Glaube

Ich glaube; hilf meinem Unglauben!
(Matthäus 9,28)

In einem meiner geliebten schwedischen Krimis las ich: „Der Arzt hat gesagt: Wichtig ist, nicht, dass wir an Gott glauben. Gott ist nicht kleinlich. Wichtig ist, dass wir begreifen, wie groß und reich das Leben ist. Wir sollten es schätzen und gleichzeitig versuchen, die Welt zu verbessern. Wer das Gleichgewicht zwischen beidem findet, kommt Gott nahe.“

Kann man Brücken bauen über Fundamentreste? Wie schützt man erste Blüten vor der Schwere des ersten Mai-Eisregens? Darf man Kinder angesichts eigener Grenzen zu „freiem Spiel“ einladen?
600.000 Menschen hat die Evangelische Kirche im vergangenen Jahr verloren. Trotz Telefonseelsorge, Kitas, Diakonie, multipler Gottesdienst- und Konzertangebote. Trotz individueller Seelsorge, Konfirmandenunterricht und fühlsamer Bestattungen. Zwei „meiner“ Kirchen, an denen ich Pfarrer sein durfte, sind oder wurden schon verkauft. Wer baut uns eine Brücke zu den Menschen, die uns davongelaufen sind?

Martin Bucer war ein Brückenbauer, Erasmus von Rotterdam war ein Brückenbauer, der jetzige Papst ist – das ist ja auch sein Titel „Pontifex maximus“ – „Höchster Brückenbauer“ – und sein Amt, in seinem Versuch, die Opfer (Ukraine) mit dem Gesetzesbrecher (Putin) in ein „Gespräch“ zu bringen, ein Brückenbauer. Er hat dies auf seine Weise in seiner Osterbotschaft wiederholt.
Mir ist über alldem wieder die alte, veraltete (?), theologische wie philosophische Frage in den Sinn gekommen: „Allmacht Gottes und der freie Wille des Menschen“. Mag sein, dass mir – über Ostern, als ich das schreibe – die alte Judasfrage durch den Kopf geht: „Gottes Wille – des Judas Schuld?“
Kann sein, dass ich die alten theologisch-philosophischen Streitigkeiten in meiner jungen Eitelkeit damals übergangen habe. Kann sein, dass mich mein Alter dazu zwingt, zu den Quellen zu gehen und nicht zu Nebenflüssen.

Sicher waren es interessierte Fragen eines sehr spät geschenkten Freundes, die mich aufhorchen ließen auf das eigene theologische Defizit bei fast überreicher persönlicher „Erfahrung“.
Kann sein, dass ich auf eine nicht nur für mich wichtige Frage gestoßen worden bin. Nicht nur für mich wichtig, das hieße: Andere fragen ähnlich, auch wenn sie die Frage nicht stellen. Wer immer „Gott“ dachte, wird – bevor er oder sie sich an Nebenflüssen niederlassen – „Warum?“ gedacht haben: Warum – wenn – lässt Gott das Böse zu?
Gibt es eine beschreibbare, glaubwürdige, überzeugende Antwort auf die Hängepartie zwischen dem „Freien Willen des Menschen“ und der „Allmacht Gottes“?
„Ich muss an dir loben und preisen, dass du allein, von allen mei­nen Widersachern, die Sache besprochen hast, das ist das Hauptstück …. Du bist der einzige und alleinige Mann, der einmal das Hauptziel und den Hauptgrund dieser Sache gesehen hat und der in diesem Kampf dem Streiter nach der Gurgel greifen wollte, deshalb habe ich vor, dir von Herzen zu danken.“ schreibt Luther – ansonsten weniger freundlich – an Erasmus.
Ja, die Frage ist ein Prinzip protestantisch-evangelischen Glaubens. Und ich finde mich eher auf der Seite des Brückenbauers Erasmus als auf der Seite des protestantischen „Über-Vaters“.
Sie streiten um das „Grad der Verantwortung“. Damit um das Wesentliche: „Ist der Mensch in seiner Freiheit, die Gott ihm schenkt, verantwortlich für das, was er (an)tut, lässt, fördert oder hinterlässt?“ Oder hat Gott in seiner „Allmacht“ letztgültigen Einfluss auf alles, was durch den Menschen geschieht?

