Das "Tantum ergo" des 3. Jahrtausends?Nightfever im Spiegel von Kommunionfrömmigkeit und Eucharistietheologie

Im Gefolge des Weltjugendtages 2005 in Köln gibt es seit einigen Jahren vielerorts „Nightfever“-Veranstaltungen. Alexander Zerfass, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Praktische Theologie der Universität Mainz, untersucht das Phänomen im Spiegel liturgischer und ekklesiologischer Entwicklungen.

Das Licht in der Kirche ist gedimmt. Auf dem Altar steht die Monstranz mit dem Allerheiligsten, darunter wallen zwei Tücher herab, eines rot und eines weiß - ein Zeichen für Blut und Wasser, die aus der Wunde des Gekreuzigten strömen (vgl. Joh 19,34). Zu Füßen des Altars ein Meer von Kerzen; je länger der Abend dauert, desto mehr Besucher stellen ihre Teelichter dort ab, die sie auf der Straße geschenkt bekommen haben, verbunden mit der Einladung, in die Kirche zu kommen. Dort haben sie die Gelegenheit, getragen von einem musikalischen Klangteppich, im Gebet zu verweilen. Wenn sie wollen, können sie ihre persönlichen Anliegen auf Zettel schreiben und in einer Box vor der Monstranz Christus anvertrauen oder aus einem Korb daneben ein buntes Papier mit einem Bibelspruch ziehen. Priester stehen zu Beichtgesprächen bereit, man kann sich segnen lassen oder sich mit seinen Gedanken an ein Gebetsteam wenden. Es ist Nightfever.

Die Initiative Nightfever wurde im Jahr 2005 im Gefolge des Kölner Weltjugendtags, insbesondere unter dem Eindruck der eucharistischen Anbetung bei der Vigil auf dem Marienfeld, von zwei Bonner Theologiestudierenden ins Leben gerufen. Einer von ihnen, Andreas Süß, ist heute Subregens der Erzdiözese Köln und koordiniert die Aktivitäten der Initiative, die inzwischen regelmäßige Nightfever-Abende in Dutzenden Städten im In- und Ausland, aber auch Maßnahmen zur Vernetzung und Fortbildung der örtlichen Organisationsteams umfassen. Nightfever versteht sich primär als Initiative zur Neuevangelisierung aus der eucharistischen Mitte christlichen Lebens heraus und beruft sich in seiner theoretischen Grundlegung auf die entsprechenden Anstöße in den späten Jahren des Pontifikats Johannes Pauls II.1 Zielgruppe sind insofern speziell auch Menschen, die ansonsten nicht oder nicht mehr in Kontakt mit der Kirche stehen. Teile des Konzepts, der straßenmissionarische Charakter und auch der Name des Formats sind von Veranstaltungen der Gemeinschaft Emmanuel inspiriert.

Es gibt einen eigenartigen Kontrast zwischen dem offenkundigen Erfolg der Initiative einschließlich ihrer kirchenoffiziellen Gutheißung und der auch quantitativ äußerst zurückhaltenden Rezeption durch die theologische Wissenschaft2. So erscheint es vielversprechend, sich von der Liturgiewissenschaft her dem Phänomen Nightfever über drei historische Schlaglichter zu nähern.

Alte Kirche: Entlassung der Katechumenen

Das erste Schlaglicht führt in die Zeit der Alten Kirche und zeigt eine Praxis, die in manchen Traditionen noch bis in die Gegenwart hinein ihre Spuren hinterlassen hat: die Entlassung der Taufbewerber aus der Messfeier3. Solange in der Kirche die Initiation Erwachsener der Normalfall war, stellte sich die Frage nach einer gezielten Vorbereitung der Interessenten auf ihren förmlichen Eintritt in die Gemeinschaft der Glaubenden.

Seit der zweiten Hälfte des 2. Jahrhunderts bildete sich zu diesem Zweck die Institution eines gestuften Katechumenats heraus, in dessen Verlauf die Taufbewerber sich in die christliche Lebensform einüben sollten. Wer in den Stand des Katechumenen eingetreten war, galt in einem weiteren Sinne schon als der Kirche zugehörig. Jedoch stieß diese Zugehörigkeit gerade bei der Feier der Liturgie an klar definierte Grenzen. Durften die Katechumenen am Wortgottesdienst der Messe teilnehmen, so blieben sie doch von der Mitfeier der Eucharistie ausgeschlossen. Daher entließ man sie am Ende des Verkündigungsteils ausdrücklich aus der Versammlung, nicht ohne in diesem Zusammenhang in besonderer Form für sie zu beten. Diesen Vorgang kommentiert Johannes Chrysostomos in einer Predigt aus seiner Zeit als Presbyter in Antiochia (386-397):

