Generation KlimaMitwirken an der Bewahrung der Schöpfung

Manche Maßnahmen, die zur Klimarettung angepriesen werden, sind wenig hilfreich für die Umwelt – und manche angeblichen Klimakiller sind gar nicht so schlimm. Ein nüchterner Blick auf die CO2-Bilanz unserer Konsumgüter und Tätigkeiten könnte den Fokus nach den zuletzt sehr aufgeheizten politischen Debatten mehr auf nachweislich effizienten Umweltschutz richten. Philipp Adolphs ist Redakteur dieser Zeitschrift.

Über die zweite Enzyklika von Papst Franziskus, Laudato si‘, ist schon vieles gesagt und geschrieben worden. Der Appell zur Bewahrung der Schöpfung stellt für viele Theologen, Naturwissenschaftler und auch Politiker einen Meilenstein in der Debatte um den Klimawandel und um eine von der Christlichen Soziallehre geprägten Umweltpolitik dar. Vier Jahre nach Veröffentlichung der Enzyklika hat sich in Deutschland allerdings nicht viel getan: Auf einzelnen Straßen in Hamburg gibt es Fahrverbote für bestimmte Diesel-Fahrzeuge ab einem gewissen Alter, bei Aldi kosten die dünnen Obsttüten nun 1 Cent – und die EU will ab 2021 Plastikstrohhalme verbieten.

Aber reicht es, fortan weniger Auto zu fahren, Bio-Kaffee zu kaufen und Jutebeutel statt Plastiktüten zu verwenden? Leider nein. Die Wissenschaftswelt ist sich außergewöhnlich einig über den Fortschritt und die Gefahren des Klimawandels. Es kann ziemlich genau berechnet werden, ab wie vielen Tonnen CO2 oder vergleichbaren Schadstoffen1 in der Atmosphäre der Klimawandel unumkehrbar wird und in wie vielen Jahren dieser Point of no Return erreicht sein wird, wenn wir so weiterleben wie bisher: nämlich in rund neun Jahren. Das ist kein mit Mutter Erde verhandelbarer Wert, sondern eine naturwissenschaftliche Realität – nicht Weltuntergangshysterie, sondern Fakt. Nach Aufbrauchen des sogenannten CO2-Budgets2 erwärmt sich das Klima um durchschnittlich 2 Grad und ab dann unaufhaltsam weiter. Ein steigender Meeresspiegel, Überschwemmungen, heftige Dürren, Waldbrände und Wüstenbildung, tobende Stürme, grassierende Seuchen, Artensterben und millionenfache Flucht sind nur ein paar der Folgen, die bereits heute mess- und sichtbar werden. „Die Erde hat Fieber und das Fieber steigt. Sie gehört auf die Intensivstation […] und das ist ein echter Notfall“, diagnostiziert der Arzt und Kabarettist Eckart von Hirschhausen in einem Interview.3

Es ist allzu verständlich, dass es vielen schwer fällt, die notwendigen Konsequenzen aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen und Appellen zu ziehen. Ein klimafreundlicher Umgang mit der Schöpfung bedeutet eben Verzicht, oder besser gesagt: eine Umstellung der Gewohnheiten. Viele Politiker befürchten, Wählerstimmen zu verlieren, wenn sie wirkungsvolle Maßnahmen zum Klimaschutz versprechen würden. Viele werben lieber mit einer Welt, in der auf nichts verzichtet werden muss: dicke Autos, massenhaft billiges Fleisch, ein Flug nach Mallorca für 20 Euro.

