Versöhnung mit der Piusbruderschaft?Der Streit um die authentische Interpretation des Konzils

Die uneingeschränkte Anerkennung des Zweiten Vatikanischen Konzils stellt sich als hermeneutischer Drahtseilakt in den Gesprächen zwischen dem Vatikan und der Priesterbruderschaft St. Pius X. heraus. Eberhard Schockenhoff, Professor für Moraltheologie an der Universität Freiburg, weist auf die Bedeutung der Gewissens- und Religionsfreiheit hin und diagnostiziert einen massiven Richtungsstreit.

In Rom finden seit einigen Wochen Religionsgespräche der besonderen Art statt. Nicht die Vertreter der großen Weltreligionen treffen aufeinander, um gemeinsam für den Frieden zu beten, sondern zwei Delegationen von sehr ungleichem Gewicht: einige von Rom beauftragte Theologen und die Abgesandten einer Traditionalistenbewegung, deren vollständige Wiedereingliederung in die katholische Kirche ein wichtiges Ziel des Pontifikats von Papst Benedikt XVI. ist.

In den unter Ausschluß der Öffentlichkeit geführten Verhandlungen zwischen dem Vatikan und einer Delegation der Priesterbruderschaft St. Pius X. soll es um die näheren Modalitäten gehen, unter denen diese zur uneingeschränkten Anerkennung des Zweiten Vatikanischen Konzils bereit sein könnte. Zur Vorbereitung dieser Gespräche wurden in Rom Papiere erarbeitet, die den Anspruch erheben, eine "authentische" Interpretation strittiger Konzilsaussagen zu enthalten, die der Piusbruderschaft die Zustimmung zum Konzil selbst ermöglichen soll. Da die Konzilstexte als verbindliche Darlegung des katholischen Glaubens nicht zur Disposition gestellt werden können, soll deren Auslegung den traditionalistischen Gegnern des Konzils eine Brücke bauen, über die sie sich auf die katholische Kirche und ihren Glauben zubewegen können.

Ein Drahtseilakt - Aufwertung einer Konzilsminorität?

Kirchenpolitisch erscheint eine solche Strategie naheliegend. Wenn überhaupt eine Erfolgschance für die Gespräche mit der Piusbruderschaft besteht, liegt sie im Ausweichen auf das weite Feld der Interpretation. Durch exegetische Umdeutung und eine Neujustierung des Textsinns, die sich als dessen notwendige Inschutznahme gegenüber nachkonziliaren Fehlentwicklungen und Mißverständnissen ausgibt, soll einer antimodernen Protestbewegung im Gewand des vorkonziliaren Katholizismus die zumindest verbale Anerkennung der Gewissens- und Religionsfreiheit abgerungen werden, die den Kern der modernen Welt und ihrer Freiheitskultur ausmacht.

Theologisch jedoch ist ein derartiger hermeneutischer Drahtseilakt, der die Quadratur des Kreises versucht, ein Spiel mit dem Feuer. Eine diplomatische Einigungsformel, nach der die bisherigen Leugner der Gewissens- und Religionsfreiheit in Zukunft den "authentischen" Sinn dessen bekennen, was sie bis heute in der Sache entschieden ablehnen, würde beiden Seiten ein gefährliches Glaubwürdigkeitsproblem bereiten. Klarheit in Glaubensdingen betrachtet die katholische Kirche als eine ihrer besonderen Stärken; gerade das universalkirchliche Lehramt besteht in theologischen Konflikten in der Regel auf präzisen Formulierungen, die Glaubenswahrheiten trotz ihres analogen Charakters irrtumsfrei erfassen.

Das Bemühen um eine authentische Interpretation fügt sich in eine längere Reihe römischer Versuche ein, die Rezeptionsgeschichte des Konzils im Sinn der damaligen Konzilsminorität zu beeinflussen. Deren Anliegen finden in den nachkonziliaren Lehrdokumenten der katholischen Kirche erkennbar stärkere Resonanz, als es in den Konzilsaussagen selbst der Fall ist. Durch den Vorgang einer offiziellen Interpretation wird zentralen Konzilstexten ein anderer Sinn beigelegt, als er diesen nach dem Willen der Konzilsmehrheit zukommen sollte.