„So verordnen denn auch die Vorschriften der Kirche solche Gebete wie für die Gläubigen, so insbesondere für die Katechumenen. […] Nun stehen sie aber noch ferne, die Katechumenen; denn noch gehören sie nicht zum Leibe Christi, noch haben sie nicht teilgenommen an den Geheimnissen, noch sind sie getrennt von der geistigen Herde. […] Noch stehen sie nämlich außerhalb der königlichen Hallen, noch ferne den heiligen Schranken. Darum müssen sie auch gehen, wenn jene schauerlichen Gebete [das Eucharistiegebet, A. Z.] beginnen. Du musst für sie beten, damit sie bald Glieder von dir werden, damit sie nicht lange mehr fremd und ferne bleiben.“4

Das Eingangstor in die Kirche als Leib Christi ist die Taufe. Im Ersten Korintherbrief schreibt Paulus:

„Wie der Leib eine Einheit ist, doch viele Glieder hat, alle Glieder des Leibes aber, obgleich es viele sind, einen einzigen Leib bilden: So ist es auch mit Christus. Durch den einen Geist wurden wir in der Taufe alle in einen einzigen Leib aufgenommen, Juden und Griechen, Sklaven und Freie; und alle wurden wir mit dem einen Geist getränkt“ (1 Kor 12,12 f.).

Für den Apostel besteht ein enger Konnex zwischen diesem ekklesiologischen und dem eucharistischen Leib Christi: „Ein Brot ist es. Darum sind wir viele ein Leib; denn wir alle haben teil an dem einen Brot“ (1 Kor 10,17). Augustinus greift diesen Gedanken in einer Predigt auf und spinnt ihn fort zu dem kühnen Bild, dass die Christen durch die Initiation zu dem Leib Christi gebacken werden, der in der Feier der Eucharistie zur Darstellung kommt:

„Als über euch der Exorzismus gesprochen wurde, da wurdet ihr gleichsam gemahlen. Als man euch getauft hat, da hat man euch mit Wasser gleichsam getränkt. Als ihr das Feuer des Heiligen Geistes empfingt, da seid ihr gleichsam gebacken worden. Seid also das, was ihr seht, und empfangt das, was ihr seid: Leib Christi.“5

Vor diesem Hintergrund erklärt sich die Praxis der Entlassung der Katechumenen. Nur wer voll initiiert ist, kann an der Feier der Eucharistie als dichtester Gegenwärtigsetzung der Kirche als Leib Christi teilnehmen.

Die Frage nach einer Verehrung der Eucharistie außerhalb der Feier des Herrenmahles stellt sich nicht; sie kann sich unter diesen Prämissen gar nicht stellen: Der eine Leib ist ohne den anderen Leib nicht erfahrbar. In der Tat kommt es zu einer Aufbewahrung eucharistischen Brotes zunächst nur aus rein praktischen Gründen: um es denen auszuteilen, die an der Messe nicht teilnehmen konnten6.

Mittelalter: Schaufrömmigkeit

Das zweite Schlaglicht betrifft das Mittelalter. Das von Paulus beschworene Teilen des Brotes findet kaum mehr statt. Die Kommunionpraxis des Volkes ist praktisch zum Erliegen gekommen, sodass schon das Vierte Laterankonzil 1215 ausdrücklich dazu anhalten muss, wenigstens einmal jährlich in der Osterzeit die Kommunion zu empfangen7.

Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig: Zum einen spielt das ausgeprägte Sündenbewusstsein eine große Rolle, das seit dem Frühmittelalter zu beobachten ist und sich auch im Textbestand der Messliturgie niederschlägt8. Zusammen mit der gesteigerten Ehrfurcht vor den gewandelten Gaben lässt es den Verzehr des Leibes Christi außer Reichweite treten. Zum anderen verschiebt sich das Verständnis der eucharistischen Liturgie weg von einer Realisationsform von Kirche hin zum persönlichen Heilsgeschehen des Einzelnen. Dieses wird aber immer weniger an den Empfang der Kommunion gekoppelt - es sei denn, es handele sich um den besonderen Fall der Sterbekommunion.