Dieser verschwenderische und zerstörerische, weil nicht nachhaltige Lebensstil wurde im Wesentlichen von den Babyboomern in den Jahren des Wirtschaftswunders geprägt und gelebt. Fairerweise muss man dazu sagen, dass die Erkenntnisse aus globaler Meteorologie und Umweltforschung früher bei weitem nicht so umfangreich und eindeutig gewesen sind wie heute. Außerdem: Nicht allein das Alter, sondern statistisch betrachtet, viel mehr die Finanzkraft sagt etwas über die Größe des ökologischen Fußabdrucks des Einzelnen aus. Ärmere Alte, die bescheiden leben und nie in ein Flugzeug gestiegen sind, haben eine bessere Ökobilanz vorzuweisen als junge Vielflieger. So oder so: Der zerstörerische Lebensstil wird nicht von der Politik reguliert. Er wird sogar gefördert: Treibstoff für Flugzeuge, Kohlekraft und die Massentierhaltung werden öffentlich subventioniert, weil sie sich auf dem freien Markt sonst nicht rechnen würden.4 Zur gleichen Zeit werden dem Ausbau erneuerbarer Energien Steine in den Weg gelegt: In der Windindustrie sind laut IG Metall Küste seit 2018 bis zu 10.000 Arbeitsplätze verloren gegangen – 2017 waren es bereits 26.000.5 Das Industriezeitalter wird künstlich am Leben erhalten, während das Leben auf der Erde ausstirbt.6 Das hat nie allein ökologische Folgen (Stichwort „Hambacher Forst“), sondern auch soziale: Ganze Dörfer wie das nordrhein-westfälische Immerath – inklusive Dom – wurden und werden von den Baggern der Stromkonzerne im besten Einvernehmen mit der Landesregierung abgerissen, Menschen ihrer Heimat beraubt für Ressourcen, die man nach Einschätzung der Experten nicht einmal braucht.7 Die katholische Kirche verkauft entsprechendes Land, obwohl ein Nichtverkauf zum Erhalt der Dörfer beitragen könnte.8

Die Folgen dieses Lebensstils sind gravierend – ganz zu schweigen von den Folgen, die sich außerhalb Deutschlands und Europas für den hiesigen Lebensstil ergeben: durch Futterplantagen im Amazonas-Regenwald, durch Textilfabriken in Asien, durch Öl-Förderung im Nahen Osten, in Nordamerika und in den Meeren oder im Bergbau Afrikas. „Diese Wirtschaft tötet“, schrieb Papst Franziskus in Evangelii Gaudium: „Wir haben die ‚Wegwerfkultur‘ eingeführt, die sogar gefördert wird.“9

Eine Generation im Klimastreik

Der Youtuber Rezo hat vieles davon in seinem allein im ersten Monat 15 Millionen mal angesehenen Video „Die Zerstörung der CDU“ akribisch und journalistisch einwandfrei aufbereitet. Wer das knapp einstündige Video gesehen hat, weiß, wie der Titel hauptsächlich gemeint sein muss: etwa „So zerstört die CDU unsere Umwelt“. Rezo, der nach eigenen Angaben aus einer Familie von Pfarrern stammt, erhielt überwältigend viel Unterstützung aus unterschiedlichen Richtungen. Er spricht weiten Teilen der Generation jugendlicher und junger Menschen aus der Seele: jener Generation, die nach dem Vorbild der 16-jährigen Schwedin Greta Thunberg seit mehr als einem Jahr jeden Freitag zum Klimastreik auf die Straße geht. Allein am Freitag vor den Europawahlen demonstrierten bundesweit 320.000 junge (und ältere) Menschen dafür, die Appelle der Wissenschaftler zum Klimaschutz ernstzunehmen.10 Am Freitag vor der Madrider Weltklimakonferenz Anfang Dezember 2019 waren es laut Veranstalter bereits 630.000 Demonstranten bundesweit. Mehr als 26.000 Wissenschaftler bekennen sich als „Scientists for Future“ öffentlich zur „Fridays for Future“-Bewegung und appellieren an die Politik.11

Anstatt die Anliegen der Jugendlichen ernstzunehmen, zu respektieren oder auch bloß das Wählerpotenzial zu wittern, ziehen es viele Politiker vor, die junge Generation zu diskreditieren: Die Demonstranten seien gekauft, Rezo verbreite Fake News, die jungen Leute sollten erst einmal erwachsen werden und Geld verdienen usw. Der Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen bringt die Ignoranz und die Hilflosigkeit auf den Punkt: „Die Kuriosität und das Ärgernis der Debatte besteht darin, dass hier junge Menschen auf einer fundierten, im Zweifel von Expertenwissen bestimmten Auseinandersetzung beharren, während sich sogenannte Polit-Profis aus der Arena der Argumente verabschieden, um den Konflikt kommunikationskosmetisch zu heilen.“12 Dass derlei Kosmetik bei den jungen Wählerinnen und Wählern nicht wirkt, wurde bei der Europawahl überdeutlich: Bei den Unter-60-Jährigen sind die Grünen stärkste Partei geworden, während die CDU bei den Unter-30-Jährigen nur noch auf 13 % kommt (Grüne: 29 %).13 Auch in Umfragen zu den Verhältnissen auf Bundesebene waren die Grünen im Juni 2019 zum ersten Mal stärkste Kraft in Deutschland geworden.14

Müssen wir jetzt bei Kerzenlicht lesen?

