"Ab und zu glaube ich an Gott."Religion und Moral im modernen skandinavischen Kriminalroman

Skandinavische Kriminalromane haben seit einigen Jahren in Deutschland Hochkonjunktur. Thomas Weißer - er publiziert unter dem Namen Thomas Laubach -, Professor für Theologische Ethik an der Universität Bamberg, untersucht die Rolle von Religion und Moral in diesen Krimis anhand ausgewählter Beispiele.

Kains Totschlag gilt als erster Kriminalfall der Geschichte. Und so wundert es nicht, dass die Religion Bestandteil des Genres Kriminalliteratur seit ihrem Beginn ist1. Aber erst Dan Browns Thriller "Illuminati"2 leitete eine unübersehbare Zunahme des Religiösen im Kriminalroman ein. Wobei allerdings Religion und religiöse Moral in ganz unterschiedlicher Art und Weise in der Kriminalliteratur des 21. Jahrhunderts verhandelt werden3. Bisweilen bietet vor allem der christliche Glaube eine Art folkloristischen Hintergrund, steht exemplarisch für eine andere, meist gestrige oder mindestens aus der Zeit gefallene Welt, dann wieder liefert er Personenkonstellationen und Motive für Mörder und Opfer, und schließlich hilft der Rückgriff auf die Religion, existenzielle Fragen nach Gott und Welt, Tod und Leben zu verhandeln. Die Welt des Religiösen wird darüber hinaus häufig als Welt einer bestimmten, in der Regel rigiden Moral wahrgenommen, an denen sich Kommissare oder Polizisten abarbeiten können.

In besonderer Weise wird das weite Feld der Religion in der modernen skandinavischen Kriminalliteratur thematisiert. Das ist umso bemerkenswerter, als skandinavische Kriminalromane als prägende und stilbildende Vertreter ihrer Gattung gelten4. Nicht von ungefähr lässt sich die vor allem in philosophisch-theologischen wie gesellschaftswissenschaftlichen Zusammenhängen diskutierte These von der "Rückkehr der Religion"5 in exemplarischer Weise an der skandinavischen Kriminalliteratur der Gegenwart aufweisen.

Zwei Beobachtungen: In formaler Hinsicht setzen Lektoren und Verleger auch bei skandinavischen Kriminalromanen auf eine religiöse Semantik hinsichtlich der Titelei. Zu nennen ist etwa die berühmte Millenium-Trilogie von Stieg Larsson mit den drei Bänden "Verblendung", "Verdammnis" und "Vergebung", die eine religiös-ethische Terminologie aufgreifen. Weitere Verweise auf die Welt der - vor allem christlichen - Religion lassen sich finden: Zitiert oder assoziiert werden in Romantiteln die zehn Gebote, biblische Sentenzen oder liturgische Idiome6 sowie theologische Begriffe7.

Auch in inhaltlicher Perspektive zeigt sich dieser Trend. Denn selbst wenn die Titelei marktgängigen Klischees folgt8, so verweist sie doch in aller Regel darauf, dass in den Romanen religiöse Fragen im weitesten Sinne thematisiert werden - und sich dadurch als spannender und ungewöhnlicher Zugriff auf die Frage nach Gott, Kirche, Glaube und Welt erweisen.

Die theologische Relevanz der engen Verbindung von Kriminalliteratur und religiöser Thematik wird im Folgenden in dreifacher Hinsicht deutlich gemacht: anhand des Umgangs mit der Figur des Pfarrers, an der Gottesthematik sowie am Verhältnis von Moral und Religion.

"Er nannte uns Geldwechsler" - Pfarrerbilder

Im skandinavischen Kriminalroman findet sich kein ermittelnder Priester oder Pfarrer, wie er seit Gilbert Keith Chestertons "Father Brown" nicht mehr aus der Kriminalliteratur wegzudenken ist9. Stattdessen tritt der "religiöse Funktionär" als Opfer und/oder Täter auf.

In "Tod im Pfarrhaus"10 macht die norwegische Autorin Helene Tursten einen Priester und seine Familie zu Opfern eines Gewaltverbrechens. Der Plot: Ein Pfarrer, seine Frau und ihr Sohn werden tot aufgefunden. Zunächst scheinen Satanisten die Täter zu sein: Pentagramme finden sich im Pfarrhaus, ein Kreuz hängt verkehrt herum an der Wand. Doch im Laufe der Ermittlungen stellt sich heraus, dass Vater und Sohn Teil eines Pädophilennetzwerks waren: Sexuell missbraucht wurde nicht nur die Tochter bzw. Schwester Rebekka; Vater und Sohn nutzten ebenso ihre caritative Tätigkeit in Afrika für den Missbrauch von Kindern. Die Filme ihrer pädophilen Taten stellen Pfarrer und Sohn ins Netz, verbreiten sie unter Gleichgesinnten. Der brutal ums Leben gekommene Priester entpuppt sich somit im Laufe der Ermittlungen als skrupelloser Verbrecher.

