beim Lesen in Berührung mit dem inneren Reichtum meiner Seele. Es geht beim Lesen nicht darum, etwas zu entdecken, über das ich predigen kann. Wir sollen Lesen nicht verzwecken. Es tut einfach gut, im Lesen einzutauchen in eine andere Welt als die Welt, die mir täglich begegnet. Das Lesen ist für mich eine heilige Zeit, eine Zeit, die mir gehört. Lesen hält mich lebendig. Ich gönne mir die Zeit zum Lesen. Lesen ist etwas anderes als im Fernsehen von irgendwelchen Informationen berieselt zu werden. Und es ist etwas anderes als im Internet nach ein paar Informationen zu suchen. Es gibt eine Lesekultur. Gerade wir Seelsorger brauchen diese Kultur des Lesens. Sie hält uns lebendig.

Die Oase der Musik

Für mich ist auch die Musik eine wichtige Oase, in der ich mit der Quelle der Freude in Berührung komme, die in mir ist, die aber oft genug zugeschüttet ist mit Ärger und Enttäuschung. Der griechische Philosoph Platon meint, „choros = Gesang“ komme von „chara = Freude“. Das Singen bringt mich in Berührung mit der Freude, die in mir ist. Es weckt die Freude auf, die manchmal eingeschlafen ist. Viele, die im Chor singen, machen diese Erfahrung, dass sie nach der Chorprobe froher nach Hause gehen. In jedem Gottesdienst singen wir. Wir können es als Last empfinden oder als Weg, im Singen mit der inneren Freude in Berührung zu kommen. Für mich ist es eine gute Quelle, wenn ich mir Zeit gönne, Musik zu hören. Ich setze mich bequem hin und höre per Kopfhörer eine Bachkantate oder geistliche Musik von Mozart. Die Musik dringt in mich ein und verwandelt mich. Pythagoras hat Menschen durch Musik geheilt. Er war der Überzeugung, dass die Musik den Menschen, der innerlich durcheinandergeraten ist, dessen Schwingungen eine negative Weise angenommen haben, wieder in Ordnung bringt, dass sie seine Schwingungen wieder so verwandelt, dass sie seinem Wesen entsprechen. Wir müssen nicht erklären können, warum Musik uns gut tut. Aber es tut uns Seelsorgern gut, wenn wir die Oase der Musik nutzen, wenn wir uns gönnen, ins Konzert zu gehen und ganz offen zu sein für die Musik oder aber daheim bewusst Musik zu hören. Hören, so sagt Martin Heidegger, führt in die Geborgenheit.

Die Oase des Wanderns

Als Seelsorger sind wir zwar immer unterwegs, aber meistens mit dem Auto. Wir bewegen uns zu wenig. Da tut es nicht nur unserer Seele, sondern auch unserem Leib gut, wenn wir uns auf den Weg machen. Der tägliche Spaziergang, den wir uns gönnen, kann so eine Oase sein. Viele Seelsorger haben Angst, sich einen Spaziergang zu gönnen. Das könnten ja die Menschen so auslegen, als ob ich zu wenig zu tun habe. Aber wir sollen nicht auf die Erwartungen der andern hören, sondern auf die Stimme unseres Herzens. Sören Kierkegaard sagt einmal: „Ich kenne keinen Kummer, von dem ich mich nicht freigehen kann.“ Im Gehen kann ich vieles loslassen, was mich belastet: Ärger, Enttäuschung, Sorgen und Konflikte. Ich bin einfach im Gehen und überlasse mich dem Gehen. Das tut meiner Seele gut.
Manche Seelsorger gönnen es sich, an ihrem freien Tag eine längere Wanderung zu machen, entweder allein oder zu zweit oder in einer kleinen Gruppe. Das Wandern bringt mich nicht nur in Bewegung. Ich tauche auch in die Natur ein. Ich genieße den frischen Wind, die Sonne, die mich wärmt. Ich spüre die Lebendigkeit der Natur auch in mir selbst. Nach einer Tageswanderung fühle ich mich erfrischt. Manche wagen sich auch auf den Pilgerweg. Der Pilgerweg nach Santiago ist beliebt. Viele gehen den Weg in Etappen. Pilgern ist ein Bild für unser Leben. „Wir sind nur Gast auf Erden und wandern ohne Ruh“ heißt es in einem Lied. Im Pilgern spüren wir das Wesen unserer christlichen Existenz. Wir sind immer auf dem Weg auf Gott hin.