Dieser Vorgang ist als solcher nicht außergewöhnlich. Die Konziliengeschichte kennt seit den christologischen Konzilien des 4. und 5. Jahrhunderts zahlreiche Beispiele dafür, daß die theologischen Anliegen der zunächst unterlegenen Seite in der auf das jeweilige Konzil folgenden Rezeptionsgeschichte wieder größeres Gewicht erlangten. Im Streit um das rechte Verständnis des jüngsten Konzils geht es jedoch nicht nur um ein besseres Austarieren spannungsvoller Gegensätze oder um mehr oder weniger gelungene Einzelformulierungen des katholischen Glaubens. Vielmehr steht die Richtungsentscheidung über den zukünftigen Weg der Kirche erneut auf dem Spiel, die das Konzil treffen wollte, indem es sich für die Öffnung zur modernen Welt, für die Anerkennung ökumenischer Gemeinsamkeiten mit den orthodoxen und reformatorischen Kirchen sowie für das Gespräch mit dem Judentum und den Dialog mit den Weltreligionen aussprach.

Der Vorgang einer restriktiven amtlichen Auslegung des Konzils zeigt sich bereits in der Auswahl, in der nachkonziliare römische Verlautbarungen auf Konzilsdokumente Bezug nehmen. Die Pastoralkonstitution "Gaudium et spes" (GS) wird so gut wie nie zitiert, während die Aussagen im zweiten Teil der Kirchenkonstitution "Lumen gentium" (LG), die die hierarchische Struktur der Kirche und die Gehorsamspflicht der Gläubigen unterstreichen, breite Erwähnung finden. Daß zentrale Konzilstexte gegen den Strich gebürstet und somit in ihrer Sinnrichtung verändert werden, läßt sich auf der inhaltlichen Ebene an zwei Beispielen besonders deutlich erkennen: an der Interpretation der Formel, durch die das Konzil die Beziehung der Kirche Jesu Christi zur katholischen Kirche erläutert ("subsistit in") und an der theologischen Verhältnisbestimmung zwischen der Universalkirche und den einzelnen Ortskirchen.

Auch wenn diese römischen Interventionen bereits längere Zeit zurückliegen, ist es hilfreich, sie in Erinnerung zu rufen, um die Tragweite der gegenwärtigen Streitpunkte zu erfassen. Im Licht der vergangenen Korrekturversuche fügt sich das Bemühen um die Reintegration der Piusbruderschaft in die Kirche als weiterer Mosaikstein in ein Gesamtbild ein, das eine klare Richtungstendenz erkennen läßt.

Die katholische Kirche als konkrete Verwirklichung der Kirche Jesu Christi

Dem Konzil geht es bei der Aussage, daß das Mysterium der Kirche in der katholischen Kirche verwirklicht ist, um das Verhältnis der römisch-katholischen Kirche zur Kirche Jesu Christi, nicht aber um das Kirchesein der reformatorischen Kirchen. Nach Ausweis der Diskussionen in der Konzilsaula und in der vorbereitenden Kommission wurde die Formulierung "subsistit in" (vgl. LG 8) anstelle der exklusiven Identitätsaussage "est" bewußt gewählt, um Raum für die Anerkennung der ekklesialen Elemente zu schaffen, die auch außerhalb der katholischen Kirche gegeben sind.

Das Konzil läßt in der Frage, wie die außerhalb der katholischen Kirche anzutreffende kirchliche Wirklichkeit zu verstehen ist, einen offenen Spielraum theologischer Interpretation zu. In der ökumenischen Theologie der letzten Jahrzehnte wurde neben dem Gedanken einer abgestuften Kirchlichkeit schon bald die These vertreten, daß zwischen den einzelnen Elementen der Heiligung, die das Konzil in den Kirchen der Reformation erkannte (Wort Gottes, Taufe, Abendmahl, Amt der öffentlichen Evangeliumsverkündigung, gemeinsame Gebetstradition der ganzen Christenheit), ein struktureller Zusammenhang bestehen müsse, der eine eigene Weise des Kircheseins hervorbringe.

