Wandern - von einem Jahr zum andern

Ich glaube, es hätte einen Proteststurm oder eine „Sitz-Blockade“ oder irgendeine andere Schelt-Aktion gegeben, hätte unser geschätzter Dorfpfarrer damals vor Jahrzehnten nicht zu Silvester und Neujahr Paul Gerhardts Lied „Nun lasst uns gehen und treten mit Singen und mit Beten …“ anstimmen lassen. So gewiss „O du fröhliche“ an Weihnachten, so gewiss gehörte das heutige Lied EG 58 zum Jahreswechsel.
Ob es das damalige Lebensgefühl aufnahm?
„Wir gehn dahin und wandern von einem Jahr zum andern,
wir leben und gedeihen vom alten bis zum neuen
durch so viel Angst und Plagen, durch Zittern und durch Zagen,
durch Krieg und große Schrecken, die alle Welt bedecken. …
Sprich deinen milden Segen zu allen unsern Wegen,
lass Großen und auch Kleinen die Gnadensonne scheinen.“
Ulrich Knellwolf (siehe PASTORALBLÄTTER 10/2021; Editorial und Buchtipp) hat mir einen im Schweizer Gesangbuch als Vers 10 abgedruckten zusätzlichen Vers geschrieben:
„Schließ zu die Jammerpforten und lass an allen Orten
auf so viel Blutvergießen die Friedensströme fließen.“

Je mehr ich diesen Gedanken aus dem Jahr 1653 nachsinne, umso deutlicher spüre ich ihre Aktualität nach dem elenden Jahr 2021. Es ist anderes Elend als damals, nicht allein fokussiert auf Europa:
Wir näherten uns schon Anfang September des letzten Jahres der Zahl von fünf Millionen an und mit Corona Verstorbenen. Insgesamt 359 Konflikte führte das Heidelberger Institut für Konfliktforschung für das Jahr 2020 auf, wovon 60 Prozent, nämlich 220 Konflikte, mit Gewalt ausgetragen wurden. Die Zahl der Kriege stieg weltweit von 15 auf 21, was den höchsten Anstieg in den letzten sechs Jahren darstellt. Die absolute Zahl der Hunger leidenden Menschen steigt seit 2014. Weltweit leiden 690 Millionen Menschen an Hunger. Ende 2020 lag die Zahl der Menschen, die aufgrund von Verfolgung, Konflikten, Gewalt und Menschenrechtsverletzungen weltweit auf der Flucht waren, bei 82,4 Millionen.
Fünf Jahre nach Ende des 30-jährigen Krieges bittet Paul Gerhardt:
„Schließ zu die Jammerpforten und lass an allen Orten
auf so viel Blutvergießen die Friedensströme fließen.“

Ulrich Knellwolf hat mir seine Predigt zum 1. August, der Schweizer jährlichen Bundesfeier, geschickt. Sie hat mich an Josua 24 und nicht anders an unsere Jahresschluss- und Neujahrsgottesdienste erinnert.

Zu Anfang des Gottesdienstes weist er auf die Begrifflichkeit hin: „Ich sage ,Bundesfeiertag‘ und nicht ,Nationalfeiertag‘. Der Begriff ,Nation‘ kommt vom lateinischen Wort ,natio‘, das ,Geburt‘, ,Volksstamm‘, ,Art‘ heißt. Nation behauptet also, wir kämen alle vom selben Stamm und seien darum von derselben Art. Das stimmt für die Schweiz gerade nicht. Die Eidgenossenschaft ist ein Bund verschiedener Stämme und Arten. Da sind Berner und Bündner und Tessiner und Waadtländer und viele andere unterschiedliche Stämme miteinander in einem Bund beisammen. Nationen, das sind bei uns allenfalls die Kantone.
Das Wort ,Bund‘ ist mir schon darum sympathischer als ,Nation‘, weil Bund ein biblischer Begriff ist, Nation nicht.
Für unser Land Sorge zu tragen heißt nicht, es in den Himmel zu heben. Es ist nicht, noch lange nicht, die vollkommene Schöpfung, die werden soll und zu der wir auf dem Weg sind. Aber es ist eine vorübergehende Unterkunft, und die hinterlässt man den später Ankommenden nicht wie einen Schweinestall. Auch nicht wie ein Gefängnis, sondern zumindest nicht schlechter und möglichst freier, als man sie angetreten hat.
Die Coronapandemie verlangt uns da einiges ab an Toleranz, Fingerspitzengefühl, Anstand und Vernunft. In der Schweiz sind die Bürgerinnen und Bürger die ersten Hüter der Freiheit. Ich begreife, dass es Leute gibt, die sich angesichts der vermehrten Kompetenzen des Bundesrates und der Kantonsregierungen Sorgen machen. Daran ist die Politik selbst schuld. Nach dem Zweiten Weltkrieg ist es in der Schweiz lange versäumt worden, dem Volk die Rechte ganz zurückzugeben, die während des Kriegs eingeschränkt werden mussten. Solche Erfahrungen klingen lange nach.
Aber wer wegen solcher Sorgen die Verhältnisse und den Anstand aus den Augen verliert und, wie geschehen, dem Bundesrat einen ,vernichtenden Krieg gegen die eigene Bevölkerung‘ vorwirft, der ist entweder ein Brandstifter oder hat nicht alle Tassen im Schrank. Und wer sich ,Freund der Verfassung‘ nennt und die Maskentragpflicht in einer Pandemie unerträglich findet, ist vermutlich zwar der absolute Freund seiner selbst, hat aber den Zweck einer Verfassung und den Kern politischer Freiheit nicht begriffen.
Damit sage ich nicht, wir hätten die ideale Regierung. Wer die haben will, ist nicht bei Trost. Wer unserer Regierung aber Verbrechen gegen die Bevölkerung vorwirft, der soll doch versuchsweise mal in Syrien Wohnsitz nehmen oder in Weißrussland oder in Burma oder in Kuba. Dort führen die Regierungen einen Vernichtungskrieg gegen die eigene Bevölkerung.

