Unsere Geschichte - Wehrbürger

Unsere Geschichte - Wehrbürger
© Unicef 2022

Jede und jeder unter uns hat eine eigene Biografie.
Die Biografie zu rauben, ist schändlich, tödlich.
Jede Stadt, jedes Dorf hat ihre/seine eigene Geschichte.
Diese Geschichte zu verstecken, zu verschweigen oder vorzuenthalten vernichtet Wurzeln und macht Heimischwerden unmöglich.
Jede Religion, jeder Staat hat ihre und seine Geschichte.
Diese Geschichte zu vernichten, zu verheimlichen oder auszulöschen, ist schändlich, tödlich.

Wir leben in einer Zeit, in der Geschichte einerseits totgeschwiegen, andererseits überhöht oder verfälscht wird. Ob das je anders war?
So wie Gaulands „Mückenschiss“ eine ekelhafte Verniedlichung deutscher Schuld ist, wie die antijüdische Hasspropaganda (nicht nur) in Zeiten des Krieges Straßen erobert und die Unterbringungsprobleme von Migrantinnen und Migranten deren Fluchtgründe marginalisiert, so laut werden die Rufe nach Mauern, Grenzen und „Mia san mia“-Parolen. Wer ist eigentlich „Mia“? Wer hat Anrecht auf einen Schutz hinter der Mauer?
Ich bin aufgewachsen in Niefern (bei Pforzheim). Zu meiner Zeit als Kind und Jugendlicher ein Dorf mit nicht einmal 5.000 Einwohnern. Eine katholische Kirche gab es nicht, sie wurde später gebaut. Solange rochen wir Evangelische in „unserer Kirche“ den katholischen Weihrauch, war doch die evangelische Kirche sonntags in der Frühe für die katholische Gemeinde reserviert. Die (evangelische!) Marien-Kirche aus dem 15. Jahrhundert, ein besichtigungswürdiges Kleinod, wurde mit den katholischen Christinnen und Christen geteilt.
Nun war diese Marienkirche eine Wehrkirche. Ich erinnere mich noch an die Mauer um die Kirche, vielleicht – Erinnerung täuscht – auch noch an einzelne Nischen hinter der Mauer. Es gab die „Engelsberger“ in Niefern erst nach dem Westfälischen Frieden. Aber Vorfahren sicherlich. In welcher Nische hinter der Mauer fanden sie Zuflucht im scheußlichen 30-jährigen Krieg?

Zuflucht? Ich erinnere an den 90. Psalm. Er beginnt: „Herr, du bist unsre Zuflucht für und für. Ehe denn die Berge wurden und die Erde und die Welt geschaffen wurden, bist du, Gott, von Ewigkeit zu Ewigkeit.“
Wir rätseln über unser Her und Hin?
Die Forscher der Genealogie geben längst Auskunft über unsere Genealogie („Lassen Sie sich verblüffen“, titelt die Webseite „Myheritage“.) Kein Wunder, dass sich in unseren persönlichen Quellen afrikanische, z.T. asiatische Einflüsse nachweisen lassen, nicht anders als „Neandertaler“ und andere Vorfahren.
Ja, wir waren und bleiben Migrantinnen und Migrantinnen.
Auf die Länge gesehen sind wir nicht „mono“. Wir sind „multi“. Auch wenn das ein zunehmender Teil auch in Deutschland nicht hören und sehen will. Wer „Ahnenforschung“ betreibt, weiß das und schätzt das.
Schließlich stammen wir wohl alle genealogisch aus dem Kontinent, gegenüber dem wir uns am heftigsten abschotten.
Ich habe größten Respekt vor allen, die sich um Migrantinnen und Migranten kümmern, Obdach suchen für Flüchtende, Arbeit suchen für Zuwanderer.