Die Oase des Rituals

Eine tägliche Oase ist das Ritual. Rituale, so sagen die Griechen, schaffen eine heilige Zeit. Heilig ist das, was der Welt entzogen ist, worüber die Welt keine Macht hat. Es ist gut, den Tag mit einem Ritual zu beginnen und ihn am Abend mit einem Ritual abzuschließen. Das Ritual gibt mir das Gefühl: Ich lebe selbst, anstatt gelebt zu werden. Die tägliche heilige Zeit gibt mir das Gefühl: Keiner hat jetzt Zutritt zu mir. Diese Zeit gehört jetzt allein mir und Gott. Ich kann aufatmen. Ich fühle mich frei. Wenn ich täglich eine heilige Zeit für mich habe, dann verwandelt das auch die übrige Zeit. Dann wird die Zeit nicht zum „chronos“, der mich auffrisst, sondern zum „kairos“, zur angenehmen Zeit. Wenn ich täglich die innere Freiheit beim Ritual spüre, dann werde ich auch fähig sein, mich von der übrigen Zeit nicht unter Druck setzen zu lassen. Ich werde fähig, ganz im Augenblick zu sein. Und dann ist die Zeit kein Gegner, den ich beherrschen muss. Ich bin ganz dort, wo ich gerade bin. Dann ist jeder Augenblick eine angenehme Zeit.
Rituale schließen eine Tür und öffnen eine Tür. Diese Funktion des Rituals ist gerade am Abend wichtig. Viele können die Tür der Arbeit nicht schließen. Wenn sie abends von einer Sitzung kommen, dann grübeln sie noch nach und kommen nicht zur Ruhe. Oder aber sie müssen den Frust zustopfen mit Essen, Trinken oder Fernsehen. Doch der zugestopfte Ärger wird sich in der Nacht in unruhigen Träumen Luft verschaffen. Und diese Träume – auch wenn sie mir gar nicht bewusst werden – prägen dann am nächsten Tag meine Stimmung. Ich wache mit einem diffusen Gefühl von Unzufriedenheit auf. So ist es gut, den Tag mit einem Ritual abzuschließen. Ich kann meine Hände Gott hinhalten und in diesen Händen den heutigen Tag mit allem, was war, ohne es zu bewerten. Manchmal habe ich das Gefühl, dass mir der Tag zwischen den Fingern zerronnen ist. Dann halte ich diesen zerronnenen Tag Gott hin und er wird durch das Ritual abgeschlossen und ganz. Ich kann ihn loslassen.

Die Oase der Müdigkeit

Viele Seelsorger klagen über Müdigkeit. Sie fühlen sich müde, weil sie keinen Erfolg spüren. Oder sie sind müde, wenn sie den ganzen Tag unterwegs waren, von einer Sitzung zur anderen. Viele überspringen die Müdigkeit und machen immer weiter. Doch dann wird sie zur chronischen Müdigkeit oder Lustlosigkeit. Die Müdigkeit gehört zu unserem Leben. Sie ist in der geistlichen Tradition sogar ein wichtiger Ort für die Gotteserfahrung. Wenn ich von vielen Gesprächen in mein Zimmer komme, dann lege ich mich 15 Minuten aufs Bett und genieße die Müdigkeit. Ich genieße die Schwere, die dann entsteht. Ich habe das dankbare Gefühl: Ich habe für Gott und für die Menschen gearbeitet. Jetzt bin ich müde. Ich gönne mir jetzt, einmal gar nichts zu tun, sondern nur die Müdigkeit wahrzunehmen. Die Müdigkeit ist eine Einladung, sich das zu holen, was mir gut tut, was erholsam ist. Manchmal ist die Müdigkeit allerdings auch ein Zeichen, dass etwas nicht stimmig ist. Dann wäre sie eine Einladung, nachzudenken, ob das, was ich tue, noch stimmt oder ob wir in die falsche Richtung laufen mit unserer Seelsorge.
Peter Handke hat die Müdigkeit als einen Ort spiritueller Erfahrung beschrieben und greift mit seiner Beschreibung die Erfahrungen der frühen Mönche auf. Er setzt sich nach einer Wanderung müde auf eine Bank. Da spürt er auf einmal, dass er ganz eins ist mit der Natur um sich herum, mit den Hunden, die sich zu seinen Füßen hingesetzt haben, mit den Kindern, die spielen. Alles Werten und Beurteilen fällt von ihm ab. Und er meint, er mache die Erfahrung des Einsseins, die viele durch lange Meditationen und Atemübungen erlangen möchten. Die Müdigkeit befreit uns von allem Nachdenken. Wir sind einfach da. Anstatt über die Müdigkeit zu jammern, sollten wir sie daher täglich als eine spirituelle Oase nehmen: Ich brauche in diesem Augenblick nichts zu tun. Ich spüre das Gefühl der Freiheit. Ich definiere mich nicht von meiner Arbeit. Ich bin einfach. Ich habe teil am reinen Sein Gottes. Das ist letztlich eine tiefe Gotteserfahrung: einfach nur zu sein. Gott ist reines Sein. Wenn ich bin, ohne mich unter Druck zu setzen, ohne mich zu bewerten, dann ahne ich etwas vom Wesen Gottes.

Die innere Oase

Die Mönche sprechen davon, dass in uns ein Raum der Stille ist, zu dem der Lärm der Welt keinen Zutritt hat, in den die verletzenden Worte der Menschen nicht eindringen können, in dem wir frei sind von den Ansprüchen und Erwartungen der Menschen. Der Weg zu diesem inneren Raum der Stille ist normalerweise die Meditation. Aber auch das Sitzen in der Kirche kann ein Weg sein, diesen inneren Raum der Stille in mir zu erahnen. Viele meinen, es wäre schön, diesen inneren Raum zu spüren. Aber sie erfahren ihn nicht. Da hilft einfach die Vorstellung: Unter all dem Chaos meiner Gedanken und Gefühle ist dieser innere Raum. Da ist auf dem Grund der Seele ein Ort, zu dem die Welt keinen Zutritt hat. Für Evagrius Ponticus, den Mönchschriftsteller aus dem 4. Jahrhundert, ist es der Ort Gottes. Es ist ein Ort des Friedens und der Liebe. Auf dem Grund meiner Seele ist dieser Raum voller Liebe. Liebe ist hier aber mehr als ein Gefühl. Liebe ist eine Qualität des Seins. Wenn ich durch all das innere Chaos und die innere Unruhe hindurchgehe, gelange ich in diesen inneren Raum der Stille. Und dort finde ich auch mitten im Trubel des Alltags eine Oase. Denn diese Oase trage ich immer bei mir. Ich muss mich nur an sie erinnern. Dann relativiert sich das, was mich von außen umgibt. Und ich fühle mich mitten im Trubel des Alltags frei und daheim.

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