Die konkreten Forderungen und Vorschläge der Wissenschaftler müssen also schnell und ernsthaft umgesetzt werden. Dass ein ausreichendes Klimapaket auf politischer Ebene erst noch geschnürt werden muss, steht kaum infrage. Aber nicht nur die Politik, auch die Bürger jedes Landes können zum Erhalt der Schöpfung beitragen. Wichtiger als alles richtig zu machen – was unmöglich wäre – ist es, die wichtigen Dinge richtig zu machen. Selbstverständlich ist jede ausgeschaltete Lampe und jeder geschlossene Wasserhahn hilfreich bei der Vermeidung von CO2 und dem Einsparen von Ressourcen. Moderne Leuchtmittel allerdings haben ohnehin einen extrem niedrigen Stromverbrauch, und das Leitungswasser aus unserer Kreislaufwirtschaft wird niemandem in wasserarmen Ländern fehlen, weil es in Deutschland bleibt und hier fast verlustfrei aufbereitet wird, zugegeben mit gewissem Energieaufwand. Deutlich effizienter ist es, generell Strom allein aus erneuerbaren Energien zu beziehen. Wenn man vergisst, das Licht auszuschalten, hat das einen sehr marginalen Effekt auf die Umwelt. Und unter der Dusche entscheiden kaum ein paar Minuten mehr oder weniger über die Klimafreundlichkeit, sondern die Temperatur: Das Aufwärmen des Wassers verbraucht viel Energie.

Manche Umweltschutzmaßnahmen klingen also effizient, sind es aber deutlich weniger als vielleicht gedacht. Und manche Maßnahmen können sogar kontraproduktiv sein: Damit sich beispielsweise ein Baumwollbeutel zum Einkaufen im Supermarkt gegenüber einer Plastiktüte rechnet, müsste man laut einer Studie15 der UK Environment Agency 131-mal damit einkaufen gehen. Zugespitzt formuliert: Die Herstellung von 130 Plastiktüten ist umweltfreundlicher als die eines Baumwollbeutels, der seltener als 131-mal verwendet wird. Dünne Plastiktüten für Obst schneiden noch besser ab – auch deutlich besser als solche aus Papier. Aber nicht nur die CO2-Bilanz eines Produktes hat Auswirkungen auf die Umwelt, sondern auch andere Faktoren. Zum Beispiel verrottet in den Wogen der Nordsee ein Baumwollbeutel schneller (in weniger als zehn Jahren) und für Meeresbewohner ungefährlicher als eine Plastiktüte (bis zu 500 Jahre). Dafür müssen für Baumwollbeutel Plantagen angelegt werden – und dafür müssen wertvolle Wälder gerodet werden, deren Pflanzen und Bäume viel CO2 binden. Am besten ist es, einen Rucksack (den man sehr lange behält) zum Einkaufen mitzunehmen.

Greenwashing für’s gute Gewissen

Bei manchen Konzernen, Institutionen und Parteien ist der Wunsch vieler Bürger nach Umweltschutz angekommen. Aber anstatt effiziente Maßnahmen umzusetzen, werben viele gerne mit den sanfteren, für sie kostengünstigeren Maßnahmen, die allerdings entweder fast wirkungslos sind oder der Umwelt gar schaden. Um diesem „Greenwashing“ oder dieser Symbolpolitik nicht auf den Leim zu gehen, hilft es, sich nüchtern mit den tatsächlichen Auswirkungen angeblicher Klimakiller und Klimaretter zu beschäftigen. Gegen eine Plastiktüte, die man mehrmals verwendet und später korrekt entsorgt und recycelt, ist ja nicht viel einzuwenden. Gegen aufwendig produzierte Kaffeekapseln hingegen, die genau wie Einwegbecher meist gar nicht recycelt werden können, weil sie neben Plastik auch andere Stoffe wie Aluminium enthalten, kann man deutlich mehr ins Feld führen.