"Tod im Pfarrhaus" ist damit auf mehrfacher Ebene anzusiedeln: Vordergründig ist es die Pfarrersfamilie, die ausgelöscht wird; auf einer zweiten Ebene sind es aber Rebekka und die anderen missbrauchten Kinder, die im übertragenen Sinn im Pfarrhaus gestorben sind - der Missbrauch zeichnet sie für immer, lässt ihnen kein Leben im Vollsinn mehr. Tursten erzählt so einerseits eine recht "konventionelle" Missbrauchsgeschichte. Anderseits ist die "religiöse Grundierung" ihres Falles offensichtlich, durch die der Missbrauch besonderes Gewicht erhält. Rebekkas Vater, so heißt es in der Auflösung des Falles, "hatte ihr eingeredet, dass sie der Zorn Gottes treffen würde, wenn sie jemandem davon erzählen würde, denn laut den Zehn Geboten soll man seinen Vater und seine Mutter ehren." (329)

Während das Schweigegebot häufiger Bestandteil sexueller Gewalt ist11, wird dieses in Turstens Roman durch den Pastor religiös überhöht. Tursten stellt damit einen Verbrecher vor, der sich einerseits auf die Seite religiöser Moral stellt, anderseits diese in seinen Verbrechen systematisch missachtet. Ohne dass nun Tursten selbst eine Wertung dieses Geschehens vornimmt, wird dem Leser nahe gelegt, wie moralisch perfide diese Konstruktion ist. Erst auf den letzten Seiten des Romans ist es Inspektorin Irene Huss, die das in Worte fassen kann - mit dem wiederum religiös konnotierten Begriff des Teufels:

"Wo der Teufel deutlich zum Ausdruck kommt, ist er leicht zu erkennen. Mord, Misshandlung und Vergewaltigung sind handfeste und deutliche Manifestationen des Teufels, die wir bekämpfen können. […] Niemand vermutet den Teufel in einem älteren Hauptpfarrer mit einem silbernen Kreuz um den Hals und in goldbestickten Messgewändern." (347 f.)

Lange vor dem Missbrauchsskandal in Deutschland geschrieben, entfaltet der Roman in seiner Schlichtheit gerade Jahre später seine ganze Kraft - und spitzt die besondere Problematik pädophilen Handelns durch Priester in beklemmender Weise zu.

Auch in "Vergeltung"12, dem Debütroman der dänischen Autorin Julie Hastrup, steht eine Pfarrersfamilie im Mittelpunkt. Hier sind es der erfolgreiche Pastor einer freikirchlichen Gemeinde und seine Familie, die ins Zentrum einer Mordermittlung rücken. Anna, eine junge Frau, wurde brutal zugerichtet aufgefunden. Die Spuren weisen - unter anderem - in die Pfarrersfamilie hinein. Im Laufe der Ermittlungen stellt sich heraus, dass die Tote eine Beziehung zu Erik, einem der Kinder des Pastors hatte. Zugleich stand das Opfer aber auch in einer sexuellen Beziehung zu seinem eigenen Vater; beides Beziehungen, die - aus unterschiedlichen Perspektiven - in moralischer Hinsicht "nicht sein dürfen". Die Beziehung zum Vater fällt unter den gesellschaftlich problematisch angesehenen Ehebruch sowie unter den strafrechtlichen Tatbestand des Inzests, die Beziehung zum Pfarrerssohn kollidiert indes mit der rigiden Sexualmoral der Freikirche des Pastors und ihrem Verbot sexueller Beziehungen vor der Ehe. Erik, der Pfarrerssohn, weiß, was von ihm erwartet wird:

"Wir konnten unsere Liebe nicht offen leben. Meine Eltern […] Anna war ja keine von uns. Meine Eltern wollen, dass ich einmal ein Mädchen aus der Gemeinde heirate." (85)

Überraschenderweise aber entpuppt sich die Frau des freikirchlichen Pastors als Mörderin. Sie stellt sich als Mutter der Toten heraus: Anna wurde unehelich geboren und dann zur Adoption freigegeben. Auf verschlungenen Wegen haben sich aber die Leben von Mutter und Kind wieder gekreuzt - die Mutter sah ihre eigene Existenz und das religiöse Werk ihres Mannes durch das uneheliche Kind gefährdet. Um den offenkundigen Verstoß gegen die Sexualmoral der eigenen Kirche zu verbergen, beschließt die Mutter, ihre eigene Tochter zu töten. Die Widersprüche, in die sie ihr Mord verwickelt, sieht die Mörderin allerdings nicht: Ihre Schwangerschaft darf sie nicht mit einer Abtreibung beenden, das verbietet ihr der Glaube; doch einen Mord zu verüben, um diese Schwangerschaft auch Jahre später noch zu vertuschen, das scheint in ihr keine Zweifel auszulösen.

Letztlich, so könnte dieser Plot nahelegen, sind die engen Vorschriften der Kirche hinsichtlich Glaube und Moral für Mord und Tod verantwortlich. Eine liberalere Welt, so die implizite These, gebiert keine Mörder. Doch so einfach macht es sich Hastrup nicht. Der geschilderte Missbrauch der Adoptivtochter durch den Vater macht im Gegenteil deutlich, dass auch der liberale Umgang mit Sexualität nicht dazu führt, dass diese per se freier und selbstbestimmter gelebt werden kann und gelebt wird. Letztlich, das legt der Roman nahe, verhindern weder eine rigide noch eine liberale Moral die Schrecken, die sich hier wie dort aus dem Umgang mit Sexualität ergeben können.

In die Welt freikirchlichen Christentums führt auch der Kriminalroman "Sonnensturm"13 der schwedischen Schriftstellerin Åsa Larsson. Formales Gliederungsmerkmal des Romans sind die Kapitelüberschriften, die dem biblischen Schöpfungshymnus entliehen sind. Sieben Kapitel, sieben Tage, in denen sich Schöpfung im Kleinen vollzieht: Die ermittelnde Kriminalinspektorin bringt am siebten Tag ein Kind zur Welt. Wobei Larsson mit dem biblischen Referenztext recht frei umgeht. Denn der erste Schöpfungsbericht der Bibel (Gen 1,1-2,4) erzählt ja gerade, dass Gott am siebten Tag die Schöpfung vollendet, indem er ruht.