Nach der Theorie der unterschiedlichen Kirchentümer bilden die reformatorischen Kirchen einen eigenen Typus von Kirche, dem - entsprechend dem Modell einer versöhnten Verschiedenheit der Kirchen - auch in ihrer wiedergewonnenen sichtbaren Einheit bleibende Bedeutung zukommen muß. Kein Konsens besteht bislang in der Frage, welche Rolle die Sichtbarkeit kirchlicher Einheit spielen soll und wie sie sich im Petrusamt und seiner konkreten Ausgestaltung widerspiegeln kann.

Die Erklärung "Dominus Iesus" liest das "subsistit in" dagegen auf der Linie der vom Konzil zurückgewiesenen exklusiven Identitätsbehauptung ("est"), um daraus die Schlußfolgerung abzuleiten, die reformatorischen Kirchen seien keine Kirchen im eigentlichen Sinn. Dadurch wird die Aussageabsicht des Konzils verschoben: Es geht nicht mehr darum, positiv den Zusammenhang zwischen der Kirche Jesu Christi und ihrer konkreten geschichtlichen Realisierungsform in der römisch-katholischen Kirche aufzuzeigen; vielmehr soll negativ den reformatorischen Kirchen die ekklesiologische Qualität des Kircheseins abgesprochen werden.

Das Verhältnis von Universalkirche und Ortskirchen

Eine ähnliche Sinnumkehr ist in dem Kommentar zu beobachten, den das Schreiben der Kongregation für die Glaubenslehre "Über einige Aspekte der Kirche als Communio" (1992) zum Verhältnis von Universalkirche und Ortskirchen abgab. Auch hier läßt bereits die gewählte Terminologie das leitende Interesse erkennen: Während das Konzil selbst sowohl von Ortskirchen ("ecclesiae locales") als auch von Teilkirchen ("ecclesiae particulares") spricht (LG 23) und in LG 26 von den rechtmäßigen Ortsgemeinschaften der Gläubigen ("legitimae fidelium congregationes locales") die Rede ist, die im Neuen Testament "Kirchen" genannt werden, verwendet die Erklärung der Glaubenskongregation nur noch den Begriff "Teilkirchen". Auf der Sachebene verwandelt sie die schwebende Grundstruktur der Communio-Ekklesiologie, nach der die Gesamtkirche, wie das Konzil mit einer Formel des Kirchenvaters Cyprian sagt, "in und aus" den Lokalkirchen ("in et ex ecclesiis") existiert (LG 23), in das Verhältnis einer seinsmäßigen und historischen Priorität der Universalkirche gegenüber den Ortskirchen.

Die meisten Kommentatoren verstehen die Formel des Konzils im Sinn einer doppelten Negation: Weder ist die Universalkirche nur ein nachträglicher Zusammenschluß autonomer Ortskirchen nach Art der Vereinten Nationen, noch sind die Ortskirchen nur nachgeordnete Verwaltungsdistrikte oder Ausgliederungen der universalen Kirche. Zwischen der Universalkirche und den Orts- oder Teilkirchen herrscht die Logik einer wechselseitigen Repräsentation: Die einzelnen Teilkirchen tragen das Bild der Universalkirche in sich, während diese umgekehrt nur in und aus den Ortskirchen existiert(1).

