Ein kleines Licht

Zu meinen bleibenden Kindheitserinnerungen gehören grüne Kerzen. Es muss Anfang der 50er-Jahre gewesen sein. Ich weiß nicht, von wem die Aktion ausging, ob Kirche oder Bund oder Rotes Kreuz. Ich weiß nur noch, dass auch meine Eltern mitmachten.
In den Häusern unserer Straßen, in allen Häu­sern unseres Dorfes stand hinter einem Fen­ster in jeder Wohnung eine grüne Kerze und brannte. Ein stilles Gedenken, ein winzig kleiner Hoffnungsschimmer für die damals noch gefangenen und vermissten Männer. Und später galt dieses Zeichen den Menschen in der DDR, in der damaligen „Ostzone“. In jedem Haus ein Licht. Zeichen für die nach und nach heimkom­menden Männer: Wir denken an euch, wir beten für euch, wir warten auf euch. In jedem Haus brennt ein Licht.
Auf mich hat das einen nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Damals, so schien mir, waren sich alle wenigstens in ei­ner Sache einig. Die Not hatte eine Gemein­schaft geschaffen, die auch ein Kind spürte.
Fällt es schwer, sich in die damalige Zeit zurückzuerinnern? An den Scherbenhaufen da­mals, an die Ruinenstädte, an die vielen schweigenden Menschen, denen die großen Worte und die lauten Töne spätestens nach Jahren im Hals stecken blieben, als das Ausmaß der Schuld, das Ausmaß der Zerstörung und das Ausmaß des Leides in allen Völkern erst nach und nach ins Bewusstsein rückte. Aus vielerlei Gründen war das eine viel leisere, zurückhaltendere, schweigsamere Zeit, gerade um Ad­vent, Weihnachten und Jahreswende herum. In jedem Haus ein Licht – nicht ein einziges würde heute auffallen. Die kleinen Hoffnungszeichen haben es schwer.

Ich stelle mir unsere Amtsbrüder vor, die da­mals in den Lagern einfache, aber wichtige Gottesdienste hielten, mit nichts in den Hän­den als der Bibel. Mit keiner ande­ren guten Nachricht als mit dieser: Jesus der Christus ist geboren, allem Volk zum Heil. Damit Zerrissenes wieder ganz und Zerbro­chenes wiederaufgerichtet werde, damit Ge­trennte zueinander fänden und aus Feinden Freunde werden. Damit nicht der Tod das letzte Wort behält über Massengräbern und Ruinen.
Es ist eine gute Praxis, zum Gedenken ein Licht anzuzünden. Das mag das Osterlicht sein, das die Auferstehungsbotschaft weitererzählt, die grüne Kerze damals, die über unüberwindbare Grenzen hinweg Hoffnung ausstrahlten, oder die Advents- und Weihnachtslichter, die das Kommen und die Geburt Jesu Christi verkündigen.
Unsere Wieslocher Christuskirche war an Heiligabend erst dunkel, dann zündeten wir Kerzen an für die Nachbargemeinden, für bestimmte Gruppen, für die, denen unsere Brot-für-die-Welt-Aktion galt u. a. Dann wurden alle Kerzen in der Kirche entzündet. Mehr und mehr wurde es hell.
Ich überlegte mir immer, wie das wäre, wenn über unseren Häusern und wo immer auch in unserem Land ein Licht aufginge wie damals über der Hütte in Bethlehem, damit die, die suchen, eine Orien­tierung haben. Hier ist ein Licht, hier bist du willkommen. Wir denken an dich, wir beten für dich, wir warten auf dich.

Es kann nicht unser Licht sein. Das ver­braucht sich zu schnell. Wir kennen uns gut genug. Es soll ein Zeichen sein: Hier wohnen Chri­sten, die dem Christus ihr Leben und so vieles verdanken, und die das nicht vergessen haben.

Gott hat in uns ein Licht angezündet, als uns die Eltern oder wer auch immer von Jesus Christus erzählten. Und der Heilige Abend war dabei für jeden von uns eine wichtige Sta­tion. Jeder von uns ist so eine kleine, grüne Kerze im Fenster unserer Stadt, in unserem Dorf. Ein lebendi­ges Zeichen. Ich wünsche mir, dass jeder, der kommt, über irgendeinem Haus ein Licht sieht und spürt: Hier bin ich willkommen.
Wir stehen ja nicht einfach da und brennen aus uns selbst. Wenn von uns ein Hoffnungs­schimmer ausgeht, dann weil Gott uns die Mög­lichkeit dazu gibt.
Wir sind Jahr auf Jahr betroffen von diesem Geschehen um die Geburt Jesu. Jahr für Jahr leben wir – mehr oder weniger bewusst – auf diesen Abend, auf diese Nacht hin. Und wenn die Familien­feier auch wie oft schon nicht gehalten hat, was wir uns davon versprochen haben, trotz­dem: Der Heilige Abend ist der eigentliche Zielpunkt unseres Jahreslaufes.
Es ist die Nacht, in der ein kleiner Licht­strahl auf das große Geheimnis des Lebens, auf das große Geheimnis Gottes fällt. Ein Kind wird geboren, Gott wohnt unter uns. Aufs Neue ist uns gesagt: Unser Leben hat einen Absender und ein Ziel. Ich freue mich über jeden Tag, den ich leben darf aus diesem Licht. Und ich will meine Freude teilen mit anderen. Gott sei Dank für seinen Sohn. Ehre sei Gott in der Höhe – und auf Erden: Frieden.

Mit einem bis zum Rand gefüllten adventlich-weihnachtlichen Ideen- und Beitrags-Korb wünsche ich den Leserinnen und Lesern der PASTORALBLÄTTER, allen Kolleginnen und Kollegen von Herzen gesegnete Advents-, Weihnachts- und Jahreswenden-Dienste, in der Hoffnung, Sie spüren, wie wesentlich es ist, als „kleines Licht“ Lichtträger des einen großen Lichtes zu sein nach 2. Kor 4,6: „Gott, der da sprach: Licht soll aus der Finsternis hervorleuchten, der hat einen hellen Schein in unsre Herzen gegeben, dass die Erleuchtung entstünde zur Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes in dem Angesicht Jesu Christi.“

Gerhard Engelsberger

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