Erlebt – erlebbar

Kein Wort war wirklich erlebt. Und deshalb war kein Wort wirklich erlebbar“, schreibt Hansjörg Schneider in einem seiner lesenswerten Schweizer Hunkeler-Krimis über einen Schauspieler auf der Theaterbühne in Basel. „Die Folge davon war gähnende Langeweile.“ – „Oswald Gemperle war ja nicht schlecht. Aber ein bisschen zu akademisch.“

Kann ich die Passion Jesu „wirklich“ erleben, um sie in einem Gottesdienst predigend „erlebbar“ zu machen? Ich bin ja kein Schauspieler, aber doch „Zeuge“, der erlebbar erzählen, überzeugen und einladen will. Muss ich also selbst „Passionen“ durchlebt haben, um erlebbar von der Passion Jesu zu erzählen?
Peter Sloterdijk schreibt in seinem neuen Buch „Den Himmel zum Sprechen bringen, Berlin 2020“: „Bezeichnenderweise wies Ignatius von Loyola seine Praktikanden bei den exercitia spiritualia (zwischen 1522 und 1524 fixiert) an, namentlich in der dritten Woche das Mitsterben an der Seite des Herrn einzuüben; was klingt, als ob Christen sich dafür qualifizieren sollten, das Sterben vom Müssen ins Können, sogar ins Wollen zu übersetzen, die Auferstehung des ersten Siegers über den Tod vor Augen.“ (S. 30)
Nun können wir Tag für Tag nolens volens Passionen weltweit verfolgen: Hungerpassionen, Kriegspassionen, Folterpassionen, Migrationspassionen, Corona-Passionen. Mehr oder weniger distanziert „erleben“ wir sie auf dem Bildschirm, in Strahlenbunkern, auf Intensivstationen.

Die scheußliche Hinrichtungsmethode von Golgatha mit den drei Gekreuzigten war ja kein singuläres Ereignis, hatte „Zuschauerinnen und Zuschauer“, an der Via Appia gar „Passanten“:
Die Kreuzigung war ... eine politische Strafe zur Sicherung und Aufrechterhaltung der Pax Romana nach innen und außen. Julius Caesar ließ etwa 30 Seeräuber, die ihn 76 v. Chr. auf einer Seereise überfallen hatten, später kreuzigen. Nach der endgültigen Niederlage des aufständischen Sklavenheerführers Spartacus 71 v. Chr. wurden um die 6.000 seiner Anhänger entlang der Via Appia von Rom bis Capua gekreuzigt. Seither verbreitete sich die Kreuzigung auch als Strafe gegen Nichtrömer.“
(https://de.wikipedia.org/wiki/Kreuzigung#Römisches_Reich, 27.10.20)

Schon der Vorgänger des von Lukas in der Weihnachtsgeschichte genannten ‚Landpflegers in Syrien‘, Quirinius, der als Kommandeur der römischen Orientarmee der Vorgesetzte der Präfekten Judäas war, hatte 2000 Juden ans Kreuz schlagen lassen, weil sie ihrer Unzufriedenheit allzu freien Lauf gelassen hatten.“
(https://www.welt.de/geschichte/article127071742/Kreuzigung-Was-sie-in-der-Welt-Jesu-bedeutete.html, 27.10.20)

Zurück zu Hansjörg Schneider: „Kein Wort war wirklich erlebt. Und deshalb war kein Wort wirklich erlebbar.“
Wir sind auch heute Zuschauer von unzähligen Passionen, Passanten unzähliger brutalster Zerstörungen und Vernichtungen. Aber – „erleben“ wir diese Passionen „wirklich“? Oder erleben wir sie eher „akademisch“, um die Unterscheidung von Hansjörg Schneider aufzunehmen?

Ich wollte Sie als Leserinnen und Leser an meiner eigenen begrenzten Nachdenklichkeit beteiligen. Regt sich in Ihnen Widerspruch, dann ist es gut. Regen sich in Ihnen eher meinen Fragen zustimmende Gedanken, dann ist es auch gut. Der Gedanke der „Stellvertretung“, das „Thema“ der März-Ausgabe der PASTORALBLÄTTER, ist viel zu „wirklich“, als dass wir das Nachdenken darüber nur „akademisch“ gestalten sollten.
Die Frage bleibt: Wie können wir Passionen, die wir über die Medien bis in die Nachbarschaft hinein beobachten, so „erleben“, dass wir uns ihnen stellen in der Überzeugung: Spätestens nach der einen Passion, dem einen Kreuz auf Golgatha, muss keine mehr sein! Wie können wir Jesu Passion so nacherzählen und bezeugen, dass sie nicht nur akademisch verständlich, sondern glaubwürdig (gar befreiend) „erlebbar“ wird?

Auf welche „hybride“ Weise wir im März Gottesdienste, Andachten, Konzerte, Gemeindekreise, Besuchsdienste und Kasualien gestalten werden, bleibt vorerst offen. Ich wünsche den Leserinnen und Lesern der ­PASTORALBLÄTTER eine gesegnete Passionszeit.

Gerhard Engelsberger

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