Das Virus bewegtWelche Konsequenzen hat die Corona-Krise für die Kirche?

In den vielstimmigen Kommentaren zur Corona-Krise wird oft zu schnell und zu viel gewusst, man urteilt hart und spekuliert in die Zukunft hinein. Hans Langendörfer SJ, in Bonn Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, begnügt sich damit, Themen und Fragen zu benennen, die sich heute abzeichnen und die Kirche noch lange beschäftigen werden.

Eine Gottesstrafe ist die Corona-Pandemie nicht. Christlich verstanden gibt es keinen Rachegott. Das ist Konsens unter den Kirchenleuten. Aber Fragen bleiben doch offen für die Theologen. Wie sind die Krisenwochen theologisch zu deuten? Bislang gibt es nur erste Antwortversuche. Sie haben gemeinsam, dass der weltweite Lockdown den Entgrenzungen des globalisierten, überhitzten Lebens ein jähes Ende setzte und somit auch eine global kulturkritische Dimension hat. Bisweilen gelten die Umkehr von einer fehlgeleiteten Globalisierung, von einem fragwürdigen Freiheitsverständnis oder einem Defizit an Sensibilität für die globale Ressourcenverschwendung als der Inhalt einer Lektion, die der Menschheit in Gestalt der Pandemie zugemutet wird. Einer Menschheit, die ihre Kontingenz vergessen hat und sich übernimmt.

Immerhin gibt es die Erwartung, dass die Krise dauerhaft zu mehr Nähe, Hilfsbereitschaft und Verbundenheit unter den Menschen beitragen wird. Das hohe Ausmaß an Rücksichtnahme, Verantwortung und Hilfsbereitschaft soll auch nach der Krise als zivilisatorische Neuausrichtung fortleben. Die alte Welt der Überforderung und Hektik komme nicht mehr zurück, hofft man. Videokonferenzen und Mobilitätsverzicht – Symbole gegenwärtiger Entschleunigung – wären dann bleibende Erkennungszeichen der Zukunft.

Was aber sind typische Merkmale der Pandemiezeit? Ins Auge springt: Menschen leben kollektiv mit einem ungeheuren Nichtwissen. Der individuelle und kollektive Verlauf der Krankheit ist ungewiss – schon, ob man persönlich krank wird oder gesund bleibt, ist unklar. Wie lang wird alles dauern? Wann kommen Medikamente oder gar die Impfung? Welche Abstandsregeln sind richtig? Welche Lockerungen? So viele Virologen und andere Fachleute, Ökonomen, Unternehmer und Juristen – und natürlich Entscheider in der Politik haben dazu verschiedene Argumente und Meinungen. Das ist Kontingenzerfahrung: Die Erkenntnismöglichkeiten sind limitiert. Man weiß vieles nicht – was verunsichert und Angst macht. Hinzu kommt, dass man nicht weiß, wem man glauben soll und wem man vertrauen darf – Kernthemen der Religion, die zu einem Leben mitten in Ungewissheit und Wagnis helfen möchte.

Die Krise zeigt die existentielle Bedeutung sozialer Dienste und Einrichtungen.

Gelingt es denn der Kirche, in der Krise den Menschen nahe zu sein und ihnen aus dem Glauben heraus Hilfe und Orientierung zu geben? Priester und Pastorinnen, Seelsorgerinnen und Seelsorger sollen und wollen die Kranken und besonders die Sterbenden trösten und ermutigen und ihnen Hoffnung vermitteln. Die Wochen um Ostern herum waren schmerzlich. Lebens- und Gesundheitsschutz einerseits und Grund- und Freiheitsrechte andererseits stehen in Spannung zueinander. Der Gesundheitsschutz zog der Religionsfreiheit – einem hohen Verfassungsgut – enge Grenzen, wie auch anderen Grundrechten. Öffentliche Gottesdienste waren verboten. Oder die Kirchen hatten freiwillig auf sie verzichtet. Weshalb? Natürlich, um die Weiterverbreitung des Virus in ihrem Bereich aufzuhalten. Blickt man genauer hin: um authentisch zu bleiben, die eigene Identität zu bewahren. Denn eine Kirche, die Leben und Gesundheit gefährdet, verrät ihre eigene Mission. Wie alle Freiheit ist auch die Freiheit des Glaubens an Verantwortung gebunden. Eine Freiheit losgelöst von ihrem Inhalt – der Förderung menschlicher Verantwortung – hat sich selbst aufgegeben. Deshalb reicht es auch nicht aus, pauschal von der „Systemrelevanz“ der Kirchen zu reden und ihretwegen Gottesdienstmöglichkeiten zu verlangen. Natürlich gibt es eine Relevanz des Glaubens für das System menschlichen Zusammenlebens. Auch wenn in diesen Wochen wirklich große Debattenbeiträge und intellektuelle Klärungen aus den Kirchen eher selten waren – oder sich im religiösen Pluralismus und in den Medien anders als früher weniger gut durchsetzen konnten. Im Wesentlichen aber geht es um das Thema kirchliche Identität: Kirchen sind glaubwürdig, wenn sie ihre Aktivitäten stark an der Verantwortung (auch) für den Lebens- und Gesundheitsschutz orientieren. Das Leben ist nicht das höchste Gut, aber doch ein sehr fundamentales, das in Prozessen der Abwägung entsprechendes Gewicht hat. Auch bei den fortbestehenden Auflagen für das gottesdienstliche Leben ist wiederum beides im Spiel: Freiheit und Verantwortung der Gläubigen und ihrer Kirchen.

