Kirche auf der Suche nach neuer Glaubwürdigkeit

Medard Kehl, emeritierter Professor für Dogmatik an der Philosophisch-Theologi­schen Hochschule St. Georgen in Frankfurt am Main, greift auf die Formel von der sündi­gen Kirche zurück und benennt konkrete Schritte, die in der derzeitigen Glaubwürdig­keitskrise der Kirche neue Chancen für eine bessere Kommunikation und für die Verkündigung eröffnen können.

In den letzten Monaten tut sich einiges an kommunikativen Aufbrüchen in der Kirche des deutschsprachigen Raums. Diese Suche nach neuen Wegen einer weit gespannten innerkirchlichen Gesprächskultur verstehe ich als ernsthaften Versuch, sich - wie es der Trierer Bischof Stephan Ackermann genannt hat - der "Herausforderung einer selbstkritischen Relecture" der jüngsten Phase unserer Kirchengeschichte zu stellen; einer Relecture, die aber zugleich den Blick auf die Zukunft unserer Kirche richtet1.

Es geht dabei offensichtlich zentral um die Frage: Was können wir - über die konkreten Fragen im Kontext sexualisierter Gewalt an Kindern und Jugendlichen im Raum der Kirche hinaus - aus all dem lernen, was sich im Jahr 2010 in unserer deutschsprachigen katholischen Kirche ereignet und was uns wie ein kirchengeschichtlicher Tsunami erschüttert hat? Was muß sich bei uns ändern und erneuern, um dem gewaltigen Glaubwürdigkeitsverlust der Kirche kreativ begegnen zu können? Wie können die Menschen - innerhalb und außerhalb der Kirche - wieder neu Vertrauen zu uns gewinnen?

An den Anfang meiner Überlegungen möchte ich ein sehr plastisches Bild für unsere gegenwärtige Situation aus dem erwähnten Artikel von Stephan Ackermann stellen:

"Bei manchen Kommentaren der vergangenen Monate über die katholische Kirche fühlte ich mich erinnert an die mittelalterlichen Darstellungen der ‚Frau Welt‘, jene allegorischen Figuren aus Stein, deren Vorderseite eine verführerisch-anmutige Frau zeigt. Umschreitet man sie und schaut auf ihren Rücken, dann ist dieser übersät von Kröten und Schlangen, Ungeziefer, Eiter und Moder: drastische Symbole der Verdorbenheit. Es scheint, als ob die Mißbrauchsthematik den Blick freigäbe hinter die saubere Fassade der ‚Frau Kirche‘ und ungehindert ihre modrig-abstoßende Kehrseite zeige. Damit ist in den Augen ihrer Gegner die Kirche endlich nun vollends ihrer verlogenen Scheinheiligkeit überführt. Nichts trifft aber die Glaubwürdigkeit der Kirche härter als der Vorwurf der Verlogenheit und Scheinheiligkeit. Denn ohne Vertrauensvorschuß kann die Kirche ihren Auftrag nicht erfüllen."2

Sünde in der Kirche und sündige Kirche

Ein erster Schritt, um aus der gegenwärtigen Vertrauenskrise wieder herauszufinden, liegt darin, daß wir als Kirche offen und ehrlich anerkennen: Bei den in den letzten Jahren weltweit aufgedeckten schweren Vergehen von Priestern, Ordensleuten und anderem kirchlichen Personal an Kindern und Jugendlichen und vor allem beim (zwar verständlichen, aber dennoch) sträflichen Umgang verantwortlicher Kirchen- und Ordensoberer damit haben nicht nur einzelne Personen, sondern hat auch die Kirche als Institution große Schuld auf sich geladen; sie ist darum auch als Institution der Buße und Erneuerung bedürftig (vgl. LG 8).

Um von vornherein ein Mißverständnis auszuschließen: Ich verstehe hier Schuld nicht im Sinn einer Kollektivschuld ("Wir alle sind Täter"), wohl aber im Sinn einer sozialen oder strukturellen Sündigkeit. Beide aus der Befreiungstheologie stammenden Begriffe hat Papst Johannes Paul II. in seiner Sozialenzyklika "Sollicitudo rei socialis" (1987) benutzt - allerdings nicht für die Kirche, sondern für die profane Gesellschaft. Ob diese Begriffe auch auf die Kirche übertragen werden können (so daß man auch von der "sündigen Kirche" sprechen kann und nicht nur von Sünde und Sündern "in" der Kirche), ist theologisch kontrovers. Ich habe bei einer solchen Übertragung auf die Kirche jedoch keine Bedenken. Es gibt dafür gute theologische Gründe. Vor allem aber hilft es der Kirche und ihrem Amt im ganzen zu mehr Bescheidenheit und Demut; und das stärkt auch die Bereitschaft der Kirche, sich als Gemeinschaft im Glauben einer Umkehr und Reinigung zu unterziehen.

Was sind die theologischen Gründe, die ich weitgehend von Henri de Lubac SJ, Hans Urs von Balthasar und Karl Rahner SJ (auf der Basis ihrer Kenntnis der Kirchenväter) übernommen habe3?