Im Roman kontrastiert Larsson die Schöpfungs- und Geburtsgeschichte mit der Erzählung einer "Anti-Schöpfung": Die Gemeinde der Kirche der Kraftquelle in Kiruna in Nordschweden ist in diesen sieben Tagen zunächst Schauplatz eines Mordes und wird dann nach und nach zu einem Ort totaler Vernichtung. Es stellt sich heraus, dass Viktor, das Mordopfer, unter Mithilfe zweier Pastoren umgebracht wurde. Viktor, der ein Nah-Tod-Erlebnis hatte, ein Buch darüber schrieb und dadurch eine Art Wallfahrt auslöste, wollte die finanziellen Transaktionen der Gemeinde nicht mehr mittragen, wie Vesa Larsson, einer der Pastoren der Gemeinde, gesteht:

"Viktor wollte nicht auf uns hören. Er sagte, er habe gefastet und gebetet und sei dann zu dem Schluss gekommen, dass in der Gemeinde eine Reinigungsaktion angesagt sei. […] Er nannte uns Geldwechsler, die aus dem Tempel verjagt werden müssten. Das hier sei Gottes Werk, während wir es dem Mammon schenken wollten." (326-327)

Die biblischen Parallelen sind unübersehbar: So wie Jesus die Austreibung der Händler und Käufer aus dem Tempel (Mk 11, 15-18) letztendlich mit dem Tod bezahlt, so muss auch Viktor sein Leben lassen.

Åsa Larsson erzählt allerdings nicht nur eine Kriminalgeschichte, die die biblischen Texte als Referenzgrößen benutzt. Sie macht den Diskurs über die Moral des Geldes zu einem weiteren Angelpunkt ihres Romans. Während die Pastoren Geld als neutrales Medium betrachten, das mit Glaube und Religion nichts zu tun hat, nimmt der ermordete Viktor Strandgård eine völlig andere Position ein: Geld ist für ihn keine wertneutrale Größe, sondern es durchdringt und bestimmt praktisch alle Lebensbereiche; deshalb erfordert der Umgang mit Geld besondere Verantwortlichkeit14. Dabei zeigt die Autorin deutlich Sympathien für die "jesuanische" Position Viktors, der seine Pastoren an das Bibelwort aus Lk 16,13 erinnert: "Ihr könnt nicht beiden dienen, Gott und dem Mammon." (327) Gerade der Pastor Vesa Larsson aber steht für die zersetzende Macht des Geldes, steht für das Scheitern der Idee, Glaube und Geld könnten miteinander versöhnt werden.

Auch in "Der Erlöser", dem sechsten Band der Harry-Hole-Reihe des norwegischen Autors Jo Nesbø, stehen religiöse Funktionäre im Mittelpunkt des Kriminalfalls15. Nesbø siedelt seine Geschichte im Milieu der norwegischen Heilsarmee an. Zentrale Figur ist der Heilsarmist Jon Karlsen, ein nach außen hin integerer und untadeliger 'Soldat' der Heilsarmee. Doch im Laufe der Handlung enthüllt sich, dass sowohl seine religiösen Überzeugungen wie seine moralischen Einstellungen weit entfernt von den Idealen einer christlichen Gruppierung sind. Wie kaum ein anderer Kriminalautor stellt Nesbø die Frage nach der Orthopraxie als dem eigentlichen Problemfeld christlichen Glaubens in den Mittelpunkt seiner Romane. In "Der Erlöser" wird dies an einer Schlüsselstelle überdeutlich. In ihr bringt Jon Karlsen Essen zu Bedürftigen. Einer von Ihnen, Fredriksen, wird aggressiv, fragt, was Jon als Gegenleistung für das Essen haben möchte. Dieser lehnt ab. Er wolle nichts. Da fährt ihn Fredriksen an:

"'Jetzt machen Sie schon ihr dummes Maul auf und predigen sie […] Predigen sie da oben auf ihrem hochnäsigen Thron, damit wir guten Gewissens essen können! Los jetzt, bringen Sie es hinter sich, wie lautet die heutige Botschaft des Herrn?‘ Jon machte den Mund auf und schloss ihn wieder. Schluckte. Versuchte es erneut […]: 'Die Botschaft lautet, dass Gott seinen Sohn für uns gegeben hat […] zur Erlösung unserer Sünden.' 'Sie lügen!'" (29)

Dass die Antwort "Sie lügen!" in mehrfacher Hinsicht wahr ist, zeigt sich erst im Verlauf des Romans. Deutlich wird: Karlsen glaubt tatsächlich nicht an die befreiende christliche Erlösungsbotschaft. Er glaubt sie weder als Teil eines Bekenntnisses, noch macht er sie durch sein Handeln wahr. Der Heilsarmist wird von Nesbø als zutiefst ungläubiger Mensch gezeichnet. Zum Tragen kommt dieser radikale Unglaube vor allem praktisch. Vordergründig lebt Karlsen, den sexualmoralischen Vorgaben seiner Kirche verpflichtet, eine keusche Freundschaft mit seiner Verlobten Thea, zugleich aber vergewaltigt er fortwährend junge Mädchen, die perfiderweise aus Familien kommen, die auf die Hilfe der Heilsarmee angewiesen sind. Der Sex mit jungen Mädchen ist "das Einzige […], was ihm Erlösung und wahre Befriedigung verschaffte." (470) - Dass sich Gott erlösend in die Welt inkarnierte, das glaubt Jon Karlsen offenkundig nicht. Stringent schildert Nesbø seinen Protagonisten als einen Menschen, der hinsichtlich seines Glaubens, als er am Ende des Romans selbst getötet werden soll, zu einer tiefgreifenden Erkenntnis kommt, "zu einer Erkenntnis, die aus den Jahren des Zweifelns, der Scham und der verzweifelten Gebete erwachsen war: dass niemand die Schreie oder die Gebete jemals hörte." (491)