Vielmehr schiebt sich der korrekte Vollzug des Messopfers durch den Priester in den Vordergrund: Die dadurch erworbenen Gnadenfrüchte können bestimmten Personen und deren Anliegen zugewendet werden, ohne dass dies an den Empfang der Kommunion gebunden wäre9. Die Folge dieser Verbindung von Klerikalisierung der Liturgie und übersteigertem Messopferverständnis ist, dass die Gemeinde in der Messe jede Rolle und Funktion verliert. Tatsächlich galt ja bis zur Einführung des erneuerten Messbuchs 1970 die missa lecta, die stille Messe, bei der außer dem Priester nur ein einziger Ministrant aktiv einbezogen war, als Grundform der Messliturgie.

Diese Zusammenhänge müssen bedacht werden, will man die um die Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert einsetzende Schaufrömmigkeit verstehen10. Sie kreist um die Augenkommunion, die visuelle Kontaktnahme mit dem im eucharistischen Brot gegenwärtigen Herrn. Eine erste Ausdrucksform findet sie in der Erhebung von Hostie und Kelch unmittelbar nach den Wandlungsworten (Elevation). Ein Klingelzeichen lenkt die Aufmerksamkeit der Anwesenden von ihren frommen oder auch weniger frommen Beschäftigungen auf die gewandelten Gaben und lädt zu ihrer Betrachtung ein.

Die sich darin anbahnende Spiritualität schafft sich schon bald ihr eigenes Fest: Fronleichnam. Seit dem 14. Jahrhundert wird es üblich, das Allerheiligste schon vor der Fronleichnamsprozession während des Stundengebets in einer Monstranz auszusetzen. Aus diesem Wurzelgrund entwickeln sich die eucharistischen Andachten. Von ihrem ursprünglichen Kontext, dem Fronleichnamsfest, nehmen sie die Gesänge mit: So handelt es sich bei dem unvermeidlichen „Tantum ergo“ um nichts anderes als die beiden Schlussstrophen des von Thomas von Aquin gedichteten Hymnus „Pange lingua gloriosi“ zur Vesper von Fronleichnam.

Zu den wichtigsten Ausdrucksformen der Schaufrömmigkeit gehören die Gebete, die dazu geschaffen wurden, während der Erhebung der gewandelten Gaben oder auch parallel zum leise gesprochenen Eucharistiegebet meditiert zu werden. Der bis heute wohl berühmteste dieser Texte ist das „Adoro te devote“ des Thomas von Aquin11, das dem Kirchgänger als Gotteslob-Lied „Gottheit tief verborgen“ vertraut ist.

Kaum weniger bekannt, nicht zuletzt durch die unsterbliche Vertonung von Wolfgang Amadeus Mozart, ist das Elevationsgebet „Ave verum corpus“. Eines der frühesten handschriftlichen Zeugnisse für dieses Gebet befindet sich im Besitz der Martinus-Bibliothek Mainz: Es handelt sich um ein Fragment aus einem Gebetbuch des späten 13. Jahrhunderts. Neben dem lateinischen Text bietet das erhaltene Doppelblatt auch dessen älteste überlieferte deutsche Übersetzung12. Eine Rubrik gibt Auskunft, das Gebet sei „in der stillen Messe“ zu verwenden und mit fünf Tagen Ablass verbunden. Interessant sind zwei in gleicher oder ähnlicher Form auch andernorts bezeugte Textabweichungen: Den mutmaßlich vier ursprünglichen Textzeilen ist eine Erbarmensbitte an Jesus Christus angefügt: „O dulcis o pie o fili marie miserere mei amen“. Sowohl hier als auch in Zeile 4 („Esto mihi pregustatum mortis in examine“) formuliert die Mainzer Fassung in der ersten Person Singular und erweist sich so dezidiert als das Gebet eines Einzelnen. Die durch Mozart vertraute Version redet im Plural „esto nobis praegustatum“ und hält damit wenigstens theoretisch an der gemeinschaftlichen Sprachform fest. Die singularische Fassung interpretiert die Eucharistie noch deutlicher als individuelle Heilsberührung, die zudem noch, zumindest was das Kosten, das gustare, betrifft, der Todesstunde vorbehalten bleibt.

