Es ist nicht üblich, einen so persönlichen „Trauerbrief“ in den PASTORALBLÄTTERN zu veröffentlichen. Da sind sich Autorin und Schriftleiter sehr einig. Dennoch habe ich Frau von Hauff gebeten, diesen – mit der Familie abgestimmten „Trauerbrief“ hier zu veröffentlichen. Er möge anderen Mut machen, ähnliche Briefe und Erinnerungen aufzuschreiben. Der Beitrag sollte kein Vorbild sein, sondern eine Einladung, in schwierigen Zeiten Ähnliches zu tun.
Pfr. Gerhard Engelsberger, Schriftleiter
Wie ist die Zeit vergangen,
seit du gestorben bist!
Ich spüre ein Verlangen,
das unerfüllbar ist,
die Sehnsucht, gutzumachen,
was falsch war und misslang,
zu weinen und zu lachen:
Ich liebe dich. Hab Dank!
Noch einmal mit dir sprechen,
gereift aus langem Weh,
den Bann des Schweigens brechen
verstehender denn je.
Wie wär es mit uns beiden,
wärst du noch auf der Welt?
Wie zwischen Glück und Leiden,
wär es um uns bestellt?
Ein Trost wächst durch das Schwere,
ernüchternd wunderbar:
Es wär so, wie es wäre,
es wäre, wie es war.
Detlev Block
Im November 2000
Lieber E.,
wie ist die Zeit vergangen, seit du gestorben bist! Zwei Jahre sind vergangen!
Es ist Samstagabend. Es ist ein Abend ganz anderer Art als der vor zwei Jahren. Damals kam ich vom Krankenhaus nach Hause und wusste nicht, ob ich dich am nächsten Tag noch lebend antreffen würde. Als ich auf unsere Terrasse blickte, ahnte ich, dass du wohl nie mehr draußen auf deinem Stuhl sitzen und mir entgegenstrahlen würdest. Trotz Krankheit und der großen Belastung, die für dich und uns alle mit dieser deiner schweren Krankheit einhergingen und trotz des manchmal verzweifelten Schreiens zu Gott: „Mach End, o Herr, mach Ende mit aller unsrer Not …“, war es unvorstellbar, dass du einmal nicht mehr bei mir, bei uns, sein würdest.
Und dann kam der Sonntag, es war der Ewigkeitssonntag. Alles war so friedlich, ein wunderschöner Herbsttag. Wieder war es nur ein leises Ahnen, das mir auf dem Heimweg vom Gottesdienst einflüsterte: „Dies ist ein schöner Tag zum Sterben.“
Ina-Dorothea und drei deiner Kinder aus erster Ehe waren bei dir. Am Mittag rief Ina-Dorothea an und sagte: „Papa geht es heute besser.“ Sie freute sich schon darauf, am nächsten Tag wieder an deinem Bett sitzen zu dürfen.
Ohne die Angst und die Schwere des Vortages kam ich bei dir im Krankenhaus an. Es war alles so ruhig. Nach zwei Tagen des Kampfes hattest du deine dir eigene Ruhe gefunden. Als ich von der Sonne draußen erzählte, ging ein Leuchten über dein Gesicht. Vieles hätte ich noch mit dir besprechen wollen, aber es schien, als wäre dazu noch Zeit.
Dein letztes Wort galt Hans-Daniel. Es war ein schwaches und doch so liebevolles: „Hallo!“ als er gegen Abend an dein Krankenbett trat. Eine harmonische Stunde verbrachten wir mit dir. Und dann bist du ganz schnell und ohne große Vorankündigung von uns gegangen, so als wolltest du mit deinem Sterben kein Aufsehen erregen.
Fremd und erschreckend war das Wort des Arztes, der uns deinen Tod mitteilte. „Nun ist alles aus!“, so schoss es mir durch den Kopf.
Heftige Tränen erschütterten Hans-Daniel und die bald ankommende Ina-Dorothea. Hatte ich schon begriffen, was passiert war? Ich funktionierte und tat zusammen mit dem netten Pfleger das, was nötig war. Die Tränen kamen erst später.
Und dann das Erleben eines unbeschreiblichen Friedens an deinem Totenbett. Du warst von uns gegangen und warst doch nicht fern. Deine Hand war noch warm und es war fast so wie sonst auch, wenn ich deine Hand in der meinen hielt. Es war schön, dass wir so lange an deinem Bett mit dir sitzen und deinen Frieden wahrnehmen durften. Irgendwann auch zusammen mit zwei deiner anderen Kinder.