Doch Nesbø bietet kein plattes Atheistenmanifest. "Der Erlöser" hält auch das Gegenkonzept zu der unerlösten Hauptfigur seines Romans bereit. Es ist Espen Kaspersen, der sich selbst als Mönch bezeichnet (408), vom Betteln auf der Straße lebt und Kierkegaard in der öffentlichen Bücherei liest (167). Als der Ermittler Harry Hole ihn fragt, warum er bettelt, gibt er zur Antwort:

"'Weil es meine Aufgabe ist, den Menschen einen Spiegel vorzuhalten, damit sie sich selbst sehen können und erkennen, was groß und was klein ist.' 'Und was ist groß?' (fragt ihn Hole; Th. L.) […] 'Die Barmherzigkeit. Zu teilen und seinem Nächsten zu helfen. Die Bibel handelt beinahe ausschließlich davon. In Wirklichkeit muss man verdammt suchen, um darin etwas zu Themen wie Sex vor der Ehe, Abtreibung, Homosexualität oder Rederecht für Frauen zu finden. Aber natürlich fällt es diesen Pharisäern leichter, lauthals über die Nebensätze der Bibel zu dozieren, als das Große zu tun und zu verkünden, was die Bibel mit allem Nachdruck festhält: dass man nämlich die Hälfte von all seinem Besitz demjenigen geben soll, der nichts hat.'" (6.408)

So klischeehaft das klingt, macht es genau auf das Problem der Doppelmoral aufmerksam, das für einige Mitglieder der Heilsarmee im Roman - und für viele Christen - zur zweiten Haut geworden ist. Diese Doppelmoral zeigt Nesbø auf: Nächstenliebe wird gepredigt, aber Karrierepläne werden verfolgt, Armut gehört zum Bekenntnis der Heilsarmee, aber ihr Geld legt sie gewinnbringend an, Keuschheit tragen die Heilsarmisten auf den Lippen, aber sexuelle Gewalt vollzieht sich in ihren Reihen. Joachim Kronsbein hält, gerade aus theologischer Sicht ernüchternd, in einer Rezension von Nesbøs "Der Erlöser" fest:

"Immer sind seine Plots auch Vehikel, um aufzuzeigen, was faul ist im Staate Norwegen - die Reste faschistischer Gesinnung etwa in 'Rotkehlchen' oder die grauen Schlacken religiösen Wahns in 'Der Erlöser'."16

"Der größte Rächer von allen" - Gott

Vor dem Hintergrund der bisherigen Darstellung überrascht es kaum, dass in vielen skandinavischen Kriminalromanen auch die explizite Frage nach Gott ein wesentliches Thema ist.

Vor allem die philosophisch angelegten und literarisch experimentierfreudigen Romane des schwedischen Autors Håkan Nesser bieten solche Diskurse über Gott. Sicher: Insgesamt schlägt er vor allem in seiner Van-Veeteren-Reihe eher einen existenzialistischen Grundzug an, etwa in dem Roman "Die Schwalbe, die Katze, die Rose und der Tod"17. Kommissar Van Veeteren bezeichnet sich zwar selbst als "abgesprungenen agnostischen Kriminalkommissar" (126), aber Gründe, "ein stilles Gebet zu sprechen"(507), findet er trotz alle dem. Allerdings erscheint dieser Gebetsreflex mehr als Rest vergangener Frömmigkeit, denn als Rückkehr zu einem Gespräch mit Gott. Das zeigt sich auch im Plot des Romans. Er kreist um einen perfiden Mörder, der sowohl von der Tochter eines seiner Opfer, wie auch von Van Veeteren verfolgt wird. Kurz bevor die Tochter des Opfers den Mörder ihrer Mutter zur Strecke bringt, denkt sie an ihren Großvater: "'Das Problem ist', hatte ihr Großvater auf seinem Totenbett erklärt, 'das Problem ist, dass es Gott nicht gibt.' […] Er war sein ganzes Leben lang strenggläubig gewesen." (556)

Diese Erkenntnis ist nicht allein eine Einsicht in die Irrealität Gottes. Sie wird vielmehr gleichgesetzt mit dem Wissen darum, dass es keine Gerechtigkeit gibt, mit der Forderung, dass Menschen selbst für Gerechtigkeit sorgen müssen:

"Gott gibt es nicht, deshalb müssen wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen. […] Gott …. dachte sie und hob es (das Rohr; Th. L.) hoch in die Luft. Er (der Mörder; Th. L.) wandte den Kopf und starrte sie den Bruchteil einer Sekunde lang an. […] gibt es nicht, dachte sie und schwang das Rohr." (557-559)

Entsprechend der Maxime, dass der Mensch selbst Gerechtigkeit herstellen muss, rächt sich die Tochter des Opfers am Mörder. Und diese Rache fällt grausam aus: Der Mörder wird getötet und auf das Brutalste gefoltert und verstümmelt. Während Nesser im neutral-nüchternen Ton die Umstände dieses Todes schildert, lässt er seinen Kommissar hingegen fieberhaft nach einer Erklärung suchen. Wobei sich Van Veeteren selbst fragt, ob es überhaupt einen Sinn hat, nach einer solchen Erklärung zu suchen. Gott, so legt Nesser nahe, verschwindet aus der Welt: Er sorgt weder für Gerechtigkeit, noch hält er eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn menschlichen Lebens und Handelns bereit. Kein Wunder, dass der Kommissar durchaus Sympathie für den Mord am Mörder hegt.