Im patristischen Sinn der Kirche als "communio sanctorum" kann die Kirche angemessen nur zugleich als Kirche für die einzelnen und als Kirche aus den einzelnen Glaubenden verstanden werden. Das heißt: Sie ist sowohl die von Christus und seinem Heiligen Geist her den einzelnen vorgegebene, sie in Wort und Sakrament (den "sancta mysteria") heiligende und darum absolut unzerstörbar "heilige" Kirche. Das ist (nach 1 Kor 10,16) der erste Bedeutungsgehalt des biblisch-urkirchlichen Begriffs "koinonia" (communio): Teilgabe an den heiligen Mysterien. Zugleich ist sie aber auch die aus den so geheiligten einzelnen sich aufbauende "Kirche der Heiligen". Als dieses "Wir" der Glaubenden stellt die Kirche deswegen immer auch die von den einzelnen Glaubenden geprägte gemeinsame Ausdrucksform des je persönlichen Glaubens der einzelnen dar (der "sancti" bzw. "sanctae")4.

Nun sind aber die Glaubenden (ausgenommen Christus und die Gottesmutter Maria) offensichtlich nicht nur Heilige, sondern zugleich auch Sünder. Darum prägt dieser so defiziente Glaube der Sünder auch die gemeinsame Gestalt ihres Glaubens mit; er senkt im ganzen das im Glauben wahrnehmbare "Niveau" ihrer von Christus und den ihn vergegenwärtigenden Mysterien stammenden Heiligkeit (K. Rahner). Deshalb ist die Sünde nicht nur eine Wirklichkeit in der Kirche, sondern eine Wirklichkeit der Kirche selbst. Als Gemeinschaft von Sündern schwebt sie eben nicht unbedroht über den konkreten Menschen, sondern wird durch deren Sünde verunstaltet. So können viele Kirchenväter die Kirche mit Recht als "Sünderin" bzw. als "sündig" bezeichnen (casta meretrix - z. B. nach dem Bild der Dirne Rahab im Buch Josua).

Natürlich haben die Sünde der einzelnen und die Sündigkeit der Kirche eine verschiedene formale Struktur: Der einzelne ist das personale Subjekt; die Sünde entspringt seiner Freiheit, seinem verantwortlichen Handeln. Die Kirche bildet dagegen "nur" die objektivierte, gemeinschaftliche Form dieses von den Sünden der einzelnen, zumal wenn es Repräsentanten der Kirchen sind, verdunkelten Glaubens; in ihr erscheint das soziale Ergebnis der Sünde der einzelnen. Beide Seiten können wohl unterschieden, aber nicht voneinander getrennt werden. Das bedeutet in letzter Konsequenz: Selbst die heiligsten Vorgaben der Kirche, durch die die einzelnen geheiligt werden, also vor allem die Verkündigung des Wortes Gottes und die Feier der Sakramente, stehen nicht ungefährdet jenseits der sündigen Menschen, sondern werden durch diese (ob Hörer bzw. Empfänger oder amtliche Verkündiger und Ausspender) negativ mitgeprägt. Ich denke da zum Beispiel an den über lange Zeit praktizierten Mißbrauch des Bußsakramentes als Mittel sublimer Machtausübung über das Gewissen der Gläubigen und, damit verbunden, an die unheilvolle Fixierung auf das sechste Gebot.

Das kann zwar nicht die von Christus garantierte heiligende Kraft der Verkündigung und der Sakramente zerstören, wohl aber die glaubende Wahrnehmung dieses Geschehens und dessen Fruchtbringen bei den Menschen sehr erschweren.

Was bedeutet dies für die gegenwärtige Situation der Kirche? Kardinal Karl Lehmann hat in einem aufsehenerregenden Artikel dazu festgestellt:

"Die Kirche wird auch als Institution ins Mark getroffen, wenn wir das gelebte Zeugnis des Evangeliums Jesu Christi verweigern. Sonst kommt man leicht in die Versuchung, die Verfehlungen der Kirche ausschließlich dem einzelnen Sünder anzurechnen, sie selbst aber vor jedem Makel zu bewahren. Eine solche Mentalität hat die schlimmen Praktiken des bloßen Vertuschens oder des Versetzens eines Täters von Ort zu Ort gewiß mit begünstigt."5

Wieso? Weil diese Mentalität auf jeden Fall den "Schein" einer "heiligen" Kirche und eines heiligen Priestertums wahren wollte, selbst um den Preis der Unwahrhaftigkeit und einer mitleidlosen Mißachtung der Leiden der Opfer.

Diese Praxis des Vertuschens und Verharmlosens ist auch keineswegs nur den seinerzeit Verantwortlichen in der Kirche als Schuld anzurechnen. Diese Praxis konnte sich so lange und so unbestritten in der Kirche wohl nur deswegen halten, weil sich die Verantwortlichen von einem schweigenden Einverständnis einer großen Zahl der Glieder der Kirche mitgetragen wußten ("darüber redet man nicht" bzw. "was nicht sein darf, kann auch nicht sein" oder "so spricht man nicht über Priester"). Ein verklärend-überhöhtes Priesterbild, das sich für viele Menschen unserer Kultur fast nur aus der sinnlich erlebten, aus dem Alltäglichen herausgehobenen Rolle des Priesters in der Liturgie speiste, hat offensichtlich auch zu dieser Verdrängung beigetragen.