Du hast dir einen schönen Tag ausgesucht, um in die Ewigkeit heimzukehren. An einem Sonntag, an einem 22. bist du geboren, an einem Sonntag, auch an einem 22. bist du gestorben. Dass es der Ewigkeitssonntag war, hat mich lange Zeit getröstet. Früher hatte dieser Tag etwas Unheimliches an sich. Er sollte schnell vorbei sein, damit das Licht des Advents die Schatten des Todes vertreiben konnte. Seit du uns gerade an diesem Tag verlassen hast, hat dieser Tag eine besondere Würde bekommen. Alles Unheimliche ist ihm genommen. Du bist an diesem Tag heimgekehrt zu deinem, zu unserem Gott.
Zwei Jahre sind seither vergangen, zwei erfüllte Jahre. Was ist in dieser Zeit passiert?
Von Anfang an wusste ich, dass ich mein Leben nicht an das der Kinder binden durfte. Ich war sicher, dass dies auch dir entsprach. Es galt, der Zeit ohne dich Sinn zu geben. Ich hielt das abendliche Alleinsein in meinem Wohnzimmer aus und erfuhr: Alleinsein ist nicht gleichbedeutend mit Einsamsein. Du warst weg, aber so vieles von dir war noch da. Das größte Vermächtnis, das du mir hinterlassen hast, ist deine unbeschreibliche Ruhe und Gelassenheit. In dieser Ruhe konnte ich atmen, konnte ich der kommenden Adventszeit entgegensehen. Unendlich viele Kerzen haben die anbrechende Adventszeit erleuchtet. Mit den Menschen, die mich besuchten, trank ich in deinem Zimmer Tee und erzählte immer wieder von dir.
Deine Decke lag noch in deinem Sessel. Er wurde zu meinem Platz, und wie selbstverständlich hüllte ich mich in deine Decke ein, sie wärmte mich statt deiner. In deinem Sessel betete ich, las in der Bibel, dachte nach und wurde immer wieder ganz ruhig. Alles in meinem Leben war langsamer geworden. Die Trauer äußerte sich nicht in Verzweiflung, sondern in einer großen Gelassenheit. Nach und nach wurde mir bewusst, dass ein gnädiger Gott dein Weggehen schon Monate vorher schrittweise vorbereitet hatte. Schmerzlicher als dein Eingehen in die Ewigkeit war die Zeit deiner schweren Krankheit. Dies erkannte ich immer deutlicher. Der Friede und das leise Lächeln auf deinem toten Gesicht hatten den Kindern und mir die Gewissheit geschenkt, dass du an deinem Ziel angekommen warst.
Ich hatte nicht über Trauerkleider nachgedacht. Trotzdem wurde die Farbe Schwarz mir für Monate zu der vertrautesten. Sie war Zeichen dafür, dass der Mensch nicht mehr an meiner Seite war, mit dem ich im Tiefsten verbunden war.
Nachts ging ich mit deiner Strickjacke ins Bett. Wie selbstverständlich war es dasjenige, in dem ich in all den gemeinsamen Jahren in deinen Armen eingeschlafen war.
An Weihnachten musste alles so sein, wie du es mit uns gefeiert hattest. Diesem Fest hast du immer eine besondere Würde gegeben. Es war schön zu sehen, dass die Kinder das von dir Begonnene weitertragen wollten. Du warst uns während dieser Festtage nicht fern.
Und dann kam der erste Silvesterabend. Die Kinder gingen mit Freunden weg. Nach dem Gottesdienst, den ich im Nachbarort halten durfte, war ich allein. Wie an den Abenden zuvor hörte ich das Requiem von Mozart und schrieb Briefe. Es waren Dankesbriefe an die vielen Menschen, die uns getröstet und uns mit der dir entgegengebrachten Wertschätzung glücklich gemacht hatten. In jedem Brief ließ ich die Jahre mit dir an mir vorüberziehen. Die Erinnerung wurde lebendig und mit ihr warst du bei mir. Ich erlebte dich wie am Silvesterabend des vorigen Jahres. Du warst schon sehr krank. Es war die Zeit, in der alles so unendlich schwer war. Die Last der Krankheit drückte deine und unsere Schultern nieder. Trotzdem war jener Silvesterabend wunderschön, ja vielleicht war er der schönste unserer gemeinsamen Zeit. Du saßest auf dem Sofa, ich legte meinen Kopf auf deinen Schoß und wir hörten bei einem Glas Wein Musik. Alles war unbeschreiblich friedlich. Eine nahezu heilige Ruhe umgab uns. Daran erinnerte ich mich nun an dem ersten Silvesterabend nach deinem Weggang. Es tat unendlich gut, mit dem Frieden und der Ruhe zu leben, die du mir hinterlassen hattest.
Das Trauerjahr ist eine ganz besondere Zeit, es hat seine eigene Qualität. Im Rückblick erkenne ich, es war ein heilsames Jahr. Ich ließ die Zeit mit dir immer wieder an mir vorüberziehen. Langsam reifte in mir die Erkenntnis, dass es nicht selbstverständlich war, dass wir bei einem so großen Altersunterschied zweiundzwanzig Jahre miteinander leben durften. Die Dankbarkeit darüber ließ jede Klage verstummen. Oft habe ich dich in dieser Zeit auf dem Friedhof besucht, er wurde mir zu einem vertrauten Ort.