Die norwegische Autorin Anne Holt geht in ihrem Roman "Gotteszahl"18 ganz anders mit der Gottesfrage um. Sie entfaltet anhand verschiedener Figuren innerhalb ihrer Kriminalgeschichte ein breites Panorama möglicher Antworten auf die Frage nach Gott im 21. Jahrhundert.

Der Mörder, ein religiöser Fundamentalist, der Homosexuelle hinrichtet, tötet "auf Befehl des Herrn" (432) und "im Namen Gottes" (432). Er pflegt ein Verhältnis zu Gott, das dem alttestamentlicher Propheten ähnelt: Er lässt sich von Gott persönlich ansprechen, nimmt von ihm Botschaften und Befehle entgegen. Sein Gott ist ein strafender, rächender und persönlicher Gottes. Dieser wählt einen Menschen zu seinem Werkzeug und lässt ihn leiden, um Erkenntnis und Gottesfurcht zu ermöglichen. Theologisch trägt dieses Gottesbild stark traditionalistische und sektiererische Züge.

Ein ganz anderes Gottesbild ist mit einem der Opfer, Bischöfin Eva Karin Lysgaard, verknüpft. Im Epilog des Romans tritt sie als Jugendliche auf. Lysgaard lebt in einer kämpferisch areligiösen Familie - aber sie "will an Gott glauben" (458). Doch das führt sie in eine existenzielle Krise:

"Sie hat viel in der verbotenen Bibel gelesen, aber sie findet nur Verdammnis. Gott und ihr Vater sind nur in einem Punkt einer Ansicht: Solche wie sie haben kein Lebensrecht." (458)

Solche wie sie - Lysgaard weiß schon als Jugendliche, dass sie eine besondere sexuelle Identität besitzt: Sie ist homosexuell. Verzweifelt will sie sich das Leben nehmen - da begegnet sie einem Mann. Dieser ist, das legt Holt nahe, Jesus. "Fürchte dich nicht", sagt er - "Und das Größte von allem ist die Liebe" (461). Er ermutigt Eva, ihren Weg - auch den Weg ihrer sexuellen Identität - weiterzugehen, stellt Liebe über Bosheit, Strenge und Finsternis (462).

Der Mörder und eines seiner Opfer erfahren beide Gott - der sich für sie in ganz unterschiedlicher Weise zu erkennen gibt. Einerseits fordert er den Tod homosexueller Menschen, anderseits stellt er die Liebe über alles. Glaube und sexuelle Identität stehen so zugleich unversöhnlich wie auch versöhnt gegeneinander - ein Widerspruch, den der Roman aufzeigt, aber offen lässt.

Auch Jo Nesbø artikuliert in seinen Harry-Hole-Romanen immer wieder die Frage nach Gott. In "Die Larve"19 wird der Ermittler Harry Hole von einem vermeintlichen Pastor gefragt: "Ist es wirklich so sicher, dass Gott nicht existiert und dass er kein Gesicht hat?" (152) Und Nesbø beschreibt Holes Reaktion: "Harry lachte leise." Ein einvernehmliches Lachen? Ein wissendes Lachen? Sicher ein Lachen, das einen Zweifel am festen Glauben, dass Gott nicht sei, erkennen lässt. Allerdings glaubt auch Hole nicht in einem traditionell christlichen Sinn. Er glaubt vielmehr im Sinne einer Sehnsucht nach einem Gott der Gerechtigkeit.

Hole meditiert in "Die Fährte"20 anlässlich einer Beerdigung über den Satz des Pastors "Gott gibt und Gott nimmt":

"Der Herr soll richten über die Lebenden und die Toten. Gottes Rache, Gott als Nemesis. […] Das Schwert in der einen, die Waage in der anderen Hand, Rache und Gerechtigkeit. Oder ungerächt und ungerecht." (149)

Dieses Motiv des rächenden Gottes wird in "Die Fährte" immer weiter vorangetrieben. Gegen Ende des Romans fasst etwa der Kriminalpsychologe Ståle Aune zusammen:

"Die christliche Ethik, zu der sie (die Mörderin; Th. L.) sich schließlich bekannte, verbietet ja die Rache. Dabei ist es natürlich ein Paradoxon, dass sich die Christen zu einem Gott bekennen, der der größte Rächer von allen ist. Widersetzt du dich ihm, wirst du für immer in der Hölle schmoren, eine Rache jenseits aller Dimensionen […]." (512)

Nesbø macht dementgegen deutlich, dass in der säkularen Gesellschaft die sozialen Institutionen an die Stelle Gottes treten. So sagt Hole in einem Gespräch zu seiner Kollegin:

"Sieh dich um. Die Menschheit scheint ohne sie (die Rache; Th. L.) nicht zu funktionieren. […] Und sieh uns doch an. Die glühende Rache der Gesellschaft verkleidet als kalte, rationale Vergeltung - das ist unsere Profession." (4.221)

Deutlich wird: Die modernen Antworten auf die Fragen des Lebens, wie etwa der Frage nach Gerechtigkeit, verknüpft Nesbø mit den alten Antworten der Religionen. Dabei überwiegt die Konzeption, dass Menschen an die Stelle Gottes treten - bei der Rache wie auch bei der Konstruktion von Gerechtigkeit und Erlösung. Eine Position, die auch bei Håkan Nesser zu finden ist. In "Der Erlöser" macht Nesbø dies an der Figur Birger Holmens deutlich. Hole ermittelt, dass Holmen seinen drogensüchtigen Sohn Per getötet hat. Als Hole Birger Holmen verhaftet, entspinnt sich ein Gespräch zwischen Vater und Ermittler:

"(Holmen) 'Sie müssen verstehen [...] mein Sohn war ein Toter, der nur darauf wartete, […] dass jemand dieses Herz, das einfach nicht aufhören wollte zu schlagen, endlich zum Stillstand brachte. Einen […] einen […]' (Hole) 'Erlöser'. (Holmen) 'Ja, genau, einen Erlöser'. (Hole) 'Aber das ist nicht ihr Job, Holmen.' (Holmen) 'Nein, das ist Gottes Job.' Holmen senkte seinen Kopf […] 'Aber wenn Gott seine Arbeit nicht tut, muss sie eben jemand anders tun.'" (77-78)

Nesbø greift hier - bewusst oder nicht - auf Siegfried Kracauers Theorie zum Detektiv zurück. Kracauer versteht den Detektiv als "Widerspruch Gottes selber"21, weil dieser völlig auf Immanenz setze und die Transzendenz verabschiedet hat: "Dieser Detektiv-Gott ist Gott in einer Welt nur, die Gott verlassen hat und darum nicht eigentlich ist […]"22.

Die Abwesenheit Gottes ist es, die den Detektiv, den Ermittler, den Kommissar erfordert, damit wenigstens in Ansätzen Gerechtigkeit auch ohne Gott hergestellt werden kann. Die sich hier herauskristallisierende Ambivalenz hält Nesbø in seinen Romanen offen. Ihre Fragen: Wie ist eine humane Gesellschaft ohne die Präsenz Gottes denkbar? Wie können Menschen an die Stelle Gottes treten, ohne selbst Grausamkeiten und Gewalt zu wiederholen? In der Reflexion dieser Fragen geht Nesbø über Kracauer hinaus. Der sieht den Detektiv vor allem als Anwalt der "Deduktion"23 und unterstellt dem rationalen Prozess der Verbrechensaufklärung eine gewisse Selbstgenügsamkeit. Nesbøs Harry Hole, wie auch viele andere Ermittler innerhalb der skandinavischen Kriminalliteratur, leiden im Gegensatz dazu unter den Ambivalenzen, die sich aus ihrem Beruf ergeben. Von Selbstgenügsamkeit kann hier keine Rede sein.

Für Hole könnte zudem der Satz gelten, den Anne Holt in "Gotteszahl" Inger Johanne, der Frau des ermittelnden Kommissars Yngvar Stubø, in den Mund legt: "Ab und zu glaube ich an Gott. Ein bisschen jedenfalls." (454) Das ist ein ungewöhnlicher Satz für die in der Summe eher gottesfernen und skeptischen Ermittler der skandinavischen Szene. Er hält offen, dass es jenseits dessen, was Menschen tun und wie sie urteilen eine weitere "Option" des Lebens gibt, dass Transzendenz denkbar und möglich ist, und dass nicht alles in der Welt vom Menschen selbst gerichtet werden muss.

Gott, das legen diese Positionierungen nahe, ist auch heute noch eine offene Frage - auch in der Kriminalliteratur Skandinaviens. Aber - immer noch - eine Größe, an der sich Menschen reiben. Dass die Frage nach Gott nicht ad acta gelegt wird, könnte auch mit der schöpferischen Arbeit des Autors wie auch der Arbeit der Ermittler zusammenhängen, die beide die (Schöpfungs-)Ordnung durch die Festnahme eines Mörders bzw. das Enträtseln eines Falles wiederherstellen - und so Assoziationen zu Gott als Schöpfer nahe legen. Assoziationen, deren sich mitunter auch die Autoren bewusst sind. So schreibt Åsa Larsson in ihrer Danksagung zu "Weiße Nacht": "In meiner Geschichte bin ich Gott." 24

"Ein Schlag ins Gesicht" - Moral und Religion

Schließlich bietet das in der Regel als eng und rigide charakterisierte moralische Korsett religiöser Gruppen einen bevorzugten Hintergrund der Kriminalliteratur skandinavischer Prägung. So schildert die norwegische Schriftstellerin Anne Holt in dem bereits vorgestellten Roman "Gotteszahl" den Kampf einer christlich-fundamentalistischen Gruppe, der "25er", gegen Homosexualität. Ausgangspunkt der Ermittlungen ist ein unerklärlicher Mord an der Bischöfin Eva Karin Lysgaard, die, wie die Ermittlungen später zeigen, eine geheime Liaison zu einer Frau unterhielt. Weitere Fälle kommen hinzu, die nur dadurch verbunden sind, dass alle Opfer homosexuell sind. Der Ermittler Yngvar Stubø kommt mit seinem Team und unterstützt von seiner Frau Inger Johanne auf die Spur dieser Gruppe, die im Namen Gottes Menschen verfolgt und tötet:

"Sie glauben mit einer Inbrunst, die den meisten Menschen fremd wäre. Sie sind fanatisch, aber tiefgläubig. Erwachsene Menschen umzubringen, die ihrer Meinung nach Sünder sind und aufgrund eines gottgegebenen Befehls auch den Tod verdient haben." (393)

Das, so erklärt es Inger Johanne, ist der Grundgedanke der Täter. Homosexuelle sind Sünder:

"Wichtig ist, dass sie sterben, und danach, dass die Mörder, Gottes Vollstrecker gewissermaßen, sich der weltlichen Gesetzgebung entziehen können." (401)