Die Kirche hat sich in diesem Punkt sicher nicht anders verhalten, als es in vielen anderen gesellschaftlichen Bereichen auch üblich war. Trotzdem kann dies für sie nicht als Entschuldigung gelten. Es ist und bleibt eine Sünde, derer sich die Kirche als Gemeinschaft schuldig gemacht hat. Denn abgesehen von einer Verletzung staatlicher Gesetze widerspricht sowohl das Verhalten der Täter als auch die lange praktizierte Reaktion der Kirche darauf eindeutig dem Evangelium - zumal dem Gerichtswort Jesu über jene, die den "Kleinen, die an mich glauben" ein Ärgernis geben. Damit können vom Kontext her durchaus auch Kinder gemeint sein: die, denen Böses zugefügt wird, und die dadurch zum Bösen verführt werden. Das Los solcher Verführer wird in den Augen Jesu beim Jüngsten Gericht schlimmer sein als das Geschick eines zum Tode durch Ertränken bestraften Verbrechers (Mt 18,6).

Darum muß die Kirche auch als Kirche im Bewußtsein solchen und ähnlichen Versagens immer von neuem, ja täglich in ihrer Liturgie den Herrn um Reinigung, Vergebung und Erneuerung bitten. In diesem Sinne spricht das Konzil von der "ecclesia sancta simul et semper purificanda" (LG 8). Ein solches Gebet, wenn es wirklich ehrlich gemeint ist, ersetzt nicht, sondern erfordert geradezu die gleichzeitige Bitte der Kirche auch um Vergebung durch die jeweils betroffenen Opfer; und auch diese Bitte wirkt nur dann glaubwürdig, wenn sie verbunden ist mit einer ernsthaften Bereitschaft zur Genugtuung, soweit dies noch möglich ist. Wenn die Kirche ihre Glaubwürdigkeit bei den Opfern und ihren Familien, aber auch in der Öffentlichkeit, zurückgewinnen will, muß sie ernstgemeinte "real-symbolische" Angebote zur Versöhnung machen. Ob solche Angebote von den Betroffenen auch angenommen werden, steht nicht mehr in unserer Macht.

Am Ende dieser theologischen Überlegungen soll noch einmal Hans Urs von Balthasar zu Wort kommen:

"Wer dürfte die wirkliche Kirche, die ebenso wirklich, so leibhaftig-farbig ist wie das alte Jerusalem, zu jener reinen eschatologischen Größe stempeln, die ein für alle Mal jenseits aller Fährnisse, aller paulinischen Schiffbrüche (Apg 27) stünde …, wer dürfte sie auf ihre bloßen von oben geschenkten und garantierten Strukturen einschränken und sie damit aus aller echten Geschichtlichkeit, allem … Glauben, Hoffen und Lieben loslösen? Das ,Subjekt‘, das sich mit einer schicksallosen Garantiertheit gleichsetzen könnte, gibt es weder ,in der Kirche‘ noch ,als Kirche‘. Denn ,Kirche‘ kann sich nirgendwo anders als im Kreuz ihres Herrn (und nicht in sich selber) gerettet und gewährleistet sehen. Und wenn sie sich als Frucht des Kreuzes weiß …, dann nie anders als gleichzeitig in Buße und Umkehr auf dieses Kreuz zuschreitend." 6

Den Perspektivenwechsel weiterführen

In den folgenden Schritten werde ich mich noch ausdrücklicher und konkreter der Frage zuwenden: Was könnte - über das Problem der sexualisierten Gewalt hinaus - der bleibende Ertrag von all dem sein, was wir in den letzten Monaten so schmerzlich erlebt haben? Also der Ertrag für ein erneuertes, sich der geistlichen Reinigung unterziehendes Denken und Handeln in unserer Kirche? Als Leitmotiv habe ich dazu den grundlegenden Perspektivenwechsel gewählt, den die Kirche in diesem Jahr vollzogen hat: Nicht mehr die Sorge um den Schutz der Täter und um die Wahrung des guten Rufes der Kirche soll an erster Stelle stehen (ohne beides zu vernachlässigen), sondern die hörbereite Wahrnehmung der Opfer und ihrer Leiden, samt Aufarbeitung und Genugtuung.

Wenn dieser Perspektivenwechsel von Dauer sein und das gesamte Denken und Handeln der Kirche prägen soll (also nicht nur ein situationsbedingtes, von der Öffentlichkeit uns abgefordertes Lippenbekenntnis), dann müssen wir uns vorbehaltlos der Frage stellen: Wie kann unser Blick generell sensibler und wachsamer werden, besonders für jene Menschen, die sich (auf ganz anderen Gebieten und natürlich auf ganz andere Weise) von der Kirche verletzt oder im Stich gelassen fühlen, denen - jedenfalls in ihren eigenen Augen und auch in den Augen vieler anderer - von der Kirche unrecht getan wurde und wird? Also zum Beispiel für jene Gläubigen, die sich mit Verweis auf eine lange Lehrtradition und die moralischen Normen der Kirche in gewissem Maß von ihr ausgegrenzt und dadurch diskriminiert fühlen (ob zu recht oder zu unrecht, ist von unserer Seite aus nicht zu beurteilen).

Ich vermeide hier bewußt den Begriff "Opfer". Denn der hier angesprochene Problemkreis paßt nicht in das gängige Schema "Opfer - Täter". Es geht vielmehr um das sehr komplexe Verhältnis zwischen der berechtigten Sorge um die Kontinuität in der kirchlichen Lehrtradition einerseits und der sich ständig verändernden kulturellen Lebenswelt unserer Gläubigen anderseits, mit der wir es täglich in der Pastoral zu tun haben. Dabei kommt es sehr häufig zu Konflikten und Verletzungen, die von der Sache her nicht notwendig sind und die darum durchaus auch erheblich verringert werden könnten, wenn wir nur die jeweilige Lebenssituation der einzelnen Betroffenen stärker in die moralische Beurteilung ihres Tuns einbeziehen. Wie kann es uns gelingen, auf der einen Seite zu einer für die Menschen spürbareren Sensibilität ihnen und ihrem Leiden an der Kirche gegenüber zu gelangen, ohne daß wir auf der anderen Seite den Wahrheitsgehalt unserer Lehrtradition einfach aufgeben?