Die erwähnte Erklärung der Glaubenskongregation nimmt demgegenüber eine (sachlich mögliche) Ergänzung und eine (sachlich problematische) Abänderung vor: Zunächst ergänzt sie die Konzilsaussage, nach der die universale Kirche "in und aus" den Ortskirchen besteht, durch den spiegelbildlichen Zusatz, daß umgekehrt auch die Ortskirchen nur "in und aus" der universalen Kirche bestehen. Das Konzil formuliert in LG 26 ähnlich, aber mit anderer Zielrichtung, daß die Kirche Christi in den Ortskirchen "wahrhaft anwesend" ist ("vere adest"). Eine Sinnverschiebung und Einschränkung der Konzilsaussage enthält dagegen die These, die Universalkirche sei "im Eigentlichen ihres Geheimnisses eine jeder einzelnen Teilkirche ontologisch und zeitlich vorausliegende Wirklichkeit"(2). Das Konzil wollte die strenge Wechselseitigkeit hervorheben, aus der heraus sich Gesamtkirche und Teilkirchen in der Weise aufeinander beziehen, daß diese das Bild der Universalkirche in sich tragen, die ihrerseits in den einzelnen örtlichen Kirchen erscheint. Das nachkonziliare päpstliche Lehramt setzt an die Stelle dieser reziproken Logik wechselseitiger Darstellung ein einseitiges Teilhabeverhältnis. Danach ist das eigentliche Wesen der Kirche auf ursprüngliche Art in der Gesamtkirche verwirklicht, wohingegen die einzelnen Lokalkirchen nur in abkünftiger Weise an ihm partizipieren. Zur Begründung dieser These verwies der damalige Präfekt der Glaubenskongregation, Kardinal Joseph Ratzinger, zum einen auf das Pfingstereignis, das die historische Priorität der Universalkirche belegen soll und zum andern auf die Präexistenz der Kirche. Beide Argumente sind in der theologischen Kritik auf Widerspruch (am prominentesten durch Kardinal Walter Kasper) gestoßen(3). Exegeten weisen darauf hin, daß es in Galiläa schon früh Gemeinden gab, die nicht von Jerusalem aus missioniert wurden; auch tritt an Pfingsten noch nicht die universale Kirche in Erscheinung, sondern (nach der lukanischen Darstellung) erst die versammelte jüdische Diaspora, die sich später durch die Führung des Heiligen Geistes zur Kirche aus allen Völkern ausweitet(4). Der systematische Hinweis auf die Präexistenz der Kirche sagt mehr über das platonische Kirchenbild des gegenwärtigen Papstes als über das Verhältnis von Universalkirche und Ortskirchen aus. Die theologische Aussage von der Präexistenz der Kirche beinhaltet nämlich noch keine Vorentscheidung über das strukturelle Verhältnis, das zwischen Universalkirche und den Ortskirchen waltet, da die Kirche als ganze, d.h. in dem für sie konstitutiven Zueinander von Universal- und Partikularkirchen als präexistent gedacht werden muß.

Es ist nicht zu leugnen, daß die dialektische Verhältnisbestimmung des Konzils in manchen Strömungen der nachkonziliaren Theologie aus dem Lot geraten ist - nicht zuletzt deshalb, weil man unter der Ortskirche nicht mehr die jeweilige Diözese oder Bischofskirche, sondern die Pfarrgemeinde, eine kirchliche Basisgruppe oder die jeweilige eucharistische Versammlung verstand. Dennoch ist es unsachgemäß, die drohende Gefahr einer einseitigen Verhältnisbestimmung durch eine entsprechende Einseitigkeit nach der anderen Seite hin zu beantworten. Die Kongregation sah sich durch die heftige Kritik an ihrer Erklärung später zu einer offiziösen Klarstellung veranlaßt, die offenbar vor allem durch die exegetischen Einwände motiviert war(5).

Der gegenwärtige Streitpunkt: die Gewissens- und Religionsfreiheit

Wenn nun nach einer authentischen Interpretation der Lehre von der Gewissensund Religionsfreiheit gesucht wird, die diese auch in den Augen der Piusbrüder akzeptabel erscheinen läßt, liegt die Gefahr einer ähnlichen Uminterpretation nahe. Nach der Konzilserklärung "Dignitatis humanae" (DH) gründet die Gewissensund Religionsfreiheit in der Würde der menschlichen Person, die "das Recht und die Pflicht (hat), ihrer Würde gemäß nach der Wahrheit zu suchen" (DH 2).