Holts Roman bietet somit eine gewisse Reflexivität hinsichtlich der Motive moderner christlicher Fundamentalisten. Darüber hinaus aber wird Homosexualität an sich nicht diskutiert. Sie wird diskussionslos als - positiver - Bestandteil gesellschaftlicher Wirklichkeit vorgestellt. Das zeigt sich an der Begegnung zwischen dem Ermittler Stubø und Martine Bræekke, der Geliebten der Bischöfin. Bræekke, die wie die tote Bischöfin ihre Beziehung geheim hielt, erlebt in diesem Gespräch etwas anderes, als die sonst erfahrene Ablehnung:

"Dieser groß gewachsene Polizist war etwas anderes. Er behandelte sie mit Respekt. Bewunderung fast […] und sie sprach ein stilles Gebet für den freundlichen Polizisten, der ihr zu verstehen gegeben hatte, dass es nie, nie zu spät ist für einen neuen Anfang." (427-429)

Holt macht das Gefälle deutlich, das zwischen der postulierten christlichen Moral, die im Extremfall bis zum Mord führt, und der liberalen gesellschaftlichen Moral Norwegens, in der Homosexualität "normal" geworden ist, herrscht. Es ist die Kollision beider Moralen, die den Roman antreibt - mehr noch als die Morde, die eher en passant geschildert werden.

Während der Mörder in "Gotteszahl" die restriktive kirchliche Sexualmoral als Triebfeder seines Handelns begreift, nutzt der psychopatische Täter in Jussi Adler- Olsens Roman "Erlösung"25 diese rigide Moral berechnend für seine Verbrechen aus. Im dritten Band der Thrillerserie des dänischen Autors um den Ermittler Carl Mørck wird ein Kidnapper und Mörder gejagt. Dieser entführt jeweils immer zwei Kinder aus Familien, die zu den Zeugen Jehovas oder anderen sektenähnlichen Gruppierungen gehören. Eines der Kinder lässt er gegen eine Lösegeldzahlung frei, das andere ermordet er - verbunden mit der Drohung, der Familie noch mehr Leid zuzufügen, wenn sie sich an die Polizei wenden würde. Aus Angst schweigen die Eltern der Kinder. Ihr Leben in einer eigenen, engen Welt, ihre Ferne zum Staat und seinen Institutionen machen sie zu willfährigen Opfern. Und so bleiben die Taten jahrelang unentdeckt. Das Motiv? Adler-Olsen schildert den Mörder als Menschen, der in einer Familie aufwächst, in der Unterdrückung und Gewalt herrschen und eine rigide Religiosität. Deutlich macht Adler-Olsen dies in einer Rückblende, in der er erzählt, wie sich der Mörder als Jugendlicher in seine Stiefschwester verliebt:

"Er wollte sie küssen, sie in den Arm nehmen und in ihren Augen versinken, aber er wusste, das war strengstens verboten. In den Augen Gottes waren sie echte Geschwister und Gottes Augen waren in diesem Haus allgegenwärtig." (369)

Adler-Olsen stellt die Melange aus Religion, Moral und unterdrückter Sexualität bisweilen sehr holzschnittartig vor, die, das zumindest legt die Erzählung seiner Kindheits- und Jugendgeschichte nahe, zur Entwicklung eines psychopathischen Charakters führt. An seinen religiösen Eltern, die ihn mit einem Kruzifix verprügeln, nimmt er Rache, indem er sie ermordet. Diese erste Rache findet ihre Fortsetzungen in Kidnapping und Ermordung von Kindern aus religiösen Familien. Adler-Olsen schildert nüchtern die Wehrlosigkeit der streng religiösen Familien, ihre vergebliche Zuflucht, die sie bei Gott und der Gottesmutter suchen. Deutlich wird aber auch, dass in Gefährdungssituationen der Glaube in einer modernen Welt und angesichts eines brutalen Entführers und Mörders keine Handlungsoptionen zur Verfügung hält. Die Moral des Glaubens ist, diesen Schluss legt Adler-Olsen nahe, hinderlich dabei, die Welt und ihre Gefahren zu bestehen.

Die untersuchten Romane stellen übereinstimmend Religion als Ausdruck einer voraufklärerischen Welt dar. Erst dies macht es möglich, dass der Glaube zu einer der Triebkräfte mutieren kann, die Mord als Lösung individueller oder sozialer Probleme ermöglichen. Anders formuliert: Die Autorinnen und Autoren legen nahe, dass ohne Religion und ihre Moral die geschilderten Morde nicht "nötig" gewesen wären. Es ist der christliche Glaube, die - scheinbare - Verkörperung der Liebesbotschaft eines dem Menschen zugewandten Gottes, der die Monster gebiert, die Tod und Unheil über die Welt bringen.

Hinzu kommt die - moralische - Fallhöhe zwischen den ausgefeilten religiösen Moralkonzepten und der tatsächlichen Lebenswirklichkeit von religiösen Menschen, die in den meisten Romanen vorgestellt wird. Doppel- und Mehrfachmoralen werden hier mit religiöser Einstellung verknüpft und kritisch vorgestellt. Deutlich zeigt sich dies bei den Romanen von Helene Tursten und Anne Holt. Hier scheinen mit den toten Kirchenvertretern zugleich auch der Glaube und die Kirche(n) selbst zur Strecke gebracht zu werden: als Institutionen, die in der Welt von heute keine Relevanz besitzen. Eine bezeichnende Passage findet sich in Åsa Larssons "Der schwarze Steg":

"Morgens hatte sie (die Kommissarin Anna-Maria Mella; Th. L.) aus Versehen im Autoradio die Morgenandacht gehört. Jemand hatte über den Wert des Stillseins gesprochen. Über den Wert der Stille. So eine Andacht muss für viele Menschen doch ein Schlag ins Gesicht bedeuten, überlegte Anna-Maria. Bei Sven-Erik muss es doch schrecklich still sein, wenn er freihat."26

Sven-Erik, Mellas Kollege, ist geschieden, seine Tochter sieht er selten, er ist allein, hat kaum Kontakte außerhalb des beruflichen Umfeldes. Die Diskrepanz zwischen Morgenandacht und Lebenswelt lässt sich kaum deutlicher machen, als mit dieser Passage. Religion ist mindestens infunktional für die Bewältigung des Alltags. Bisweilen ist sie sogar, das zeigen die vorgestellten Romane, mörderisch.