Nun sollte man sich über die Innigkeit dieser Spiritualität in der Breite des Gottesvolkes keinen Illusionen hingeben. Gerade aus dem Spätmittelalter fehlt es nicht an befremdlichen Zeugnissen etwa zu zeitlich gestaffelten Messen in den Städten, zwischen denen die Besucher von Elevation zu Elevation zappen konnten. Im 15. Jahrhundert beklagt der westfälische Augustinereremit Gottschalk Hollen in einer Predigt:

„Sie kommen, wenn sie die Glocke hören; dann treten sie ein, sehen die Elevation; ist sie vorüber, gehen sie davon, laufend und fliehend, als ob sie den Teufel gesehen hätten.“13

Zudem ist theologisch gesehen, vom Grundverständnis der Eucharistie her, das Auseinandertreten von sumptio, verzehrender Kommunion, und adoratio, schauender Anbetung, nicht unproblematisch. Es begünstigt den Zug zur Individualisierung des eucharistischen Geschehens, der sich auch im Gebrauch ausgestanzter Einzelhostien Ausdruck verschafft, und lässt die gemeinschaftliche, ekklesiologische Dimension des Leibes Christi noch weiter zurücktreten. Außerdem befördert es die Entfremdung der Messe von ihrer rituellen Grundgestalt eines Mahles.

Auf der anderen Seite wird man sagen müssen: Wenn die sumptio unerschwinglich scheint, füllt die adoratio wenigstens einen Teil der spirituellen Lücke. Zumindest in den poetischen Spitzentexten wird eine Vertiefung der inneren Dimension der Eucharistie erreicht, die als bleibendes Geschenk an die Kirche betrachtet werden kann.

Liturgische Bewegung: participatio actuosa an der Liturgie und Volksfrömmigkeit

Wie mit diesem Geschenk umzugehen sei, war in der liturgischen Erneuerungsbewegung zu Beginn des 20. Jahrhunderts durchaus umstritten. Im Motuproprio „Tra le sollecitudini“ (1903) hatte Papst Pius X. gleich zu Beginn seines Pontifikats das Stichwort von der „tätigen Teilnahme“ der Gläubigen an der Liturgie geprägt, die als natürliche Quelle christlicher Spiritualität zu gelten habe.

Die Liturgische Bewegung in Belgien, Frankreich und Deutschland griff diesen Impuls auf und propagierte die Gemeinschaftlichkeit der Liturgie gegen eine einseitig individualistische Frömmigkeit. Dabei gab es unterschiedliche Auffassungen darüber, inwiefern neben dem Gemeinschaftscharakter der Liturgie auch die individuelleren Formen der sogenannten Volksfrömmigkeit14 einen bleibenden Wert beanspruchen könnten. Diese Kontroverse ist das dritte und letzte Schlaglicht.

Unter den Protagonisten der Liturgischen Bewegung in Deutschland markiert der Benediktiner Odo Casel (1886-1948) den einen Pol des Meinungsspektrums. Die frühen Schriften Casels, in denen er erstmals seine Mysterientheologie entwarf, entstanden in der Abtei Maria Laach; später wirkte Casel als Spiritual der Nonnen in Herstelle. Er war, ebenso wie Ildefons Herwegen OSB, der einflussreiche Abt von Maria Laach, dezidiert der Meinung, alleine die Liturgie könne den Maßstab christlicher Spiritualität setzen. Daran gemessen erschienen ihm die mittelalterlichen und neuzeitlichen Ausdrucksformen der Volksfrömmigkeit als defizitär - und zwar gerade durch die Überlagerung des Gemeinschaftlichen durch das Individuelle.

Eine abweichende Meinung vertrat Romano Guardini (1885-1968), der ab 1927 als Leiter von Burg Rothenfels den Brückenschlag zwischen Liturgischer Bewegung und katholischer Jugendbewegung verkörpern sollte. Zwar hebt auch Guardini in seiner berühmten Programmschrift „Vom Geist der Liturgie“ den strikt gemeinschaftlichen Charakter der Liturgie hervor, doch lehnt er es ab, diesen Grundzug des Gottesdienstes gegen andere legitime Facetten christlicher Spiritualität auszuspielen. So finden sich unter seinen Schriften ganz bewusst auch je eine über den Kreuzweg und über den Rosenkranz15. Nach den Gesprächsnotizen seines Sekretärs Erich Görner kritisiert er 1932 die einseitige Fixierung Casels gerade im Licht der zeitgenössischen politischen Entwicklungen:

„Die Folge ist, daß alles starr wird. Hier ist Maria Laach mit der neuen Staatsauffassung einig. Diese sagt: die staatsfreie Individualsphäre gibt es nicht. Und jene: Die liturgiefreie Frömmigkeit gibt es nicht. Es gilt auch das, wo der Mensch mit sich vor Gott alleine ist. Das ist die Stelle, wo der Protestantismus in die Kirche hineingeholt werden muß.“16