Systemrelevanz: Was ist gegenwärtig systemrelevant? Auch das ist Teil der Verunsicherung. Es gibt die grundstürzenden, globalen wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen, das dramatisch gesteigerte Elend der Armen, besonders augenfällig die Gefährdungen der auf der Flucht Gestrandeten, aber auch die Bedrohung politischer Strukturen und Orientierungsmuster – auch im Blick auf die Ordnung Europas – bis hin zur Neuvermessung geostrategischer Koordinaten. Das alles sind global systemrelevante Faktoren, oder sie können es sein. Und in der Lebenswelt? Sind nicht Familie und Freunde, Hilfeleistende, Ärzte und pflegende Menschen auch systemrelevant? Und der geistliche Trost? Und andere Mutmacher?

Es gibt weitere Identitätsfragen im religiösen Bereich. Ganz zentral die nach der religiösen Praxis in Zeiten der begründeten Unmöglichkeit öffentlicher Gottesdienste. Bistümer und Landeskirchen, Dekanate und Gemeinden und viele andere kirchliche Akteure haben ein eindrucksvolles Angebot an Hilfen für den Hausgottesdienst und das häusliche, gemeinsame und private Gebet erarbeitet. Höhepunkte waren die weltweit übertragenen Gottesdienste von Papst Franziskus auf dem menschenleeren Petersplatz und zu Ostern im Petersdom. Man erlebte im hundertfachen Streaming nicht weniger als die Aneignung der digitalen Welt für das Gebet und den Gottesdienst. Dies ist eine Errungenschaft, die hoffentlich nicht verloren geht.

Damit einher geht die Stärkung und Wiederbelebung des Familien- und Privatgebets. Sie befördern eine neue spirituelle Kompetenz und bereiten einfach Freude. Einerseits stärkt dies die christliche Identität. Muss es aber nicht in allem tun: Wenn vereinzelt im katholischen und im evangelischen Bereich suggeriert wird, die familiäre Gottesdienstfeier könne, wenn sie das Brechen von Brot und das Teilen von Saft oder Wein einschließt, in die Nähe einer Abendmahlsfeier oder „nichtsakramentalen“ Eucharistiefeier gerückt werden oder als Privatmesse ohne ordinierte Person betrachtet werden, dann sind Kernaussagen der Theologie betroffen: die katholische Sakraments- und Amtslehre und das Abendmahlsverständnis der evangelischen Kirche. Unter der Hand entsteht aus dem Bemühen um Gottesdienstersatz eine Frage der Identitätsverbürgung. Klärungsbedarf kommt auf.

Es gibt hier noch eine zusätzliche, katholische Variante. In ihr geht es um nicht weniger als die Kirchenreform des Zweiten Vatikanischen Konzils. Manche machen in der Zelebration „ohne Volk“ – wenn ein Bischof oder Priester in einer leeren Kirche die Messe feiert – einen Rückfall in dunkle Zeiten der Klerusfixierung aus. Ohne die Laien als Gläubige, die infolge der Taufe auch am priesterlichen Tun Anteil haben, gehe es nicht. Dem wird das theologische Argument entgegengehalten, dass die Messe – auch bei physischer Abwesenheit von Gläubigen – immer von der Kirche als ganzer und damit nie im strengen Sinn „privat“ gefeiert wird. Ein Theologenstreit vielleicht, aber auch eine Frage, wie Traditionstreue und Situationsgerechtigkeit zu verbinden sind – und vielleicht ebenfalls eine Frage der Identitätswahrung.