Ausdrücklich hebt das Konzil hervor, daß dieses Recht im Wesen der Person und nicht in ihrer sittlichen Verfassung begründet ist; die Gewissens- und Religionsfreiheit bleibt auch bei denen erhalten, die der Pflicht, die Wahrheit zu suchen und an ihr festzuhalten, nicht nachkommen. Zudem wird betont, daß die Wahrheit in einer Weise gesucht werden muß, die der Würde der Person entspricht. Im einzelnen nennt das Konzil die freie wissenschaftliche Forschung, die Hilfe des Lehramtes sowie den Dialog und den Gedankenaustausch in und außerhalb der Kirche (vgl. DH 3). Hinter diesen Ausführungen steht der Grundsatz, daß die Wahrheit ihren Anspruch nicht anders als in der Kraft der Wahrheit selbst ("nisi vi ipsius veritatis") erhebt (DH 1). Wie es von diesem Standpunkt des Konzils aus einen Brückenschlag zur Auffassung der Piusbrüder geben soll, die an der These der Päpste des 19. Jahrhunderts festhalten, nach der der Irrtum kein Recht neben der Wahrheit beanspruchen kann, ist kaum vorstellbar.

Eine Hilfestellung könnte in der Interpretation der Gewissensfreiheit liegen, die Kardinal Ratzinger in mehreren Aufsätzen vorgelegt hat. Danach setzen die Theorie des Gewissens, insbesondere die Konzeption der "synderesis", der Grundschicht des Urgewissens sowie die Lehre von der Gewissensfreiheit das platonische Anamnesis- Konzept der Wiedererinnerung an die Wahrheit voraus(6). Dies ist ein aufschlußreicher, aber auch ungewohnter Interpretationsansatz, der im entscheidenden Punkt weder die Tradition der theologischen Gewissensdeutung noch die Lehrauffassung der katholischen Kirche genau trifft. Nach dieser gründet - wie dargestellt - die Gewissensund Religionsfreiheit in "der Würde der menschlichen Person"; sie besteht nicht aufgrund der Wiedererinnerung an die Wahrheit oder eines inneren Vertrautseins mit dem Guten, das durch die Unterweisung des kirchlichen Lehramts oder die Missionstätigkeit der Kirche wieder wachgerufen würde, sondern darin, ungehindert nach der Wahrheit suchen zu können. Auch wenn eine derartige platonisch-augustinische Konzeption des Gewissens, die vom Hingeordnetsein jedes Menschen auf die urbildliche Fülle der Wahrheit ausgeht, die sich in der Person Jesu Christi geschichtlich offenbart, einen legitimen theologischen Denkweg zur Anerkennung der Gewissensund Religionsfreiheit eröffnen kann, darf dieser doch nicht mit der Begründung gleichgesetzt werden, die das Konzil selbst anführt. Dafür sind die Ausgangslagen und die ontologischen Prämissen beider Argumentationsweisen zu unterschiedlich.

Im augustinischen Paradigma, das von der Anamnese des Schöpfers im menschlichen Geist ausgeht, kann jedem Menschen Gewissens- und Religionsfreiheit zugebilligt werden, weil er ohnehin schon von sich aus, aufgrund einer inneren Seinstendenz seines Wesens auf die Wahrheit ausgerichtet ist, die ihn im Evangelium und im Lehramt der Kirche begegnet. Die Kirche kann Menschen, die Gott in anderen Religionen außerhalb des Christentums suchen und verehren, demnach nur deshalb religiöse Freiheit zugestehen, weil sie diese Menschen besser zu verstehen glaubt, als diese sich selbst verstehen können und ihnen in der Botschaft des Christentums die Wahrheit verkündet, auf die sie im Verborgenen schon warten(7).