"Die Abwesenheit der Seele" - Trotzdem glauben

Die systematische Vorstellung ausgewählter skandinavischer Kriminalromane zeigt, dass Religion und Moral, Glaube und sittliches Handeln einen - zunächst überraschenden - Stellenwert besitzen. Überraschend zumindest aus westeuropäischer Perspektive. Denn dass die Welt freikirchlicher und sektiererischer christlicher Kirchen und Gruppen eine solche Bedeutung in den skandinavischen Kriminalromanen einnimmt, versteht sich nicht von selbst. So konstatierte etwa Ulrich Baron:

"Kriminalromane der Schwedin Åsa Larsson ('Sonnensturm') und des Norwegers Jo Nesbø ('Der Erlöser') spielen im Milieu protestantischer Freikirchen und der Heilsarmee, die das Leben ihrer Mitglieder weit stärker prägen, als man es im liberalen Skandinavien erwartet hätte."27

Doch die untersuchten Romane zeigen, dass Religion vor allem als Kontrastfolie zur aufgeklärten liberalen Gesellschaft fungiert. Moralische Rigidität, die patriarchale Struktur der Familie, traditionelle Geschlechterrollen und die Ordnungsfunktion religiöser Regeln stehen dabei im Mittelpunkt. Die Autorinnen und Autoren nehmen demgegenüber - meist über die Figur des bzw. der Ermittler - den Standpunkt der bürgerlich-aufgeklärten, demokratisch-freiheitlichen Werteordnung ein. Ihr Credo lässt sich in wenige Sätze bringen: Missbrauch ist eine Straftat, eine rigide Sexualmoral unterdrückt den Menschen, Frauen und Männer sind gleichgestellt, Gerechtigkeit muss über den Staat wiederhergestellt werden, Verbrechen sind aufzuklären. Prima facie erscheinen diese Wertvorstellungen die ethischen Überzeugungen des 21. Jahrhunderts widerzuspiegeln. Ermittler und Kommissare stehen im Dienst der Aufgabe, diese Ordnung zu verteidigen. Die Fragen allerdings, welche Probleme auch die aufgeklärt-demokratische Welt gebiert, ob die vorgestellte Ordnung überhaupt legitim ist und wie die Frage nach Sinn in einer sinnentleerten Welt beantwortet werden kann, bleiben in der Regel unbearbeitet.

Jo Nesbø bildet hier eine spannende Ausnahme. Er setzt sich in seinen Romanen in aller Deutlichkeit mit den Paradoxa des post-religiösen Lebens auseinander. Einerseits tritt "sein" Ermittler Harry Hole als Protagonist der Moderne auf. Er kann nicht glauben und erteilt aller Transzendenz eine Absage. Er weiß aber auch, dass ein Leben diesseits der Transzendenz nicht lebbar ist: Ohne die Kraft des Versprechens, die Realität der Liebe, die Notwendigkeit des Vertrauens lässt sich nicht leben. Hole ist einerseits ein desillusionierter, glaubensloser Kämpfer, der nur an Beweise glaubt, anderseits aber auch ein Mensch, der gerade durch seine Arbeit immer wieder an die Grenzen dieser Desillusionierung geführt und so doppelt desillusioniert wird: Vom Glauben desillusioniert, ist auch sein glaubensloses Leben ohne Illusionen. Es ist nur als ein Leben im Paradox möglich: Leben, als gäbe es Gott nicht - und doch zu wissen, dass es mehr als Materielles gibt.

Jo Nesbøs "Das fünfte Zeichen"28 schildert diese paradoxe Glaubenshaltung deutlich. Der auktoriale Erzähler hält fest, dass Hole an die Existenz der Seele glaubt:

und zwar "nicht, weil er besonders religiös war, sondern weil ihn eine Sache beim Anblick einer Leiche stets anrührte: der Körper hatte etwas verloren, das sich nicht mit der rein physischen Veränderung erklären ließ, die Körper im Tod nun einmal erfahren. Der Körper glich der leeren Hülle des Insekts in einem Spinnennetz - das Wesen, das Licht war verschwunden, der illusorische Widerschein längst explodierender Sterne. Der Körper war entseelt. Es war die Abwesenheit der Seele, die Harry glauben ließ." (199)

Es ist also für Hole nicht die Existenz, das Sichtbarwerden der Seele oder auch das Eingreifen Gottes in die Welt, das seinen - wenn auch nicht christlich ausgeprägten - Glauben ausmacht. Es ist ein Glaube, der sich aus der Konfrontation mit der Abwesenheit speist. Hole steht damit paradigmatisch für eine These, die immer wieder aus den skandinavischen Kriminalromanen herausspricht: die These, dass sich der Mensch der Moderne seinen eigenen Weg durch eine unerlöste Welt suchen muss, in der scheinbar nur der Tod befreiende - vielleicht sogar erlösende - Wirkung besitzt.

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