Die Ferien verbrachte ich mit einer Freundin am Timmendorfer Strand, an dem Ort, an dem ich Jahre vorher mit dir unbeschreiblich glücklich war. Es war wohltuend, nicht allein dort sein zu müssen und trotzdem ganz für mich sein zu dürfen. Es zog mich auch hier zum Friedhof, er schenkte mir Kraft und Frieden. Deinen Arm um meine Schultern vermisste ich schmerzlich und doch warst du nicht fern. Ich ging Wege, die ich an deiner Hand gegangen war.
Ein Jahr des Erinnerns. Ein Jahr der Ruhe war das Trauerjahr. Aber alles hat seine Zeit, so sagt es schon der Prediger Salomo. „Weinen hat seine Zeit, lachen hat seine Zeit; klagen hat seine Zeit …“ Es wäre nicht in deinem Sinn, wenn ich an der Trauer festgehalten, mich in sie verkrochen hätte. Und so kam nach dem Jahr der Trauer ein neues Jahr. Ein Jahr des langsamen Vorwärtsgehens.
Was du mir gegeben hast, das lebt in mir und ein Stück von dir ist unauslöschlich in mir und wird mich bis an das Ende meiner Tage begleiten. Die Jahre an deiner Seite haben mich geprägt, haben mich zu einem Teil von dir werden lassen. Von der dich bewundernden Kindfrau ließest du mich zur erwachsenen Frau heranreifen. Zu einer Frau, die ihren eigenen Weg gefunden hat.
Zugleich lenkte gerade das Jahr nach dem Trauerjahr meinen Blick weit zurück. Es lenkte ihn zurück zu unserem Anfang. Dies bedeutete, dass ich mich auch der Schuld unserer gemeinsamen Vergangenheit stellen musste. Einer Schuld, die Teil unseres Lebens ist und unauslöschlich zu uns beiden gehört. Heute weiß ich, dass auch dieses Schuldigwerden notwendig war. Ausgedrückt fand ich dies bei Anselm Grün, mit dessen Worten ich es sagen will, er schreibt: „Gott erzieht uns gerade auch durch unser Versagen, durch unseren Abfall. Da führt er uns auf den Weg der Demut, der allein zu Gott führt. … Alles hat einen Sinn, auch meine Leidenschaften, auch meine Sünden. Sie weisen mich stärker als meine Disziplin auf Gott …“ Diese Worte sind für mich wie ein Spiegel, in dem ich mich selbst erkenne.
Sehr diszipliniert, sehr moralisch war ich, ehe wir uns begegneten. Ich „wusste“, was richtig und falsch war und sagte dies auch anderen Menschen. Die Glut meiner Liebe zu dir hat alle Moral zu Asche werden lassen. Ich war dieser Liebe verfallen. Und obwohl Schuld damit einherging, war dies gut so, denn ich lernte Barmherzigkeit. Und ich lernte, dass Liebe ihre eigenen Gesetze hat. Meine Liebe zu dir sprengte alle Gesetze. Sie ließ mich Vergangenheit und Zukunft außer Acht lassen, sie ließ mich allein in der Gegenwart, in deiner Nähe glücklich sein.
Auch mein Glaube wandelte sich in der Zeit mit dir. Es gab Phasen, in denen das Gebet und Bibellesen in meinem Leben so gut wie keinen Raum hatte, aber immer wieder führte Gott mich zu sich zurück. Du ließest mich bei allem, was ich tat, gewähren. Der Glaube an Gott war für dich selbstverständlich. Er war etwas, über das man keine großen Worte machen musste.
Während des vergangenen Jahres wurde ich ganz langsam wieder zu dem Glauben zurückgeführt, den ich vor der Begegnung mit dir hatte. Ich finde Spuren, die mich glücklich machen. Und doch ist alles anders. Die mich damals erdrückende Enge ist von mir genommen, das ist dein Verdienst. Deine Weite war grenzenlos, so grenzenlos wie unsere Liebe.
Das Gebet ist im Laufe dieses zweiten Jahres nach deinem Weggehen wieder ins Zentrum meines Lebens gerückt. Ich habe wieder gelernt zu knien. Auch während unserer Ehe gehörte das Gebet zu unserem Leben. Wir beteten zu Tisch, wir lehrten unsere Kinder beten und jeder von uns betete für sich, aber wir beteten nicht miteinander. Langsam steigt in mir die Erinnerung an Jugendträume auf. Es war einer meiner großen Träume, mit meinem späteren Mann beten und Gott in besonderer Weise dienen zu können. Dieser Traum fand in unserer Ehe keine Erfüllung. Trotzdem hast du mich begleitet zu meinen Gottesdiensten und warst bei jeder Predigt, die ich schrieb, mein erster, sehr freundlich gesonnener Hörer.