Manche werden abwinken. Aber sie kommen an der Frage nicht vorbei. Hier, an diesem „Hauptstück“ oder dieser „Marginalie“ wird Glauben zu Glauben. Und ich bin ratlos. Bitte keine Ausflüchte, weder bei der mit 28 an Krebs gestorbenen Mutter noch bei den Kriegen, die uns erreichen. Keine Harmlosigkeiten! Beide Antworten tun nicht nur weh, sondern entziehen uns den Boden, auf dem wir meinen, fest zu stehen.
Bitte a) eine klare, für alle verständliche und auf Christus gegründete Theologie! (Vieles andere taugt für laue Sommernächte unter klarem Sternenhimmel und ist in der Regel nicht daneben.)
Und bitte b) keine hohlen Worte ohne persönliche (Glaubens-)Erfahrung!

Glaube hat Folgen. Glaube hat Gründe.
Glaube – und das gegen die Wüstenväter und Eremiten – lebt vom Glauben der Gemeinde. Gemeinde wird weniger. Fazit: Nähe muss spürbarer werden.
Nicht neue Programme. Mir und vielen anderen gehen die endlosen Strukturdiskussionen auf den Geist. Wir suchen das, was Menschen bewegt, in einen Gottesdienst zu gehen, eine/n Geistlichen zu fragen oder die Hände zu falten.

Das lässt sich nicht „machen“, auch nicht „spiegeln“. Das lässt sich nicht „organisieren“. Das lässt sich nicht „strukturieren“. Das lässt sich nur gemeinsam erleben.
Ja, „Gemeinsames Leben“. Mein geistlicher Freund wies mich unterwegs auf den „alten Titel“ Bonhoeffers hin. Und da finde ich hin zu dem, was ich mit „Authentizität“ meine, mit meinem „öffentlich Glauben“.

In Bonhoeffers „Gemeinsames Leben“ (ich zitiere aus meiner alten Ausgabe des Kaiser-Verlags von 1976, aus dem Kapitel über „Beichte und Abendmahl“) spüre ich existentielle Nähe, Herzensnähe.
„Die fromme Gemeinschaft erlaubt es ja keinem, Sünder zu sein. Darum muss jeder seine Sünde vor sich selbst und vor der Gemeinschaft ver­bergen.“ (S. 95)
„Wir bleiben mit unserer Sünde allein.“
(S. 95)
„In der Sünde geschieht der Durchbruch zur Gemeinschaft. Die Sünde will mit dem Menschen allein sein.“ (S. 96)
„Allein der Bruder unter dem Kreuz kann meine Beichte hören. Nicht Lebenserfahrung, sondern Kreuzeserfahrung macht den Beichthörer.“ (S. 106)
Tiefste Gedanken, alte Begriffe. Nicht meine Worte. Aber nah bei dem, was ich meine.
Doch bedenke, liebe Leserin, lieber Leser der PASTORALBLÄTTER: Du hast es immer in der Gemeinde, im Gespräch, selbst beim Kirchenkaffee mit einem „erfahrenen Menschen“ zu tun. Sie oder er bringen ihre/seine Geschichte mit. So wie du die deine über den „garstigen Graben“ mitträgst. Wie fügt sich dein/mein/Ihr Ich zu einem entlastenden und einladenden „Wir“?

Unsere Mütter und Väter haben sich eigentlich mit den gleichen Fragen herumgeschlagen. Sie fanden „Gemeinschaft“ auf der Basis höchst unterschiedlicher „eigener Erfahrung“. Wie geht das? M. E. geht es nur dann, wenn ich dem/der je Einzelne/n begegne als einer Überraschung, einem Geschenk, einem Augenzwinkern Gottes.

Ich habe nicht recht. Aber ich habe Lebens- und Glaubenserfahrung. Ich weiß auch vieles, wenn ich die Bibel aufschlage. Kenne die politischen, ökonomischen und gedanklichen Hintergründe der Zeiten und Orte. Muss über den „garstigen Graben“ hermeneutisch einen großen Spagat machen. Nehme mein Wissen mit über den Graben und meine neue Glaubenserfahrung zurück. Das geht so bis ans Lebensende einer Theologin/eines Theologen. (Reden wir doch von „Gott“!)
Doch dann erwartet der Mann aus Nazareth, dass ich ein Zeuge sei. Dass ich – befragt auf Herzen und Nieren – „meine“ Wahrheit“ sage. Besser: „bekenne“. Denn diese „Wahrheit des Glaubens“ kommt aus dem „vom Wort der Bibel“ erreichten Herzen. Nennen Sie es affiziert oder berührt. Jedenfalls muss es mein Innerstes erreicht haben. Erst dann wird aus dem ganzen Konglomerat „Glauben“.

