Liedpredigt: „Der Tag ist nicht mehr fern“ – Ansprache zu EG 16 – Die Nacht ist vorgedrungen

Und das tut, weil ihr die Zeit erkennt, nämlich dass die Stunde da ist, aufzustehen vom Schlaf, denn unser Heil ist jetzt näher als zu der Zeit, da wir gläubig wurden. Die Nacht ist vorgerückt, der Tag aber nahe herbeigekommen. So lasst uns ablegen die Werke der Finsternis und anlegen die Waffen des Lichts. (Römer 13,11–12)

Die alte Frau
Den ganzen Tag schon ist sie auf den Beinen. Sie hat sich am Morgen einen Plan gemacht: Zuerst zum Arzt, danach noch eine neue Bluse kaufen. Sie wird sie vermutlich nicht tragen, aber alles ist besser, als zu Hause zu sitzen. Dann musste sie noch ein Brot kaufen, das sie ganz allein niemals aufessen wird. Zum Schluss ist sie noch von Schaufenster zu Schaufenster gelaufen, seit gestern hat sich nicht viel verändert. Es wird Abend, dunkel ist es schon lange. Gestern erst ist die Adventsbeleuchtung der Straße angeknipst worden. Ihr ist kalt und die Beine tun weh. Sie wird sich aber nicht allein in ein Cafe setzen. Man sieht ihr doch an, dass sie alleine nur halb ist. Selbst schuld, selbst schuld, selbst schuld.
Jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Doch schnell nach Hause? Mitten in der Häuserzeile steht die alte Kirche, schwarz in der Dunkelheit. Über den Aufsteller „Offene Kirche“ stolpert sie fast. Den sollten sie aber wegräumen bei dem Wetter. Direkt vor ihr geht die große Tür auf, Menschen schlüpfen heraus. Nur einen Moment, denkt sie vielleicht. Vielleicht denkt sie aber auch gar nichts weiter und schlüpft einfach so hinein. Es ist ganz leise hier drin, obwohl sie nicht allein ist. Sie kann die anderen Menschen nicht sehen, hört aber hier und da ein Räuspern, ein Flüstern, ein Gebet vielleicht? Sie setzt sich in eine der Kirchenbänke und merkt in dem Moment, wie erschöpft sie wirklich ist. Langsam gewöhnen sich ihre Augen an das Dunkel. Hier und da brennt ein kleines Licht, neben dem Altar gibt es einen Kranz. Zwei Kerzen brennen und geben dem Blick Halt. In das Dunkel mischen sich Töne. Leise, wie aus Rücksicht auf die, die im Dunklen sitzen. Kein ganzes Lied ist es. Einer übt. Trotzdem erkennt sie eine Zeile, zwei. Ihr Mann war für diese Kirchenkonzerte. Sie ist ihm zuliebe immer mal mitgegangen. Daher kennt sie die Melodie. Sie summt mit.

Orgel intoniert EG 16

Der junge Mann
Er sitzt gerne hier in der dunklen Kirche. Vor zwei Wochen war er zum ersten Mal hier, da hat es noch Überwindung gekostet. Schon von außen hat er die Ruhe innen gesehen, die hat ihn gezogen. Und die Menschen, die ganz selbstverständlich aus und ein gingen. Seine Mutter dürfte das nicht wissen. Aber sie wird es ja auch nicht mehr erfahren. Seitdem ist er jeden Tag hierhergekommen. Es ist warm hier und dunkel, er fällt nicht auf. Aber das tut er ohnehin nicht, es sieht ihn ja niemand an. Das ist auch gut, er kann sich ja selbst kaum ansehen. Er hat so viel falsch gemacht. Er hätte nicht gehen sollen, sondern bleiben, wo er zu Hause war. Es ist ruhig hier. Viel leiser als in dem Heim, in dem er seit einem Jahr lebt. Dort teilt er sich ein Zimmer mit einem anderen jungen Mann und Küche und Bad gleich mit zehn anderen. Das geht, und eigentlich verstehen sich alle. Aber so richtig Ruhe haben kann er da nicht. Und er muss doch mal Ruhe haben, endlich Ruhe haben! Hier kann er sitzen, denken, planen, abschweifen und wieder ein paar Schritte weiterdenken. Manchmal sitzt er auch nur und guckt ins Dunkle und sieht die paar Menschen an, die vor ihm oder neben ihm in den Bänken sitzen oder am Pfeiler lehnen. Irgendwer ist immer da und denkt und schweift ab und hat Ruhe. Vorn brennen zwei Kerzen auf dem Kranz. Der ist ihm in den letzten Tagen öfter begegnet: Im Büro des Heimleiters steht einer und auch auf dem Schreibtisch der Sekretärin der Sprachschule. Aber richtig gesehen hat er sie nicht. Hier, im Dunkeln hat der Lichtschein ganz eigene Kraft. Leise Töne sind zu hören. Der Musiker übt wieder. In die Töne mischt sich die Stimme der Frau vor ihm. Sie summt. Irgendwann hat er die Folge der Töne nicht nur im Ohr, sondern auf der Zunge. Er summt.

Orgel intoniert EG 16

Jochen Klepper
Dezember 1937. Der Theologe und Journalist Jochen Klepper ist seit 1931 mit Hanni verheiratet. „Mischehe“ sagen sie, und man weiß nicht, wie es noch weitergehen wird. Viel Dunkel ist um ihn und viele Menschen in dieser Zeit. Es war ganz gebrochene Weihnachtsstimmung. Trotzdem hatte sie Kraft, ein Licht in ihm anzuzünden. Er schrieb ein Gedicht. Wir singen davon:

EG 16,1–3 singen

Die alte Frau
Langsam haben sich ihre Augen an die Finsternis gewöhnt. Der kleine Schein der zwei Kerzen reicht bald, um weiter zu sehen. Da sitzt noch ein Mensch. Einer lehnt am Pfeiler da hinten. Und da, noch zwei, ganz eng zusammen. Plötzlich summt es auch in ihrem Rücken. Sie dreht sich um. Hinter ihr sitzt ein junger Mann. „Der ist nicht von hier“, denkt sie noch, aber auch gleich, dass die Tochter schimpfen würde über so viel Vorurteil. Da muss sie lächeln. Die ist eine Gute, die Kleine, die nun selbst schon Mutter ist. Wird sie später gleich mal anrufen. Jetzt guckt er. Das Lächeln, das sie ohnehin noch auf den Lippen hat, findet ein Ziel.

Der junge Mann
Die Frau vor ihm dreht sich um und sieht ihn an. Da merkt er, dass er die Melodie gesummt hat. Jetzt sitzt er hier in einer dunklen Kirche und summt eine Melodie mit einer fremden Frau. Die lächelt ihn an. Er lächelt zurück. Was sonst sollte er antworten?

EG 16,4–5 singen

Gebet:
Gott, im Dunklen sind wir allein mit uns,
mit unseren Sorgen,
mit unseren Ängsten,
mit unserer Schuld.
Gott, im Dunkeln bist du,
bei unseren Sorgen,
bei unseren Ängsten,
bei unserer Schuld.
Bei dir bleibt es nicht dunkel.
Wir wünschen uns Mut,
uns in deinem Licht zu sehen.

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