Stellt man das ökologische Gewissen mit bequemen Umweltschutzmaßnahmen ruhig, während auf die schweren Klimasünden nicht verzichtet wird? Im Grunde spricht sich die allergrößte Mehrheit der Deutschen zwar klar für den Schutz der Umwelt aus: „In einer repräsentativen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov für die Deutsche Presse-Agentur sagten 74 Prozent, für sie wäre es in Ordnung, auf Kurzstreckenflüge zu verzichten. 63 Prozent würden ‚deutlich‘ weniger Fleisch essen und 56 Prozent das Auto in Innenstädten stehenlassen.“16 Die tatsächlich steigende Anzahl von Kurzstreckenflügen oder die immer höhere Produktion von Fleisch widersprechen diesen Bekundungen allerdings. Nicht alle Klimasünden sind allein auf Geiz, Bequemlichkeit oder böse Absichten zurückzuführen. Manchmal spielt auch fehlende Transparenz und Kennzeichnung der Schädlichkeit von Produkten und Dienstleistungen die wesentliche Rolle. Selbst wohlklingende Siegel wie das „Tierwohl-Label“ oder so mancher Bio-Standard sind oft recht zahnlos und führen Verbraucher eher in die Irre. Ein Blick auf den ökologischen Fußabdruck oder die CO2-Bilanz eines Produktes oder einer Tätigkeit klärt darüber auf, welche Maßnahmen oder welcher Verzicht tatsächlich sinnvoll das Klima schützen. Entscheidender als der Verzicht auf das Fließenlassen des Wassers beim Zähneputzen ist der Verzicht auf Flugreisen.

Klima-Bilanz unseres Alltags im Vergleich

In vordergründig absurden Vergleichen liegt manchmal das Potenzial, auf irrsinnige Zustände hinzuweisen: Ein Flug von München nach Lissabon verursacht knapp 1000 Kilogramm CO2-Ausstoß pro Person.17 Das entspricht den CO2-Emissionen beim Anbau von 7353 Kilogramm Kartoffeln (136g/kg)18 oder einer Fahrt von rund 140.000 Kilometern in einem E-Fahrzeug19, das mit Ökostrom fährt (7g/km).20 Ein Flug von Düsseldorf nach Sydney (über Dubai) verursacht sogar mehr als 5 Tonnen CO2-Ausstoß pro Passagier (nur Hinflug). Mehr noch als der gesamte Flugverkehr zusammen emittiert der Datenverkehr im Internet, insbesondere das Streaming von Videos. Reinhard Ploss, Vorstandsvorsitzender eines Chipherstellers, bietet anschauliche Vergleiche: „Alle Rechenzentren weltweit verbrauchen so viel Strom wie das gesamte Land Spanien … Der CO2-Ausstoß aller Server-Farmen ist höher als der aller weltweiten Fluggesellschaften“21 – diese Einschätzung erfolgte 2013, noch bevor Streaming-Portale wie YouTube oder Netflix so beliebt waren wie heute.

Ebenfalls eine schlechtere Ökobilanz als der Flugverkehr weist die Textilindustrie auf, nicht nur beim CO2, sondern auch beim Wasserverbrauch. Die Herstellung einer Jeans etwa erfordert 8000 Liter Wasser22 – und inzwischen kaufen Deutsche im Schnitt 60 neue Kleidungsstücke pro Jahr. Noch mehr Ressourcen benötigt die Landwirtschaft. Zum direkten Vergleich: Im Durchschnitt der wichtigsten Studien verschlingt die Herstellung eines Kilogramms Rindfleisch 16.726 Liter Wasser.23 Eine von vielen negativen Auswirkungen der Massentierhaltung sind zu hohe Nitratwerte im deutschen Grundwasser – die EU klagt bereits. Der Kohlenstoffdioxid- und Methan-Ausstoß des Kilos Rindfleisch liegt bei gut 13 Kg CO2-Äquivalenten pro Kilogramm. Aber nicht nur Fleisch und andere tierische Produkte vergrößern den ökologischen Fußabdruck (Butter: 23 kg; Hartkäse: 8,5 kg)24 – auch die Produktions- und Lagerungsmethode spielt eine wichtige Rolle. So schneiden Tiefkühl-Pommes (5,7 kg) aufgrund des hohen Stromverbrauchs beim Kühlen im Lager etwa 28-mal schlechter als Kartoffeln (0,2 kg) ab. Auch Tomaten aus dem Gewächshaus (3 kg) benötigen mehr Energie als die, die im Sommer im Freien wachsen können (0,6 kg). Deutlich wird, dass vor allem frisches Gemüse eine ausgezeichnete CO2-Bilanz aufweist, mit durchschnittlich 0,15 Kilogramm pro Kilo an Lebensmitteln.