Vielleicht begegne ich beim nächtlichen Krimi-Lesen Weisheiten, die mir immer wieder neu gesagt werden müssen: „Der Arzt hat gesagt: Wichtig ist, nicht, dass wir an Gott glauben. Gott ist nicht kleinlich. Wichtig ist, dass wir begreifen, wie groß und reich das Leben ist. Wir sollten es schätzen und gleichzeitig versuchen, die Welt zu verbessern. Wer das Gleichgewicht zwischen beidem findet, kommt Gott nahe.“ Ein sehr guter Arzt. Er hat verstanden. Mehr geht in schwedischen Krimis nicht.

Wir wissen, dass der Mensch so lange mit Gott nicht ins Reine kommt, wie er sich seine Liebe mit Leistungen verdienen will. Mit Gott kommt er ins Reine, wenn er sich auf Christus beruft. Deshalb haben wir ja unser Vertrauen auf Christus gesetzt, um durch den Glauben an ihn so zu sein, wie Gott uns will. Wir wissen doch, dass kein Mensch mit seiner Leistung erreichen kann, dass Gott zu ihm Ja sagt.
Das Gesetz, das mir sagt, was ich tun und lassen muss, hat eigentlich keinen Anspruch mehr auf mich. Ich bin tot für das Gesetz, als wäre ich gestorben. Ich lebe nur noch auf Gott hin. Mit Christus bin auch ich gekreuzigt. So lebe nun nicht mehr ich selbst, sondern Christus lebt in mir. Er hat mich geliebt. Er hat sich für mich geopfert. Diese Gnade Gottes halte ich fest. Hätte ich irgendeine andere Aussicht, vielleicht durch eigene tolle Leistungen Frieden mit Gott zu finden, so hätte Christus nicht zu sterben brauchen. (Gal 2,16–21)?

Konfirmandinnen und Konfirmanden versuche ich das manchmal im Gespräch so zu erklären: Du gehst auf die Bank, um dir die Bankauszüge zu holen. Du weißt schon, was dich erwartet. Rote Zahlen, nur rote Zahlen. Da ist das Auto abzubezahlen, da sind die Schulden auf dem Haus, die Versicherungen, dann dies und jenes im Haus. Gelegentlich hat man dich schon in die erste Etage gerufen. Umschulden. Bringen Sie das bitte in Ordnung.
Was soll’s, du hast wieder einen Brief gekriegt. 1. Stockwerk. Kundenberatung. Jetzt in dieser Finanzkrise. Du hast in letzter Zeit die Auszüge schon gar nicht mehr geholt. Du klopfst an. Die freundliche Dame kennst du von den letzten unangenehmen Gesprächen. Herz klopft. Magen grimmt.

Ja, wir beobachten Ihr Konto ja schon länger. -
Weiß ich, leider.
Sie wissen ja, wir wollen immer das Beste für unsere Kunden. -
Na ja.
Nun, wir wollten mit Ihnen sprechen, was Sie mit den 25.000,00 Euro nun machen.
Gott im Himmel, 25.000,00 Euro. So schlimm sieht’s also aus?
So schlimm? Hatten Sie mit mehr gerechnet?
Nein, noch mehr wäre noch schlimmer …
Ich habe den Eindruck, sagt sie, wir reden aneinander vorbei. Sie haben ein Plus von 25,000 Euro, und ich wollte mit Ihnen sprechen, ob Sie’s nicht vielleicht anlegen möchten. Sie wissen, nach den letzten Wochen ist das heikel …
Das kann nicht sein. Ich hab’ doch Schulden, das wissen doch Sie am allerbesten.
Nein, 25.743,00 Euro Haben. Seien Sie doch froh.
Das muss ein Irrtum sein.
Irrtum ausgeschlossen. Da, (- er wendet den Bildschirm -) vor drei Wochen kam die Einzahlung: 40.000,00 Euro.
Wer soll mir denn 40,000 Euro geben, und wofür?

 … Denn hätte ich irgendeine Aussicht, Frieden mit Gott zu finden – ein ausgeglichenes Konto – dadurch, dass ich das Gesetz erfülle, so hätte Christus nicht zu sterben brauchen.
„Ich muss das Gesetz erfüllen“ ist abgelöst durch: „Christus ist für mich gestorben und auferstanden.“
Die Glaubens-Frage ist: Nehmen wir das Geschenk an?
Dann tun sich Brücken auf in viele Richtungen. Und das ist nicht unwesentlich für die Trinitatissonntage!

Gerhard Engelsberger

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