Auf der spirituellen Ebene ist es zweifellos zuerst das entschiedene Maßnehmen am Verhalten Jesu. Von Jesus fühlten sich bekanntlich mehr die Gerechten und Gesetzestreuen ungerecht behandelt als die, die in deren Augen als gesetzlose Sünder galten. Das alte Herz-Jesu-Gebet sollte einen festen Platz in unserem täglichen Beten einnehmen: "Bilde unser Herz nach deinem Herzen!"

Auf der strukturellen Ebene möchte ich nur zwei Grundvoraussetzungen nennen; ohne sie dürfte eine erhöhte Sensibilisierung in diesem Punkt und damit auch die Bereitschaft, sich institutionell einer "selbstkritischen Relecture" unseres kirchlichen Verhaltens zu unterziehen, kaum Chancen haben. Die beiden Voraussetzungen sind zu unterscheiden, aber nicht scharf voneinander zu trennen. Sie liegen im übrigen ganz auf der Linie des Impulsreferates, das der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Erzbischof Robert Zollitsch, bei der Herbstvollversammlung 2010 in Fulda gehalten und das mich sehr ermutigt hat, in dieser Richtung weiterzudenken7.

Die eine Voraussetzung sehe ich in einer angst- und vorurteilsfreien Aufmerksamkeit für unsere gesellschaftliche Öffentlichkeit, also dafür, wie sie die Kirche aus einer mehr oder weniger großen Distanz wahrnimmt. Dieser Blick mag häufig verzerrend und in unseren Augen ungerecht sein; dennoch sollten wir ihn auf jeden Fall beachten und mit der nötigen Unterscheidung der Geister beherzigen. Denn der Blick von außen kann schärfer und gründlicher sein und so auch zur Wahrheitsfindung im kirchlichen Denken und Handeln beitragen.

Die andere Voraussetzung besteht in einer offeneren, weiter gespannten und mutigeren Kommunikation innerhalb des Volkes Gottes, zumal zwischen den Verantwortlichen und den anderen Gläubigen; und zwar so, daß nicht von vornherein bestimmte "wunde Punkte" ausgeklammert oder nur sehr vorsichtig-verklausuliert berührt werden. Auch wunde Punkte müssen, so weit wie möglich, dem argumentativen Diskurs der Gläubigen ausgesetzt werden können. Dabei geht es darum, den "sensus fidelium" und den vielfältigen Blick von innen wirklich ernst zu nehmen.

Sicher, auch dann können wir nicht überall zu konsensuell, also einmütig mitgetragenen Lösungen finden; aber wir können und müssen gerade den aktiven und überzeugten Gläubigen den weithin herrschenden Eindruck nehmen, daß sie nicht ernst genommen werden, weil sie nicht hinreichend gehört werden. Das ist der springende Punkt, auf den wir in den vergangenen Monaten überdeutlich hingewiesen worden sind! Durch die gegenwärtigen flächendeckenden Umstrukturierungsprozesse unserer Pfarreien, die ich im übrigen für unumgänglich und sinnvoll halte, verstärkt sich jedoch dieser Eindruck unter den Gläubigen erheblich: Wird unsere Sorge - so fragen sich viele - um die Nähe der Kirche vor Ort und um genügend Priester, die diese Umstrukturierung in große Seelsorgseinheiten schultern und zugleich die Menschen vor Ort im Auge behalten können, wirklich ernst genommen?

Diese Sorge steht heute in den meisten Fällen auch hinter den Diskussionen um den priesterlichen Zölibat. Wenn darauf nur mit dem Hinweis auf den unbezweifelten spirituellen und pastoralen Wert dieser Lebensform geantwortet wird, genügt dies vielen Gläubigen angesichts der ständig wachsenden pastoralen Engpässe nicht mehr, zumal wenn es um möglichst ortsnahe sakramentale Vollzüge geht, vor allem die Eucharistiefeier.

Offene Kommunikation nach außen

Zur ersten Voraussetzung: Die katholische Kirche sieht sich in den letzten Monaten häufig (selbst von seiten ihr eher wohlwollend gegenüberstehenden Medien) dem Vorwurf ausgesetzt, sie sei nicht nur in einigen ihrer Schulen, Internaten und Heimen, sondern im ganzen ein "geschlossenes System". Darin würden ganz andere, von der übrigen Gesellschaft stark abweichende Rechtsnormen (eben das Kirchenrecht), Verhaltensmuster (z. B. der Gehorsam als Haupttugend) und Formen der Machtausübung herrschen (z. B. ohne die moderne Form der Gewaltenteilung). Außerdem spiele sich in ihrem Raum vieles im Geheimen, abgeschottet von der Öffentlichkeit ab (von der Ernennung der Bischöfe bis hin zum faktischen Umgang zahlreicher Priester mit ihrer Zölibatsverpflichtung). Dazu hafte diesem System, zumal in seinen Amtsstrukturen, noch ein typisch katholischer "Geruch" an, nämlich etwas "Männerbündisches" - und dies mit der merkwürdigen Kombination von zugleich homophilen und homophoben Affekten.