Die Konzilserklärung "Dignitatis humanae" versteht dagegen die Gewissensund Religionsfreiheit als ein Recht, das unmittelbar der Würde entspringt, die jedem Menschen zukommt und die von der Kirche voraussetzungslos anerkannt wird, ohne daß sie dessen Weg der Wahrheitssuche in irgendeiner Weise vom Wahrheitsanspruch ihres eigenen Glaubens her zu bewerten versucht. Mit anderen Worten: Eine augustinisch inspirierte, dem platonischen Teilhabe- Denken verpflichtete Theorie der Religionsfreiheit rechtfertigt diese vom Ziel her, im Blick auf die im Licht der christlichen Offenbarung gedeutete schöpfungsgemäße Bestimmung des Menschen; sie sieht andere Religionen unterwegs zur vollen Erkenntnis der Wahrheit, zu der sich das Christentum aufgrund des biblischen Schöpfungsglaubens und der heilsgeschichtlichen Offenbarung bekennt. Die Konzilserklärung anerkennt dagegen die Religionsfreiheit als ein Menschenrecht, das in dem gemeinsamen Ausgangspunkt verankert ist, der die Religionen und alle Menschen untereinander verbindet: im freien, eigenverantwortlichen, immer auch irrtumsanfälligen Streben nach der Wahrheit. Beide Perspektiven können sich ergänzen, wie dies in der Erklärung selbst der Fall ist (vgl. das Bekenntnis zu Christus als der Fülle der Wahrheit in DH 2), es ergibt aber ein falsches Gesamtbild, wenn die eine Perspektive auf die andere reduziert oder ganz verschwiegen wird.

Der platonische Gedanke, daß alle menschliche Wahrheitserkenntnis in ihrer Partikularität und Fehlerhaftigkeit nur defiziente Wiedererinnerung an die urbildlich geschaute Wahrheit in ihrer Einheit und Fülle ist, verdeckt den fundamentalen Perspektivenwechsel vom "Recht der Wahrheit" zum "Recht der Person" (Ernst- Wolfgang Böckenförde), den das Konzil nach langen Debatten vollzog. Während nach traditioneller Lehre nur die Wahrheit oder die geoffenbarte wahre Religion des (katholischen) Christentums rechtmäßige Anerkennung fordern darf, den anderen Religionsgemeinschaften dagegen allenfalls bürgerliche Toleranz um des innerstaatlichen Friedens willen zu erweisen ist, spricht das Konzil der menschlichen Person ein in ihrer Würde begründetes Recht auf religiöse Freiheit zu. Dieses Recht schützt nicht mehr nur die erkannte Wahrheit des Glaubens, über die dieser aus seiner Binnenperspektive urteilt, sondern den Weg zur Wahrheit, den jeder Mensch seiner Würde als Person entsprechend in eigener Verantwortung vor seinem Gewissen zu gehen hat.

Dieses Verstehensmodell des Konzils bietet eine bessere Ausgangsbasis für den interreligiösen Dialog als die platonische Theorie der Wiedererinnerung, die den anderen Religionen nur einen defizienten Modus der Wahrheitserkenntnis zusprechen kann, während die heilsgeschichtliche Offenbarung des Christentums mit deren urbildlicher Fülle gleichgesetzt wird. Dadurch kann der eigene Wahrheitsanspruch aus der Sicht des christlichen Glaubens nur um den Preis einer Abwertung aller anderen Religionen zur Geltung gebracht werden, die hinter diesem wie ein fernes irdisches Abbild gegenüber dem geschauten Urbild der Wahrheit zurückbleiben. Dagegen bringt der konziliare Ansatz beim Recht der Person den Respekt vor dem Anderen (sowohl vor dem einzelnen Gläubigen, der einer anderen Religion anhängt wie auch vor diesem anderen Religionssystem selbst) angemessener zum Ausdruck, ohne den Wahrheitsanspruch des eigenen Glaubens in irgendeiner Weise aufzugeben.

Da die Konzilserklärung "Dignitatis humanae" vom Recht der Person ausgeht, das für jeden Menschen, gleich welcher Religion er angehört oder ob er überhaupt einen religiösen Glauben vertritt, in gleicher Weise gilt, kann sie sich im Akt der Anerkennung religiöser Freiheit jeder Außenbeurteilung anderer Religionen enthalten, wohingegen ein platonisches Partizipationsdenken in diesen nur mehr oder weniger gelungene Abschattungen der eigenen Wahrheit erkennen kann. Das Konzil vermag die Pluralität der Religionen bei allem Konfliktpotential, das sie mit sich bringt, auch in positiver Weise zu würdigen, da sich in ihr die Einzigartigkeit aller Menschen und der Wert ihrer kulturellen Identität widerspiegelt, während das platonische Einheitskonzept in der Vielfalt menschlicher Erkenntniswege zur Wahrheit tendenziell die Gefahr des Abfalls von der einen Wahrheit sieht.