Die meisten CO2-Äquivalente werden also bei der Produktion tierischer Lebensmittel freigesetzt. Dafür werden in Deutschland rund 700 Millionen Tiere pro Jahr geschlachtet. Mit deren Fleisch werden auch die Märkte in Asien und Afrika überflutet – selbst lokale Landwirte dort können preislich nicht mit den Überproduktionen aus Deutschland mithalten. Für die horrenden Massen an benötigtem Futter für die Tiere wird immer mehr Regenwald abgeholzt – was gleich mehrfach tragisch ist, da Bäume eines der effizientesten Mittel sind, um CO2 zu binden und umzuwandeln. 80 Prozent aller Agrarflächen weltweit dienen dem einzigen Zweck, Tierfutter anzubauen. „Dabei machen tierische Lebensmittel nicht einmal 20 Prozent der weltweiten Nahrungsenergieversorgung aus. Ein Drittel der weltweiten Getreideernte verschwindet im Tiermagen. Die Flächen, auf denen Tierfutter wie Getreide, Mais und Soja angebaut wird, könnten um ein Vielfaches effizienter für die menschliche Ernährung in Form von Pflanzen verwendet werden.“25 Schon Alexander von Humboldt erkannte diesen Zusammenhang und empfahl, im Sinne der Nachhaltigkeit und präventiv gegen Hungersnot, das zur Verfügung stehende Ackerland möglichst effizient zu nutzen. Von demselben Stück Land, das einem Menschen zur Verfügung steht, der auch Fleisch isst, könnten im Schnitt sieben vegetarische Menschen mit allen notwendigen Nährstoffen versorgt werden.26

Global gesehen wächst die Nachfrage nach Fleisch rasant, insbesondere in Ländern mit hohem Wirtschaftswachstum: Das Institute for Agriculture and Trade sagt voraus, dass – wenn die Branche so weiter wächst wie in den letzten Jahren – im Jahr 2050 der Viehbestand etwa 80 Prozent des Treibhausgasbudgets der Erde verbrauchen würde (gemessen am 2-Grad-Ziel aus dem Pariser Klimaabkommen).

Sozial, saisonal und regional

Die Zahlen zeigen unmissverständlich, in welche Richtung eine nachhaltigere Lebensweise in Deutschland gehen kann. Während die Politik dazu aufgerufen ist, schädliche Varianten der Energiegewinnung, der Mobiliät, der Industrie oder der Landwirtschaft zumindest nicht mehr zu subventionieren,27 können Konsumentinnen und Konsumenten mit ihrer Kaufkraft manches bewegen: Gemüse aus der Region ist nicht nur klimafreundlicher, sondern stärkt auch bäuerliche Kleinbetriebe in der Nähe und die lokale Infrastruktur. Regionales Essen ist immer auch saisonal: Im Frühling Spargel, im Herbst Äpfel und im Winter Kohl zu essen hilft dabei, die heimischen Böden optimal zu nutzen und Flugware (Äpfel aus Neuseeland) oder umständlich gelagerte Ware (Äpfel im Frühling) zu vermeiden. Ein Bewusstsein dafür, was gerade Saison hat, hilft außerdem dabei, bei der ausgewogenen Ernährung auf die eigene Gesundheit zu achten. Auch der Verzicht kann dabei sowohl dem Klima als auch der eigenen Gesundheit helfen. Ärzte empfehlen beispielsweise, maximal – je nach Körpergröße, Geschlecht und Aktivität – 300-600g Fleisch pro Woche zu verzehren.28 Deutsche essen im Schnitt mehr als das Doppelte (60 Kg pro Kopf und Jahr, Vegetarier und Kleinstkinder miteingerechnet). Eine Umgewöhnung kann auch bei sogenannten „Super-Foods“ sehr gewinnbringend für das Klima sein, ohne auf die vermeintlich exotischen Nährstoffe oder die Geschmacksrichtung verzichten zu müssen: Genauso gut wie etwa Quinoa aus Peru ist die heimische Hirse. Auch Goji-Beeren, Chia-Samen, Avocados und andere Trend-Lebensmittel lassen sich einfach und klimafreundlich (und freundlich für den Geldbeutel) ersetzen.