Ich habe größten Respekt vor Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern, vor haupt-, neben- und ehrenamtlichen Engagierten, die spüren, wie Kräfte und Plätze weniger werden.
Niemand hat uns beigebracht, dass eben dies „unsere Geschichte“ ist. Sie waren alle unterwegs, auf die wir uns berufen: Mose, Abraham, Isaak, die Propheten, selbst Jesus hatte keine Zuflucht: „Die Füchse haben Gruben und die Vögel unter dem Himmel haben Nester; aber der Menschensohn hat nichts, wo er sein Haupt hinlege.“ (2. Kor 8,9)
Wenn wir alle auf eine Geschichte von Migrantinnen und Migranten zurückblicken, wenn niemand unter uns ein verbrieftes Recht hat auf diesen oder jenen Platz unter dem Himmel, dann müssen wir die Erzählung unserer Geschichte umstellen.
„Ein umherirrender Aramäer war mein Vater.“ (Dtn 26,5a.) Und meine Mutter ging mit ihm. So – und nicht anders – ist auf die Länge gesehen unser aller Geschichte. Wir haben – weder in der Kirche noch in den Dörfern und Städten – daraus „unsere story“ gemacht. Wir alle sind „Wehrbürger“ geblieben. Das taugt auf die Dauer nicht. Ob es uns – ohne Kriege – gelingt, eines Tages eine neue Geschichte zu schreiben?

Ich lese in dem – in den Neuerscheinungen vorgestellten Buch von Andreas Frei, Bilder der Geschichte im Angesicht der Krise – den Gedanken von Walter Benjamin: „Geschichte zerfällt in Bilder, nicht in Geschichten“. Ich horche auf. Ich habe aus den biblischen Geschichten „Bilder“ vor Augen; auch aus meiner persönlichen Geschichte. Maximal kurze Szenen. Doch dann verdichten sich die Bilder und Szenen und Geschichten. Und ich spüre gerade den „Geschichten“ aus den Evangelien eben diesen sanften Übergang von Bild in Szene, von Szene in Geschichte nach. Ob es nicht immer so ist?
So erklären sich mir Bilder, die zu „stories“ werden: Die Szene am Kreuz von Golgatha wie die Szene an der Krippe in Bethlehem. Die Bilder werden zu Szenen, die Szenen müssen erzählt werden.
Nicht anders das Napalm-Mädchen aus Vietnam. Jeder kennt das Bild. Und doch hat es eine Geschichte: „Nach 17 Operationen binnen 14 Monaten, darunter Hauttransplantationen, konnte sie Ende 1973 nach Hause zurückkehren. Sogar erst nach der Behandlung in einer Spezialklinik in Ludwigshafen 1982 war Kim Phúc in der Lage, sich wieder richtig zu bewegen.“ Allerdings waren die „Schuldigen“ keine amerikanischen Soldaten, sondern Einheiten der 25. vietnamesischen Division. (https://www.welt.de/geschichte/kopf-des-tages/article231649425/Kim-Phuc-Das-Napalm-Maedchen-aus-Vietnam.html)

Oder ein letztes Bild: „Ethiopia’s Children in War“ – zwei Kinder inmitten von Büchern blätternd. Titel: „Ein Moment des Glücks“. Das Unicef-Foto 2022 (https://www.unicef.de/informieren/aktuelles/blog/-/unicef-foto-des-jahres-2022-ein-moment-des-gluecks/322742)

Ich denke an ein großartiges Gedicht. Franz Hohler, der Schweizer Musiker, Kabarettist und Schriftsteller schreibt unter dem Titel „Bitte an den Kameramann“ folgendes Gedicht:

„Könntest du
Kameramann
das nächstemal
wenn du den Hunger filmst
und auf die Fliegen zoomst
an den Augen des äthiopischen Kindes
könntest du dann
deine Kamera sinken lassen
und statt dessen
die Fliegen vertreiben?
Danke.“
(Franz Hohler, Vom richtigen Gebrauch der Zeit, München 2006, S. 15)

Bilder halten fest.
Szenen weiten den Blick.
Geschichten machen uns zu Beteiligten.
Wir schreiben und erzählen die Geschichte weiter, auch wenn wir nicht mehr von stetigem „Fortschritt“ reden. Zu massiv sind die Einschläge im 20. Jahrhundert gewesen, und so massiv sind sie heute.

Es meinte eine ältere Dame nach einem Gottesdienst zu mir: „Wir haben nichts dazugelernt.“ Ja, der Fortschrittsglaube ist verloren gegangen. Karl Barth hat das in seiner 2. Aufl. des Römerbriefes deutlich gemacht.
Dennoch: Wir sind beteiligt – so oder so …

Gerhard Engelsberger

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