So etwas hören wir natürlich nicht gern. Aber ehe wir diesen Eindruck von außen empört von uns weisen, sollten wir uns lieber fragen: Wie kommt es zu diesem Bild der katholischen Kirche in der Öffentlichkeit? Steckt darin vielleicht nicht doch ein Wahrheitskern? Ich denke schon. Dazu nur zwei Beispiele:

1. Zunächst ein eher harmloses, aber doch signifikantes Beispiel: Ich erinnere mich noch gut an die argumentativen Verrenkungen, mit denen 1980 das Verbot von Mädchen als Meßdienerinnen begründet wurde. Der eigentliche Grund lag klar auf der Hand: "Widerstehe den Anfängen!" Das Eindringen des weiblichen Geschlechts in die fast seit zwei Jahrtausenden rein männliche Domäne des Sakralraums der Liturgie (und dies auch noch in den traditionellen liturgischen Gewändern!) sollte von Anfang an verhindert werden. Nur eine flächendeckende Nichtbefolgung dieser Vorschrift führte dann in den 90er Jahren auch wieder zu ihrer Aufhebung.

Dennoch, die dahinterstehende Grundproblematik schwelt immer noch weiter: Wie hält es die katholische Kirche mit den Frauen? In welcher Zahl und in welcher Position spielen Frauen dort eine Rolle, wo wichtige Fragen beraten und wichtige Entscheidungen getroffen werden? Es ist nicht verwunderlich, daß gerade Frauen, die in verschiedensten Berufen ihre Frau stehen und große Verantwortung tragen, sich in den letzten Jahrzehnten von der Kirche nicht wirklich ernst genommen fühlen und sich von ihr distanzieren.

Eher verwundert es mich immer wieder von neuem, wie viele hoch befähigte Frauen dennoch treu zur Kirche stehen und sich in ihr engagieren. Wenn die katholische Kirche schon der Überzeugung ist, sie habe keine Vollmacht, die auf Jesus und die Apostel zurückgeführte Tradition zu ändern und Frauen zum priesterlichen Amt zuzulassen, sollte sie um so größere Anstrengungen unternehmen, Frauen (auch kritische!) auf anderen Wegen in entscheidende Beratungsgremien der Bischöfe und auch des Papstes bzw. der Kurie einzubeziehen. Sonst könnte sich der Eindruck einer (fast) geschlossenen "Klerikerkirche" in den modernen demokratischen Gesellschaften in Zukunft immer verhängnisvoller für unsere Kirche auswirken.

2. Der ambivalente Eindruck einer seltsamen Gemengelage von homophilen und homophoben Affekten im kirchlichen Binnenraum könnte wohl auf der heute nicht leicht zu vermittelnden Einstellung der Kirche zur Homosexualität beruhen, zumal wenn es um die Priester geht. Auf der einen Seite beschränkt die katholische Kirche den Zugang und die Ausbildung zum Priesterberuf auf Männer, die sie gleichzeitig zu einem ehelosen Leben verpflichtet. Von daher verwundert es nicht, daß auch Männer mit homosexueller Veranlagung und Neigung in nicht geringer Zahl von diesem Beruf angezogen werden - und zwar nicht nur aufgrund der geltenden Zulassungsbedingungen, sondern durchaus auch wegen seines inhaltlichen Profils.

Auf der anderen Seite aber möchte die Kirchenleitung solche Interessenten so weit wie möglich von diesem Amt fernhalten - und zwar auch aus theologischen Gründen: Die homosexuelle Ausrichtung widerspreche der göttlichen Schöpfungsordnung und der in ihr begründeten "inneren Sinngebung der Sexualität"; denn deren Sinn liege allein in der ehelichen Gemeinschaft zwischen Mann und Frau und der damit unlöslich verbundenen Intention, Kindern das Leben zu schenken. "Alles andere ist gegen den inneren Sinn der Sexualität", also auch die Homosexualität als Anlage oder als "tiefsitzende Neigung". Darum sei sie auch "mit dem Priesterberuf nicht vereinbar"8.

Nun sind aber diese beiden Seiten, also die von der Kirche geforderte Lebensweise der Priester und die gleichzeitig forcierte Abwehr homosexuell veranlagter Männer in der kirchlichen Praxis offensichtlich nicht so leicht in Einklang miteinander zu bringen, zumal eine ganze Reihe homosexuell veranlagter Männer durchaus gute Voraussetzungen für den Priesterberuf (z. B. als Seelsorger) mitbringt. So weit diese sich von der Haltung der Kirche nicht verletzt oder zurückgestoßen fühlen, sondern trotz allem von ihrer Berufung überzeugt sind, sehen sie oft keinen andern Ausweg, als ihre Veranlagung oder Neigung gegenüber den Verantwortlichen zu verheimlichen. Das ist natürlich kein guter Weg, weder für die Kirche noch für die einzelnen selbst. Zudem bestätigt es genau den öffentlichen Eindruck, daß es in der Kirche mit Transparenz und Kommunikation in wichtigen Punkten nicht immer zum Besten stehe.