Vieles hat sich in diesem zweiten Jahr verändert. Auf der Insel Usedom erlebte ich einen Urlaub ganz anderer Art als unsere gemeinsamen Ferien dies waren. Schwimmen, Rad fahren und viel Laufen ersetzten die geruhsamen Spaziergänge an deiner Seite. Ich musste nicht jeden Nachmittag promenieren und ins Café gehen, so wie ich es früher gerne tat. Auf dem Fahrrad meditierte ich die alten Gesangbuchlieder und schöpfte daraus unsagbar viel Kraft. Über zahllose Stunden hinweg war ich mit mir und meinem Gott allein und es war nicht langweilig. Auch die Erinnerung an die Ferien mit dir und den Kindern stieg in mir auf, es war schön, aber es tat nicht mehr weh. Die Akzeptanz dieser neuen Lebensphase hatte den Schmerz über den Verlust abgelöst.
Und dann kam die Zeit, in der ich anfing, unsere gemeinsamen Jahre auch kritisch zu sehen. Ich erkannte, was gelungen war und stellte mich schonungslos auch dem, was Mängel sichtbar werden ließ. Sowohl das, was ich dir versagt habe, als auch das, was ich selbst vermisste, ließ ich in mir aufsteigen. Langsam entsteht ein ehrliches Bild unserer Ehe. Und gerade dabei erkenne ich, sie war von einer grenzenlosen Liebe zusammengehalten.
Ich lasse auch die Erkenntnis zu, dass mit dir etwas in mir gestorben ist. Es ist das, was den Blick rückwärts lenkt, das, was der Vergangenheit mehr Raum geben will als der Gegenwart. Du warst ein Mensch der Gegenwart und ich weiß, du willst, dass ich nach vorne blicke. Dies aber mit den an deiner Seite geschärften Augen und trotzdem nicht mit deinen, sondern mit meinen Augen. Du wolltest, dass ich eine eigene, selbstständige Frau werde. Bei aller Nähe, die wir lebten, hast du mir die Freiheit zur eigenen Entfaltung gegeben. Hab Dank dafür!
Das dritte Jahr nach deinem Weggehen bricht an. Dass etwas anders geworden ist, merkte ich an der Reaktion auf ein mir zugesandtes Wort von Augustinus. Es heißt darin:
„Unsere Toten sind nicht abwesend, sondern unsichtbar.
Sie schauen mit ihren Augen voller Licht in unsere Augen voller Tränen.“
Lange dachte ich darüber nach und erkannte, meine Augen sind nicht mehr voller Trauer. Die Trauer hatte ihre Zeit und das war gut so. Was kommt, weiß ich nicht. Eines aber weiß ich, dich freut es, dass meine Augen nicht mehr voller Trauer sind.
Ganz langsam bricht eine Sehnsucht nach Neuem in mir auf. Der Ort, an dem ich mich dieser Sehnsucht stelle, ist das Gebet. Mit meinem Gott kann ich reden, wie mit einem guten Freund, so hat es Theresa von Avila gesagt und so empfinde ich es gleichfalls. Gern erinnere ich mich, dass unsere letzten geistlichen Gespräche sich mit Edith Stein beschäftigten. Sie bedeutete dir und mir viel. Auch sie war eine große Beterin. Und wenn ich heute weiß, dass der Wunsch, miteinander zu beten, in unserer Ehe keine Erfüllung fand, so hat mich doch das, was sich erfüllte, unermesslich reich gemacht.
Ich habe dich grenzenlos geliebt und ich danke dir für deine Liebe. Dass meine Liebe sich gewandelt hat, zeigt die Farbe der Rosen, die an deinem diesjährigen Todestag dein Grab schmücken werden. Es sollen keine roten, es sollen lachsfarbene sein. Aber es werden weiterhin Rosen sein, denn: „Die Liebe hört niemals auf.“ Sie wandelt sich nur.
In Anlehnung an das Gedicht von Detlev Block bekenne ich:
Unser Leben war, wie es war, unser Leben! Es war mit allen Tiefen und Höhen wunderschön. Ich möchte von diesem Leben keinen einzigen Tag missen, denn es waren Tage an der Seite eines wunderbaren Mannes. Es waren Tage mit dir!
Der Gott, der dich mir zur rechten Zeit geschenkt hat,
er hat dich mir auch zur rechten Zeit genommen, denn es war beides seine Zeit.
Dieser Gott hat mir Kraft für die Zeit der Trauer gegeben,
er wird auch die Zukunft erfüllen.
In nie endender Liebe, deine A.