Lenken wir den Blick von dieser vielsagenden Kontroverse wieder zurück auf die großen Linien der kirchlichen und liturgischen Entwicklung. Für die Eucharistiefeier bemühten sich schon die Kommuniondekrete unter Pius X. zu Beginn des 20. Jahrhunderts um eine Wiedergewinnung der sumptio17. Die Gemeinschaftlichkeit der Messfeier wurde an verschiedenen Zentralorten der Liturgischen Bewegung aufs Neue erprobt und verbreitete sich in Form der Gemeinschaftsmesse in weiteren Kreisen18. Die Liturgiekonstitution des Zweiten Vatikanums und die auf ihr fußende umfassende Liturgiereform machten sich das Kriterium der participatio actuosa zu eigen, sodass die Messe heute nicht mehr vom Priester gelesen, sondern wieder von der ganzen Gemeinde gefeiert wird.

In der Andachtspraxis, also im Bereich der außerliturgischen und tendenziell individuelleren Formen, kam es nach dem Konzil zu einem tiefen Einschnitt. Traditionelle Andachtsformen gerieten in die Krise, während sich neue Formen allenfalls zurückhaltend und in bestimmten Segmenten kirchlichen Lebens etablieren konnten. Bis in jüngerer Zeit der Priestermangel seine Wirkungen zeitigte, war in der Breite das Bild des öffentlichen Gebetslebens durch die tägliche Messfeier bestimmt; in einem gewissen Sinn, so könnte man sagen, hat sich also die Position Odo Casels durchgesetzt. Zwar veröffentlichte die Gottesdienstkongregation 2001 ein ausgesprochen dickleibiges „Direktorium über die Volksfrömmigkeit und die Liturgie“19. Was darin beschrieben wird, ist aber in weiten Teilen - zumindest hierzulande - als kaum existent zu betrachten.

Konsequenzen

1. Phänotypisch lässt sich Nightfever als Versuch deuten, mit der eucharistischen Anbetung eine traditionelle Andachtspraxis zeitgemäß neu zu interpretieren und in Szene zu setzen. Die für Nightfever typische Ästhetik will in Optik und Musik zumal junge Menschen ansprechen und setzt bewusst einen Kontrapunkt zu dem etwas angestaubten Image, das weithin mit überkommenen Andachtsformen assoziiert wird. Nicht nur für die örtlichen Veranstalter, sondern auch für jene Teilnehmer, die praktizierende Christen sind, bietet Nightfever in Stil und Ausrichtung eine ergänzende Möglichkeit, die innere Dimension ihrer Glaubenspraxis meditativ auszuloten.

2. Nightfever hebt ausgesprochen auf individuelle Freiräume der Gottesbegegnung ab. Zwar werden Passanten aktiv in die Kirche eingeladen, dort jedoch ihrem je eigenen Rhythmus und Interesse überlassen. Damit entspricht Nightfever möglicherweise einem Charakteristikum heutiger Befindlichkeit, deren Suche nach freier individueller Entfaltung sich markant vom herrschenden Gemeinschaftsgeist zur Zeit der Liturgischen Bewegung unterscheidet.

3. An die eigene Adresse der Liturgiewissenschaft wäre die Anfrage zu richten, ob nicht bis heute eine gewisse Grundskepsis gegenüber der „Volksfrömmigkeit“ herrscht, vor allem was individuell akzentuierte Formen der Spiritualität betrifft. Guardinis integrative Sicht auf das geistliche Leben des Christen bleibt eine Herausforderung:

„Es gibt keine Kirche, deren Gläubige nicht zugleich in sich ruhende Innenwelten wären, mit sich und mit ihrem Gott allein. Es gibt keine christliche Persönlichkeit, die nicht zugleich als lebendiges Glied in der kirchlichen Gemeinschaft stünde.“20

4. Das Phänomen Nightfever scheint im Blick auf die beteiligten Personen zwei Ebenen zu haben. Da ist zum einen der Kreis intensiv praktizierender Katholikinnen und Katholiken, der die Organisation und Durchführung von Nightfever trägt oder das Angebot bewusst nachfragt. Da sind zum anderen von der Straße weg eingeladene Passanten, von denen ein großer Teil mutmaßlich der Kirche eher fern steht oder gar nicht zur Kirche gehört.