Hier kann auf Dauer wohl nur eine grundsätzliche Besinnung der Kirche auf ihre Sexualmoral weiterhelfen. Es geht dabei vor allem um die Frage, ob es in der moralischen Bewertung der einzelnen Handlungen im Bereich menschlicher Sexualität wirklich nur die Alternative geben kann zwischen der idealen Hochform ihrer Verwirklichung im ehelichen Bund zwischen Mann und Frau (bzw. der Ehelosigkeit und Enthaltsamkeit aus religiösen Gründen) einerseits und der Sünde anderseits, wenn Sexualität auf einem von diesen Formen abweichenden Weg gelebt wird9. Kann es da im einzelnen nicht auch viele Abstufungen des mehr oder weniger Guten bzw. Bösen geben, je nach kulturellem Kontext, nach individueller Veranlagung, nach konkreter Handlungssituation und -intention? Für diesen verschiedenartig gestaltbaren "Zwischenraum" Kriterien des jeweils sittlich Besseren anzugeben, ist für die meisten Gläubigen weitaus hilfreicher als die schlichte Alternative: gut oder böse, alles oder nichts.

Ich könnte mir denken, daß mit der Zeit auch in der Sexualmoral das möglich sein wird, was in der Dogmatik in mehreren Bereichen schon lange gang und gäbe ist. Zum Beispiel gilt in der Ekklesiologie schon seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil nicht mehr der Grundsatz: Wir als katholische Kirche (als "Hochform" von Kirche; vgl. das berühmte "subsistit" in LG 8) haben allein alles Heilsnotwendige; die anderen Kirchen oder Religionen haben nichts davon, sie sind nichts als bloße Häretiker oder Schismatiker oder Heiden. Einzig auf der Basis einer differenzierten Teilhabe am Heil in Jesus Christus sind der ökumenische und der interreligiöse Dialog überhaupt erst möglich und sinnvoll geworden.

Oder: In der Schöpfungstheologie hat die Kirche im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts in schmerzlichen Lernprozessen sehr viel von den modernen Naturwissenschaften gelernt und dabei erheblich umdenken müssen. Ohne diesen Lernprozeß stünden wir wohl noch immer auf dem Niveau einer biblizistischen Bibelauslegung im Stil moderner evangelikaler Freikirchen und ihres Kreationismus. Es ist wirklich an der Zeit, daß das Lehramt einen vergleichbaren Lernprozeß auch für die Sexualmoral und ihr Gespräch mit den modernen Wissenschaften vom Menschen und seiner Kultur eindeutig begrüßt und fördert.

Abschließend möchte ich diesen Punkt zusammenfassen: Wir sollten als Gläubige auch so etwas wie eine "Autorität der Welt" (Klaus Mertes SJ) anerkennen. Als gute Schöpfung Gottes kann sie uns auf ihre Weise helfen, selbstkritischer zu werden und immer wieder die bei allen Institutionen gegebene Tendenz zur bloßen Selbstreferenz zu durchbrechen. Beides könnte uns zu größerer Wahrhaftigkeit verhelfen.

Wenn wir uns jedoch diesem kritischen Blick von außen verschließen, könnte es geschehen, daß die katholische Kirche hierzulande auf längere Sicht zum Sammelbecken modernitätskritischer Zeitgenossen wird, also von Menschen, die das Christentum und die neuzeitliche Kultur der Moderne eigentlich für inkompatibel halten; und zwar deshalb, weil sie - kurz gesagt - dem Grundwert der Moderne skeptisch bis ablehnend gegenüberstehen, nämlich der Hochschätzung des Subjekts und seiner freien Selbstbestimmung als Formprinzip aller rechtsstaatlich fundierten Institutionen, in analoger Weise eben auch der Kirche. Hegel nennt das "konkrete Freiheit", also die sich in den gesellschaftlichen Institutionen objektivierende individuelle Freiheit.

Das haben die meisten katholischen Gläubigen hierzulande auch schon längst internalisiert. In diesem Sinn verstehen sehr viele auch innerhalb der Kirche die von Christus befreite Freiheit des Glaubens, wobei die größere Unähnlichkeit der Analogie (zur "konkreten Freiheit" Hegels) dennoch die fundamentale Ähnlichkeit und Vergleichbarkeit keineswegs aufhebt. Die Frage drängt sich heute vielen unter uns auf: Geht unsere Kirche konsequent diesen im Zweiten Vatikanum (vor allem in "Gaudium et Spes") eröffneten Weg weiter oder wollen wir den grundsätzlichen Skeptikern dieses neuzeitlichen Freiheits- und Gesellschaftsmodells, von dem wir ja als Kirche im säkularen, rechtsstaatlichen Bereich viel profitieren, in der Kirche das Feld überlassen? Ich fürchte, wir würden dann mit der Zeit zu einer prämodernen Variante von "kleiner Herde" oder "Kontrastgesellschaft" mutieren, wo die Grenzen zwischen katholischer Kirche und Sekte fließend würden.

Offene Kommunikation nach innen

Ich möchte diesen letzten Schritt mit einem Zitat aus dem Interview beginnen, das Bischof Franz-Josef Bode der "Herder-Korrespondenz" im September 2010 gegeben hat:

"Wo wir eine zu geschlossene Gesellschaft waren, wo es keine offene Aussprache gab, Themen tabuisiert wurden, hat dies den Mißbrauch zumindest begünstigt. … In den letzten Jahren sind wir doch viel offener miteinander umgegangen. Natürlich haben auch die Medien uns quasi von außen zu größerer Offenheit auch untereinander gezwungen. "10

Ich stimme dem weitgehend zu. Aber Bischof Bode hat in seinem ersten Satz in der Vergangenheitsform gesprochen. Das wird sicher für sein Bistum (Osnabrück) und manch andere Ortskirche gelten. Gilt es aber auch für die Kirche generell? Ich verstehe seine Rede da eher als ein "Imperfekt der Hoffnung". Denn zur Zeit gibt es leider doch immer noch Themen, bei denen eine offene und öffentliche, argumentativ geführte Aussprache nicht gewünscht ist.