In anderem Zusammenhang brachte Kardinal Ratzinger die weiträumige Anlage der konziliaren Begründung für die Gewissens- und Religionsfreiheit prägnanter auf den Punkt, als er nämlich auf die Frage eines Journalisten, wie viele Wege zu Gott führten, zur Antwort gab: "So viele, wie es Menschen gibt."(8) Eine Einigungsformel, die den Widerstand rechter Traditionalistengruppen gegen das katholische Verständnis der Gewissens- und Religionsfreiheit überwinden soll, darf hinter die in höchstem Maß respektvolle Anerkennung der verschiedenartigen Erkenntniswege, auf denen die Menschen die Wahrheit suchen, nicht mehr zurückfallen, die sich in diesem Diktum ausspricht.

Ein Richtungsstreit

Die gegenwärtigen kirchenpolitischen Auseinandersetzungen lassen sich als Kampf um die Deutungshoheit des Konzils verstehen, den Rom durch lehramtliche Interventionen zu seinen Gunsten entscheiden will. Leitend ist dabei ein verkürztes Verständnis der notwendigen Rezeption einer vom Lehramt vorgelegten Lehre durch die Gesamtkirche. Nach römischem Verständnis gilt die Rezeption bereits dann als erfolgt, wenn das Lehramt in seinen späteren Stellungnahmen auf diese Lehre Bezug nimmt. Tatsächlich ist der Vorgang der Rezeption einer Glaubenslehre jedoch ein vielschichtiger Prozeß, der sein Ziel erst erreicht, wenn diese Lehre im lebendigen Glaubensbewußtsein der ganzen Kirche, also auch ihrer Gläubigen und ihrer Theologen, verankert ist.

Sicherlich hat das Lehramt das Recht, in einen Rezeptionsprozeß einzugreifen, der aus seiner Sicht einseitig verläuft. Eine solche Intervention hat aber nur dann eine Chance, diesen Prozeß wirksam zu steuern, wenn sie ihrerseits nicht auf die Einseitigkeiten fixiert bleibt, gegen die sie sich richtet. Wenn lehramtliche Stellungnahmen, statt die innere Weite der Konzilsaussagen einzufordern, nachträglich restriktivere Auslegungen erzwingen wollen, ist die Theologie zu kritischer Wachsamkeit aufgefordert. Was als "authentische" Interpretation des Konzils zu gelten hat, muß sich aus dem Zusammenspiel aller Bezeugungsinstanzen des Glaubens ergeben, die das Bleiben der Kirche in der Wahrheit verbürgen. Das Konzil nennt hier an erster Stelle, aber eben nicht ausschließlich, das Lehramt; andere Instanzen von eigener Bedeutung und ekklesialer Qualität sind die freie theologische Forschung und der Glaubenssinn der Gläubigen. Es wäre eine Selbstüberforderung des päpstlichen Lehramts, wenn es durch einseitige Deklaration das Ergebnis des Ringens um eine authentische Interpretation des Konzils vorwegnehmen wollte.

Das beste Beispiel für eine am Ende vergebliche Überforderung des Lehramts ist die Definition der päpstlichen Unfehlbarkeit auf dem Ersten Vatikanum. Deren Umfang wird heute allgemein in einem engen und präzisen Sinn bestimmt, der dem Verständnis der auf dem Konzil selbst unterlegenen Minoritätsbischöfe nahekommt. Dagegen konnte die maximalistische Interpretation der päpstlichen Lehrkompetenz das spätere Verständnis der Kirche nicht prägen. Nach dieser weiten Auslegung käme auch päpstlichen Bullen wie dem "Syllabus errorum", einer Zusammenstellung angeblicher Zeitirrtümer des modernen Liberalismus, oder der ihm voranstehenden Enzyklika "Quanta cura", die 1864 die Gewissens- und Religionsfreiheit in einem Zug mit anderen bürgerlichen Freiheitsrechten verurteilte, der Rang unfehlbarer "ex-cathedra"-Äußerungen des Lehramts zu (wovon Papst Pius IX. und viele seiner Gefolgsleute auf dem Konzil persönlich überzeugt waren) (9). In der Kirche setzte sich aber nicht durch, was das Lehramt im 19. Jahrhundert und bis zur Krise um den Modernismus Anfang des 20. Jahrhunderts erzwingen wollte, sondern wofür die besseren theologischen Sachgründe sprachen. Am Ende verhalf diesen die exegetische und dogmengeschichtliche Forschung zur Anerkennung, der sich die Kirche nach langen Auseinandersetzungen öffnete.