Darin aber zeigt sich ein grundverschiedener Ansatz gegenüber der Alten Kirche: Was diese strikt dem innersten Kreis der voll Initiierten vorbehielt, die Eucharistie, wird zum Medium, mit den Äußeren in Kontakt zu treten. Die Alte Kirche hätte diese Funktion der Verkündigung zugeschrieben, die erst zur Eucharistie hinführen könne, die aber bei Nightfever a prima vista nur am Rande eine Rolle spielt. Die Konstellation von Nightfever unterscheidet sich auch erheblich von den Rahmenbedingungen, unter denen die Eucharistieverehrung ursprünglich aufkam: Die Schaufrömmigkeit ist in einer durch und durch volkskirchlichen Situation entstanden21; dies ist aber nicht mehr die Situation einer belebten Innenstadt zu Beginn des 3. Jahrtausends. Diese Verschiebungen scheinen mir im Blick auf Nightfever noch nicht hinreichend auf ihre Implikationen hin bedacht zu sein. Auf das Problem angesprochen, antwortete mir einmal ein Aktiver: „Wir vertrauen darauf, dass ER das aushält.“ Ich würde sagen: ER hält es gewiss aus. Nur: Tut es der Kirche gut, den engen Konnex von Eucharistie und Ekklesiologie zu lockern?

5. Der erwartbare Einwand darauf lautet: Die Kommunion bleibt ja den Kirchengliedern vorbehalten. An dieser Stelle drängt sich jedoch sogleich die zweite Anfrage an Nightfever auf. Jede Anbetung außerhalb der Messe bleibt auf die Eucharistiefeier ausgerichtet. Im Konzept von Nightfever wird der wesenhafte Konnex von sumptio und adoratio nur stellvertretend gewährleistet. Die Veranstaltung beginnt zwar grundsätzlich mit einer Messfeier. Die Mehrzahl der Menschen, die sich im Laufe des Abends in die Kirche einladen lassen, hat aber nicht nur an dieser Feier nicht teilgenommen; vielmehr pflegen viele überhaupt keine eucharistische Praxis.

Ist nun der Konnex von sumptio und adoratio in jedem Fall zentral, erhebt sich daher die Frage: Sind wir nicht seit dem Konzil mit guten Gründen von stellvertretendem liturgischen Handeln abgekommen? Wollte man hingegen den Konnex im Blick auf die Passanten für weniger relevant erklären, stünde man vor einer problematischen Alternative: Entweder erscheint die Monstranz als mehr oder minder austauschbares Accessoire der atmosphärischen Kirchenraumgestaltung. Tatsächlich warf 2007 ein Leserbrief in der Zeitschrift „Gottesdienst“ die Frage auf: „Hätte den Besuchern der Kirche etwas gefehlt, wenn das Allerheiligste nicht ausgesetzt gewesen wäre?“22 Wenn aber die Freunde von Nightfever sagen, es hätte etwas gefehlt, stellt sich eine andere Frage: Ist nicht erneut der Gedanke der Realpräsenz einseitig betont gegenüber dem gemeinschaftlichen Verständnis von Eucharistie eines Paulus oder Augustinus?

Wie sehr die Ästhetik von Nightfever von einem solchen Verständnis der Eucharistie abstrahiert, zeigt ein Detail, auf das eingangs bereits hingewiesen wurde: Das rote und das weiße Tuch sollen dem „Leitfaden Nightfever“ zufolge „Blut und Wasser aus der Seite Christi, als Zeichen für seine Barmherzigkeit, symbolisieren“23. Wohl schon Johannes, dessen Passionserzählung das Motiv entnommen ist (Joh 19,34), auf jeden Fall aber die theologische Deutung seit patristischer Zeit beziehen Blut und Wasser konkret auf Eucharistie und Taufe24. Vor diesem Hintergrund erscheint es eigenartig, dass aus dem eucharistischen Brot das Zeichen der Eucharistie herausfließt. Das ergibt nur Sinn, wenn man die Hostie gleichsam zum Meta-Symbol erklärt und ausschließlich auf die Körperlichkeit des real präsenten Christus bezieht. Seinen eigenen Worten nach will der Herr aber nicht in einem Meta-Symbol gegenwärtig werden, sondern ganz konkret im Brot, das seine Jünger teilen und verzehren sollen, auf dass sein Wunsch wahr werde: „Alle sollen eins sein“ (Joh 17,21).

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