Dazu nur ein Beispiel, das in der Linie des zuletzt genannten Beispiels liegt (und das mir als jahrzehntelang "im Nebenberuf" tätigem Jugendseelsorger besonders am Herzen liegt): Die Sexualpädagogik gehörte bis vor 40 Jahren zu einem bevorzugten Thema katholischer Jugendpastoral (mal mehr, mal weniger hilfreich). Inzwischen sind wir im Grunde in den Familien, in unserer Pastoral und in der Öffentlichkeit verstummt. Die Kluft zwischen der offiziellen Kirchenlehre und der (natürlich stark kulturbedingten) Realität, wie sie sich uns in den Familien, in der Schule und in der Seelsorge täglich darbietet, ist fast unüberbrückbar groß geworden. Alle Versuche von Religionspädagogen und Seelsorgern, hier Brücken zu bauen, können nur im privaten Gespräch erfolgen, weil die Angst, von irgend jemandem angezeigt und dann gemaßregelt zu werden, das offene Wort und damit eine dringend notwendige, hilfreiche Pastoral in diesem Bereich verhindert. Dies hat die Kirche gerade für viele jüngere Christen und ihre Lebensgestaltung irrelevant werden lassen; sie suchen sich ihre Orientierung auf diesem Gebiet längst woanders, meist in den Medien (und nicht immer in den seriösen).

Wie es anders gehen könnte, wie man mit Eltern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen doch wieder in ein offenes Gespräch über Sexualität kommen und ihnen auch manche kirchlichen Vorstellungen plausibler machen könnte, entnehme ich einem Vortrag, den der ehemalige Ordensmeister der Dominikaner, Timothy Radcliffe OP, vor Geistlichen der Erzdiözese Dublin gehalten hat. Er geht von dem Wort Jesu aus: "Kommt alle zu mir, die ihr euch plagt und schwere Lasten zu tragen habt, und ich werde euch Ruhe verschaffen. Nehmt mein Joch auf euch und lernt von mir; denn mein Joch drückt nicht und meine Last ist leicht" (Mt 11, 28-30). Dieses Wort stellt er der gesamten kirchlichen Moralverkündigung voraus:

"Wir brauchen etwas viel Radikaleres als Freundlichkeit oder Güte. Wir brauchen ein neues Verständnis darüber, was es heißt, das Joch der Gebote Jesu zu tragen. Wir müssen die Vorstellung, daß Moral vor allem mit Ver- und Geboten zu tun hat, anzweifeln - die Vorstellung, daß Gut-Sein bedeutet, seinen Willen dem großen Polizisten im Himmel unterzuordnen.

Jesus hat den Jüngern in der Nacht, bevor er gestorben ist, sein neues Gebot gerade in dem Moment offenbart, als er sie zu Freunden erklärt hatte: ‚Ich habe euch Freunde genannt, denn ich habe euch alles mitgeteilt, was ich von meinem Vater gehört habe‘ (Joh 15,15). Das erklärt etwas Rätselhaftes von Jesus. Er aß und trank mit Prostituierten und Zöllnern. Er hatte Freunde von sehr schlechtem Ruf. Er wartete nicht ab, bis sie sich bekehrt hätten, um sie zu Tisch zu laden. Er sagte nicht: ‚Also Johanna, sobald du eine Woche lang von der Straße weg bist, kannst du zu meiner Party kommen.‘ Er akzeptierte sie, wie sie waren. Und doch hat er die Bergpredigt gehalten, er hat seinen Jüngern geboten, die andere Wange hinzuhalten, ihre Feinde zu lieben, nie wütend zu sein, vollkommen zu sein, wie unser himmlischer Vater vollkommen ist. Er ist sehr fordernd. Wie konnte er sowohl vorbehaltlos herzlich sein, scheinbar lax - als auch sehr anspruchsvoll?

Die Voraussetzung ist die Freundschaft Gottes. Nur auf diesem sichtbaren Hintergrund der Freundschaft können wir Moral lehren. Dieses Bewußtsein hat radikale Folgen für die Art und Weise, wie die Kirche Moral lehrt. Was wir zu sagen haben, hat nur dann Sinn, wenn wir es in einem Kontext der Freundschaft sagen. Wenn wir über Abtreibung, Scheidung und Wiederverheiratung oder über Homosexualität sprechen wollen, dann sollten wir es als Freunde derer tun, die betroffen sind. Also ist das Joch Jesu sanft und seine Last leicht, denn es ist sein Freundschaftsangebot, das nur durch Freundschaft vermittelt werden kann. Tatsächlich kann das, was gesagt werden muß, nur in der Freundschaft entdeckt werden. Nur im gemeinsamen Unterwegssein, im gemeinsamen Kämpfen und Suchen wird uns das richtige WORT gegeben. Und dieses WORT kann nie eine Last sein, sondern nur ein Geschenk. 'Lernt von mir, denn ich bin gütig und von Herzen demütig; so werdet ihr Ruhe finden für eure Seele' (Mt 11,29)."11

Ein realisierbares Konzept?