In anderen Lebensbereichen helfen ehemals selbstverständliche Verhaltensweisen wie das längere Tragen von Kleidung, die längere Nutzung elektronischer Geräte – und im Verschleißfall lieber eine Reparatur als Neuware. Wer braucht jedes Jahr ein neues Smartphone? Hier sollte auch die Politik weitere Anreize setzen, wie es beispielsweise ein aktueller Vorschlag29 zur Verlängerung der Gewährleistung auf Waschmaschinen, Kühlschränke usw. vorsieht: Ein solches Gesetz soll verhindern, dass Geräte so hergestellt werden, dass sie automatisch schneller kaputtgehen, um Kunden zum Neukauf „anzuregen“. Die Politik muss außerdem da ansetzen, wo Verbraucher und Bürger gegenüber den Interessen mächtiger Lobbyverbände weniger mächtig sind. Klimakiller Nummer 1 – mit Abstand – bleibt nach wie vor die Braunkohle und der gesamte Energiesektor. Den Ausbau von Wind- und Solarenergie zu behindern und gleichzeitig dreckige Energiequellen massiv zu subventionieren, ist wenig hilfreich. Wenn man etwas subventionieren möchte, dann besser den Öffentlichen Nahverkehr, nachhaltige Landwirtschaft, innovative Industrien…

Auch andere Industriezweige müssen klug in das 21. Jahrhundert integriert werden, wobei ein angemessener CO2-Preis das wirkmächtigste Mittel zu sein scheint – Deutschland hinkt hier im globalen Vergleich auf peinliche Weise hinterher.30 Nachbarländer haben bereits deutlich höhere CO2-Preise, und das ohne dass die dortige Wirtschaft zusammengebrochen wäre – im Gegenteil. Marktführer in Solartechnik, Elektro-Mobilität, Digitalisierung usw. sind inzwischen andere.

Natürlich stellen die erforderlichen Maßnahmen manche Industrien und auch manche Menschen vor unterschiedlich schwere Herausforderungen, die alle gehört werden müssen. Ökologischer Wandel muss – und kann – sozial gerecht vollzogen werden. Dafür gibt es viele positive Beispiele aus aller Welt, die Mut machen und inspirieren. Leider machen die Belastungsgrenzen unseres Planeten keinen Unterschied zwischen vielleicht berechtigten persönlichen Anliegen und rein konsumistischen oder profitorientierten Interessen. Der Ozonschicht ist es letztlich egal, ob jemand aus moralischen Gründen eine Flugreise unternimmt, etwa um Katastrophenhilfe zu leisten, oder ob es ein Wochenend-Party-Trip ist. Diese gefühlte Ungerechtigkeit macht die Diskussion darum, wer wie oft und warum fliegen „darf“, manchmal sehr emotional. Neben allen akademischen Argumenten und harten Zahlen braucht es Sensibilität für die individuellen Bedürfnisse, und das vor allem global betrachtet.

Dennoch bleibt der Planet am Ende nur dann für nachfolgende Generationen bewohnbar, wenn im Sinne eines „radikalen Realismus“ die erforderlichen Maßnahmen gesetzt werden, um die Erderwärmung möglichst schnell aufzuhalten. Ein Scheitern dieses Ziels würde jeden Menschen und jeden Industriezweig letztlich ein Vielfaches kosten: „Allein für die Nichteinhaltung der europäischen Klimaziele betragen [die Kosten] 62 Milliarden Euro bis zum Jahr 2030“.31

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