Schließlich hat die Pandemie schon jetzt ganz neue Transparenzerfordernisse auf der Seite der Kirchen zur Folge. Es geht dabei (auch) um Geld. Ein schmerzlicher Rückgang der Kirchensteuer ist vorhersehbar. Erste grobe Schätzungen prophezeien ein substantielles Minus. Führt man sich vor Augen, dass die jährlichen Ausgaben der Bistümer und Landeskirchen zumeist als entscheidende Einnahmequelle die Kirchensteuer haben, so ist absehbar, dass die Kirchen vor einem schwierigen, vermutlich bitteren Abwägungsprozess stehen, was Priorität hat und was ganz oder teilweise auslaufen sollte. Ist an soziale und pädagogische Einrichtungen zu denken? An die Förderung kirchlicher Verbandsarbeit? An die Ausstattung von Ordinariaten und Dienststellen? Viele kirchliche Krankenhäuser und Pflegeinrichtungen ächzen schon jetzt unter großen Finanzproblemen. Verteilungskämpfe werden öffentlich geführt werden und müssen transparent gestaltet werden. Die Krise zeigt die existentielle Bedeutung sozialer Dienste und Einrichtungen, aber auch von Seelsorge- und Beratungsangeboten der Kirche und ebenso die Lücke, die ein Rückbau reißen würde. Umso wichtiger ist die Transparenz von Vermögens- und Einkommensfragen in einem Restrukturierungsprogramm, das zwar nach den Befunden neuerer Studien schon voraussehbar war, jetzt aber beschleunigt im Raum steht.

Apropos Transparenz und Aushandlungsprozesse: Schon jetzt zeigt sich, dass die Kommunikation unter Bedingungen von Video- und Telefonkonferenzen sehr viel dorniger und anstrengender ist als gewohnt. Diese Erfahrung gilt ganz allgemein: Die direkte Verhandlung und Debatte zwischen Menschen, die gemeinsam handeln wollen, braucht letztlich viel mehr als den Blick auf den Bildschirm und eine eiserne Disziplin der Gesprächsführung. Sie braucht rasche Interventionen, Zwischenrufe, Pausen und Pausengespräche, Vor- und Nachbereitung. Eine gute Gelegenheit, über die Bedingungen und das Gelingen des menschlichen Gesprächs nachzudenken – nicht ohne Bedeutung auch für das Verständnis des Dialogs mit Gott.

Eines verbietet sich auf jeden Fall: die überproportionale Kürzung finanzieller Ressourcen für die internationale und weltkirchliche Solidarität zugunsten regionaler und überregionaler kirchlicher Programme und Aktivitäten. Ähnliches gilt für etwaige Hilfen für die Kirchen in europäischen Ländern vor allem im Süden Europas. Braucht es zusätzliche Kollekten? Auch fiskalpolitische Fragen werden aufgeworfen, etwa hinsichtlich der kirchlichen Besteuerung von Unterstützungsleistungen aus den Schutzschirmen.

Die Kirchensteuer lässt an die besonderen Freiheitsrechte der Religionsgemeinschaften denken, die das Grundgesetz verbürgt. Dazu gehört auch der Bereich des Arbeitsrechts. Der kirchliche „Dritte Weg“ hat sich in den letzten Wochen bewährt. Vereinbarungen zu Heimarbeit und digitaler Kommunikation sind gut gelaufen. Ein großes Arbeitspensum wurde bewältigt. Aber es fehlt noch eine nähere Analyse, ob und wo es Schwachpunkte gab in Bezug auf das Zusammengehen von Dienstgebern und Dienstnehmern in individualrechtlicher – in Bezug auf Dienstvereinbarungen – wie auch in kollektivrechtlicher Hinsicht: in Bezug auf Mitarbeitervertretungsordnungen (MAVO). Wie steht es beispielsweise um die kurzfristig eingeführte temporäre Möglichkeit der Kurzarbeit? Auch hier sind das Selbstverständnis und die Identität der Kirchen angesprochen.

Die Corona-Krise rückt zentrale, klassische Themen der Sozialethik mit neuer Dringlichkeit in den Mittelpunkt, auch das Verhältnis zwischen Eigenverantwortung und Solidarität: Alle sind verantwortlich für ihr eigenes Leben und Auskommen; dem steht gegenüber, dass alle auch solidarisch für die Gesellschaft verantwortlich sind. Wie ist das Verhältnis beider Verantwortungsseiten zueinander? Die Frage stellt sich bis hin zur Stützung und Rettung von Selbständigen sowie von kleinen, mittleren und großen Unternehmen, auch bis hin zur Abwendung von Existenzvernichtungen. Wird es auch längerfristig und auch monetär eine Neubewertung der vielen schon erwähnten „systemrelevanten“ Berufe und Dienste geben, ohne die es jetzt nicht gegangen wäre?

Große Themen des Glaubens sind mit ungewohnter Deutlichkeit öffentlich präsent: Vertrauen, Zuversicht, die Überwindung von Angst, Zusammenstehen und Solidarität auf vielen Gebieten. Menschen erwarten sich Antworten der Kirchen, das ist zu spüren. Liegt darin eine Chance für sie? Die Chance, ihren Glauben an Gott zu plausibilisieren und ihn den Menschen auch durch ihren Einsatz für Gerechtigkeit, zu erschließen? Das wäre eine wunderbare Perspektive. 
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