Sind die von mir genannten Voraussetzungen auch operationabel, also in die kirchliche Praxis umzusetzen? Dazu möchte ich hier nur zwei eher geistliche Empfehlungen geben.

Die erste bezieht sich auf die Neubelebung des Bemühens um ein ausbalancierteres Verhältnis zwischen hierarchischem und synodalem Strukturelement in der Kirche - und dies auf allen Ebenen. Dieses Bemühen ist ja erfreulicherweise an verschiedenen Orten im deutschsprachigen Raum wieder in Gang gekommen - eben in Form eines gemeinsamen Gesprächs zwischen Amtsträgern und möglichst vielen Gläubigen über die zukünftige Gestalt unserer Kirche.

Zukunftsträchtig könnte hierbei das Vorgehen in Wien sein, wo - initiiert durch Kardinal Christoph Schönborn OP - bereits seit Oktober 2009 unter dem Titel "Apostelgeschichte 2010" ein synodaler Prozeß mit insgesamt drei großen Diözesanversammlungen abläuft. Dort scheint ein neuer Typ von solchen großen Versammlungen kreiert zu werden, der sich durch den Dreiklang von 1. Gebet und Meditation, 2. Begegnung und Diskussionen, 3. Vorträge und Impulse auszeichnet12. Dieses Vorgehen erinnert mich an die ignatianische Methode der "Entscheidungsfindung in Gemeinschaft" (deliberatio communitaria). Zudem dürfte diese Dreierkombination, die dem ganzen Gesprächsprozeß ein betont spirituelles Gepräge gibt, am ehesten auch der Form von synodalen Gesprächsprozessen entsprechen, die der Bischof von Limburg, Franz-Peter Tebartz-van Elst im Frankfurter Haus am Dom zum 40jährigen Jubiläum der synodalen Strukturen des Bistums für die Zukunft vorgeschlagen hat. Sie hat sicher den Vorteil, auch Christen der jüngeren Generationen, zumal der "frommen" neuen geistlichen Bewegungen, anzusprechen und einzubeziehen, die in der Kirche oft primär gemeinsame geistliche Erfahrungen (und nicht Diskussionen) suchen.

Damit solche Gesprächsprozesse überhaupt gelingen, bedarf es einer "Vertrauensspirale" zwischen den Vertretern des hierarchischen und des synodalen Struk turelements. Der emeritierte Augsburger Pastoraltheologe Hanspeter Heinz hat diesen Begriff geprägt. Darunter versteht er einen "positiv sich verstärkenden Regelkreis aus Vertrauensvorschuß und Machtaskese"13. Das heißt, beide Seiten sollten von der unbestrittenen Voraussetzung ausgehen, daß auch die gegenüber liegende Seite auf den Geist Gottes hört und zum Wohl der Kirche agieren will, auch wenn die Positionen sehr verschieden sind. Bei dieser Voraussetzung muß eigentlich keine Seite darauf aus sein, etwas unbedingt "durchsetzen" zu wollen.

Meine zweite geistliche Empfehlung bezieht sich auf das Phänomen der Angst in der Kirche. Es gibt in unserer Kirche zu viel Angst vor dem freien Wort auf allen Ebenen, oben wie unten. Angst aber macht unfrei und unfähig zum freimütigen Wort. Sie läßt auch den geforderten Gehorsam in der Kirche unglaubwürdig und unspirituell werden. Für das ignatianische "sentire cum ecclesia" schließen sich der biblische Freimut (parrhesia) und der kirchliche Gehorsam keineswegs aus. Sie fordern sich gegenseitig als notwendige Kontrapunkte gerade dann, wenn es um das Heil konkreter Menschen geht, denen die Kirche dazu den Weg öffnen und nicht verbauen soll.

Die spannungsvolle Zusammengehörigkeit von Gehorsam und Freimut betrifft nun keineswegs nur das Verhältnis der sogenannten Laien gegenüber den Amtsträgern, sondern durchaus auch das Verhältnis von Amtsträgern untereinander; zum Beispiel im Sinn meiner ersten geistlichen Empfehlung: das Verhältnis einer Bischofskonferenz zum Papst, also zum universalkirchlichen Leitungsamt. Auch da ist - aus der Sorge um das Wohl der Ortskirche einer bestimmten Region - das freimütige Wort oft notwendig und weiterführend.

Ansonsten bliebe das wesentliche kollegiale Strukturelement des kirchlichen Leitungsamtes völlig unterbelichtet - auch das zum Schaden nicht nur der betreffenden Ortskirchen, sondern auch der Universalkirche. Sie bleibt eben im ganzen nur dann eine "pilgernde, hörende und dienende Kirche" (Erzbischof Zollitsch im oben genannten Referat), wenn auf allen Ebenen offen und freimütig um die Einheit in der Vielfalt gerungen werden kann.

Schließen möchte ich mit dem Lob, das einst dem ehemaligen Generaloberen des Jesuitenordens Peter-Hans Kolvenbach SJ zuteil geworden ist: "Er hat keine Angst, und er macht keine Angst." Gerade deswegen konnte er den Orden 25 Jahre lang in schwierigen Zeiten gut leiten. Um diese Gnade der Angstfreiheit müssen wir viel beten - für uns selbst und füreinander, zumal für die, die das Volk Gottes in dieser schwierigen Zeit leiten müssen.

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