Du sollst dich (nicht) schämen!

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(Alle meine Fotos – natürlich farbig und sehr groß – sind zum Download für kirchlichen Gebrauch auf unserer Webseite – „www.pastoralblaetter.de/archiv/downloadarchiv.html“ – frei oder gerne beim Schriftleiter per Mail abrufbar.)

„Scham“ und „Gericht“ – beide Themen bestimmen neben den Gottesdiensten und Kurzpredigten zu den Perikopentexten die November-Ausgabe der PASTORALBLÄTTER. Was beides verbindet, ist offensichtlich die Sexualität.

Ich stehe in der Bergkirche St. Romanus des deutschsprachigen Raron Nähe Brig. Der Ort dort oben, vielleicht hundert Meter über dem kleinen Dorf – mit dem weiten Blick ins Rhône-Tal nach Westen, mit dem an der Südseite der Kirche andächtig und still gelegenen Rilke-Grab („Rose, oh reiner Widerspruch, Lust, Niemandes Schlaf zu sein unter soviel Lidern“) – ist mir einer der liebsten spirituellen Orte. Ich war schon mehrmals da. Selten von Touristen „bevölkert“, in großer Ruhe, mit einem stetig leichten Frischwindchen, liegt diese Kirche hineingeschmiegt in die Landschaft wie ein kleines Ausrufezeichen dem, der achtet. Neben der berühmten Burgkirche stehen zwei weitere Gebäude auf der Burg in Raron. Zum einen das alte Pfarrhaus. Es dient heute als Museum. Zum anderen der mittelalterliche Wohnturm, der schon rund 150 Jahre vor der Kirche erbaut wurde. Das Innere der erstaunlichen Bergkirche wird bestimmt durch eine große Zahl von Fresken, die teils erst bei der Restauration von 1970 wieder zum Vorschein kamen. Die wichtigste – direkt gegenüber der hohen Kanzel nimmt sie die ganze Wand ein – zeigt ein Weltgericht mit der typischen Scheidung. Die Bösen werden von schrecklichen Monstern rechts ins ewige Feuer getrieben, während die Guten, durch Engel geleitet, von Petrus auf der linken Seite empfangen werden vor dem Himmelstor. Neben den allseits von vielen vergleichbaren Darstellungen bekannten Gräueldarstellungen steht mir in Raron vor allem der schamlose Umgang mit „Ketzern“ vor Augen. Ob Mann, ob Frau – beiden werden, bevor sie dem ewigen Feuer übergeben werden, die Genitalbereiche verbrannt. Summarisch werden Ketzer unter Ungeheuer, Räuber oder Verräter gezählt.

Was muss in Künstlern wie dem Maler in Raron, dessen Name und Werkstatt mir nicht bekannt ist – im kommenden Jahr erscheint ein Kunstführer, schrieb mir nach dem letzten Besuch die Leiterin des Burgmuseums – vorgegangen sein, dass sie mit solcher Lust am Quälen das göttliche Gericht, von dem wir in Matth 25 u. ö. lesen, darstellen und dabei schamlos die Vernichtung der Sexualität ausmalen? Was lebt sich da an der Wand und nicht nur an dieser Wand eigentlich aus? Was sich da mit Pinsel und Farbe auslebt, hat es sich auch mit Faust und Fußtritt ausgelebt? Mit Peitsche und Hammer? Auf Straßen und hinter Fassaden? Und woher kommt die grausame Lust an der subtilen Schilderung von Grausamkeiten?

Bis in die Neuzeit lag ein Fluch auf dem Verhältnis von Frau und Mann. Er störte, manchmal zerstörte jede Sexualität, sprach sozusagen jede „Lust“ schuldig. Überhöhte den Mann und erniedrigte die Frau. Die Frau war schuldig, reizte den Mann mit ihrer Schamlosigkeit, sollte erst ihre Haare, dann ihr Gesicht verdecken, auch die Beine bis zum Boden. Erst verdecken, dann ganz verstecken – bis hin zum Verbrennen als Hexe. Die Frau war Trägerin der Erbsünde und damit verantwortlich für all das Übel. Ekelerregend, was im Namen der Kirche, der Moral, der Wahrheit und der Macht Schreckliches angerichtet wurde.  

Wohl sind die Gerichtsdarstellungen – wie die von Hieronymus Bosch – überzeichnet, dennoch spiegelt sich in diesen 911 Editorial Weltgerichtsbildern die Angst der Mächtigen vor Veränderungen wider. Wenn ich von der Kanzel in dieser einzigartigen Kirche auf das gegenüberliegende Wandbild blicke, dann ist mir, ob Frau oder Mann, dieser Mensch mit dem brennenden Feuer zwischen den Beinen, unter dem „Ketzer“ steht, am nächsten. Vielleicht hat sie, hat er wie ich heute gesagt: „Ich schäme mich des Evangeliums nicht!“ (Röm 1,16) Nur dass sein oder ihr Evangelium, seine oder ihre Vorstellung von „unten“ und „oben“ nicht in die kleinen Karos ihrer oder seiner Zeit passte. So wie es meinem „Privatketzer“ Girolamo Savonarola ging (s. „Besonderer Gottesdienst“). Hängen und Verbrennen, das reichte den von den Medici und ihrem Papst aufgeputschten Stadtoberen in Florenz nicht. Alle Überreste landeten mit den Fäkalien im Arno. Vom 15. bis zum 18. Jh. brachten die Medici Großherzöge der Toskana, drei Päpste und zwei Königinnen von Frankreich hervor.

Ab und zu dürfen Menschen in Visionen, in Offenbarungen oder Träumen, Gottes Herrlichkeit begegnen in einer „Welt, die einen Schritt weiter ist als die Welt jetzt“. Elisabeth Borchers schreibt unter dem Titel „Zukünftiges“:

„Als alles vorbei war Krieg und Frieden Mann und Frau Form und Inhalt Als die Sonne auf und untergegangen war samt Mond und Stern und den Musikalien des Himmels und der Erde Setzten wir uns und warteten auf das was kommt.“

Die Lyrik reimt sich nicht mehr. Es gibt keinen Reim auf Auschwitz, Bergen-Belsen, auf Butscha oder Sjewerodonezk. Die Gedichte gehen nicht mehr auf. Die Gedichte lassen offen … Es ist Zeit, sich schamlos zu schämen, laut, widerborstig. Grund, das Evangelium unverschämt, ketzerisch und laut zu sagen. Die gegenwärtige Gleichgültigkeit hat ein dickes Fell. Ich habe mir aus Messing – nicht größer als ein halber kleiner Finger – die drei berühmten Affen (nichts hören, nichts sehen, nichts sagen) gekauft. Sie stehen jetzt als Mahnung vor meinem Arbeitsbildschirm … Daneben die immer offene Bibel.

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