Transparenz statt Geheimdiplomatie

Auch läßt sich die Autorität des Konzils nicht gegen die Autorität des päpstlichen Lehramts ausspielen. Anders als die mittelalterlichen Konzilien und anders auch als das Konzil von Trient sind die beiden vatikanischen Konzilien des 19. und 20. Jahrhunderts Versammlungen des Weltepiskopats mit und unter dem Papst, deren Dekrete vom Papst selbst veröffentlicht und dadurch in Kraft gesetzt wurden.

Wer daher einzelnen Konzilsaussagen den Gehorsam verweigert, verweigert auch dem Lehramt des Papstes den Gehorsam. Wenn die Piusbruderschaft, wie bereits in ihrem Gesuch um die Aufhebung der Exkommunikation, abermals nur ihre Zustimmung zu den Aussagen des Konzils über die hierarchische Struktur der Kirche und die Unfehlbarkeit des Papstes erklärt, aber die inhaltliche Fortentwicklung des katholischen Glaubens in zentralen Feldern des Offenbarungsverständnisses, des Kirchenbildes und des Verhältnisses zur Freiheitskultur der modernen Welt mit Stillschweigen übergeht, ist diese Zustimmung ein Titel ohne Wert, das faule Papier einer - analog zur Bankenkrise gesprochen - "bad-bank", das die römischen Unterhändler mit leeren Händen dastehen läßt. Es ist bereits ein eigenartiger, ungewohnter Vorgang, daß Rom eine Gruppierung, die dem Papst und der Kirche den von jedem Gläubigen geforderten Glaubensgehorsam verweigert, zu Verhandlungen über die authentische Interpretation dieser Glaubensaussagen einlädt. Noch befremdlicher aber ist, daß das Ergebnis dieser Geheimverhandlungen anschließend der Gesamtkirche, d.h. den Bischöfen, Theologen und Gläubigen der Kirche, als verbindliche Auslegung jener Konzilsaussagen präsentiert werden soll, die von der Piusbruderschaft bislang abgelehnt werden.

Wo es um den Glauben der Kirche und seine öffentliche Bezeugung geht, ist nicht Geheimdiplomatie, sondern größtmögliche Transparenz gefordert. Über die authentische Interpretation des Konzils kann nicht hinter verschlossenen Türen, sondern nur unter Beteiligung einer breiten kirchlichen Öffentlichkeit verhandelt werden. Zwar kann der Papst die ihm als Haupt des Bischofskollegiums zukommende Lehrvollmacht nach dem durch das Konzil ausdrücklich bekräftigten Verständnis der katholischen Kirche auch in persönlicher Form wahrnehmen; er kann diese ihm als Haupt des Kollegiums eigene Kompetenz jederzeit nach eigenem Ermessen ausüben, ohne das Bischofskollegium daran beteiligen zu müssen.

Eine andere Sache ist es freilich, ob er nicht gut beraten wäre, Vertreter des Weltepiskopats und anerkannte Theologen der Weltkirche zu den Gesprächen mit der Piusbruderschaft hinzuzuziehen. Im Fall eines Verhandlungserfolges würde dies die Chance erhöhen, daß das erreichte Ergebnis tatsächlich zur Versöhnung in der Kirche beiträgt, statt neue Besorgnisse und Unklarheiten hervorzurufen. Im Fall des Scheiterns könnte der Papst mit breiter kirchlicher Akzeptanz einen Schlußstrich unter dieses Kapitel einer verweigerten Anerkennung des Konzils ziehen, ohne einen persönlichen Autoritätsverlust befürchten zu müssen.

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