Wir haben Grund, für die komfortable Karawanserei an unserem Weg dankbar zu sein. Aber wir sollen sie nicht mit dem Gelobten Land verwechseln und meinen, hier könnten wir uns endgültig niederlassen, die Schuhe ausziehen und den Wanderstab ins Brockenhaus bringen. Und auch die Wanderkarte sollen wir behalten – wir brauchen sie noch, denn die Wanderung geht weiter. Wer das weiß, der kämpft nicht mit Schaum vor dem Mund für das, was er für richtig hält. Sondern mit der Toleranz, die nicht so tut, als gehe es um den Himmel auf Erden.
Der nämlich – der Himmel auf Erden – ist erst im Kommen und ist nicht unser Werk, sondern das des Schöpfers. Auf der Wanderkarte dorthin ist das Ziel, die vollendete Schöpfung, deutlich markiert. Der Weg dorthin steht weniger fest. Er wird uns vermutlich noch durch etliche Wüsten und Pandemien führen. Aber wir zählen unterwegs auf das Manna am Morgen und die Wachteln am Abend. Und darauf, dass unser Gott Trinkwasser sogar aus dem Felsen sprudeln lassen kann.“

Ich danke dem Schweizer Kollegen für diese Worte. Weil ich glaube, dass sie auch für Deutschland gelten, habe ich sie abgedruckt. Wie ich mich im Übrigen sehr freue, dass unsere PASTORALBLÄTTER auch in der Schweiz und Österreich gelesen und geschätzt werden.

Kurz zu den PASTORALBLÄTTERN im Jahr 2022:
Es bleiben neben den Perikopen- und Alternativgottesdiensten auch (ebenso nach Corona) die von vielen Leserinnen und Lesern gelobten „Kurzpredigten“ zu den Perikopentexten, auch wenn sie den monatlichen Umfang in gottesdienstreichen Monaten ganz erheblich erweitern. Es bleibt das mit dieser Ausgabe geänderte Innenformat.
Es bleiben alle bisherigen Rubriken. Hinzu kommt am Ende des Heftes eine kurze Ankündigung der Schwerpunkte der nächsten Ausgabe.
Als „Besondere Gottesdienste“ habe ich mich für 2022 für kirchliche „Aussteiger“, „Umsteiger“ (wäre der Begriff nicht so abseitig ideologisch behaftet, hätte ich „Querdenker“ gesagt) entschieden.

Januar: Wüstenvater Antonius
Februar: Hildegard von Bingen
März: Origenes
April: Teresa von Avila
Mai: Abaelard & Heloise
Juni: Mechthild von Magdeburg
Juli/August: Bruder Klaus von Flüe
September: Elisabeth von Thüringen
Oktober: Klara von Assisi
November: Girolamo Savonarola
Dezember: Franz von Assisi

Ihnen allen – wo immer Sie die PASTORALBLÄTTER lesen und Ihrer „Karawanserei“ auf Zeit wichtige Dienste tun – ein gesegnetes Jahr 2022.

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