Ruf uns aus den Toten – (Holz auf Jesu Schulter, Kasualrede zu EG 97)

„Was für eine Welt könnten wir bauen, wenn wir die Kräfte, die ein Krieg entfesselt, für den Aufbau einsetzten; ein Zehntel der Energie, ein Bruchteil des Geldes wäre hinreichend, um den Menschen aller Länder zu einem menschenwürdigen Leben zu verhelfen.“
Dieser Satz stammt von Albert Einstein. Und er zeigt das Dilemma an, in dem wir stecken. Wenn wir Zeitung lesen, Nachrichten schauen oder im Internet unterwegs sind, dann begegnen uns die Toten auf Schritt und Tritt. Die Bilder von den ans Land gespülten ertrunkenen Flüchtlingen werden wir nie mehr los, ebenso wenig die Fotos der abgestürzten Flugzeuge, die in unzählige Teile zerbrachen. Auch die Bilder von hungernden Kindern, von leidenden und sterbenden Menschen oder Tieren berühren uns. Es gibt Menschen, die alt und lebenssatt sterben; damit kann man umgehen. Aber etliche verlieren ihr Leben, weil die Welt ungerecht ist, weil Menschen Lebensräume zerstören und Kriege führen und in Kauf nehmen, dass viele dabei umkommen. Das ist schwer zu ertragen. Es ist so, wie das Lied sagt: „Denn die Erde klagt uns an bei Tag und Nacht.“ All die Toten, die auf Erden unschuldig sterben, schreien und klagen, sodass in diesem Lied alles immer wieder in den Ruf nach Erbarmen mündet: „Kyrie eleison, sieh, wohin wir gehn. Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehn.“ (Diesen Kehrvers mutig singen in der Predigt)

Das moderne Passionslied „Holz auf Jesu Schulter“, das der Theologe Jürgen Henkys 1975 aus dem Niederländischen ins Deutsche übersetzt hat (im Niederländischen heißt das Lied „Met de boom des levens“, gedichtet 1963 von Willem Bernard. Die Melodie komponierte 1964 Ignace de Sutter), hat diese vom Tod geprägte Welt vor Augen. Es ist ein modernes Lied, mit einer klaren, bilderreichen Sprache und mit bedrängenden Worten. Das Lied wühlt auf und bleibt haften, genauso wie die Bilder der Toten. Der Kehrvers richtet sich betend an Gott. Durch die Wiederholung prägt er sich ein, und man wird ihn kaum noch los: „Kyrie eleison, sieh, wohin wir gehn. Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehn.“ Oft singen wir diesen Kyrieruf in der Osternacht, an der Grenze von Tod und neuem Leben. Wir wollen doch weg von den Toten, wir wollen leben, wollen auferstehn! Dieses Lied ist eine christliche Melodie gegen alle Resignation, die angesichts der bedrohten Erde auch möglich wäre. Denn diese Welt kann uns zum Verzweifeln bringen. Wir haben den Eindruck, die Erde jage uns auf einen Abgrund zu, aber zum Verzagen haben wir trotzdem keinen Grund. Warum? Wir sehen auf Jesu Weg, auf sein Kreuz. Das Kreuz wird schlicht als „Holz auf Jesu Schulter, von der Welt verflucht“ bezeichnet. Für die Welt ist dieser barbarische Tod am Kreuz durch die Römer voller Schmach. Am Kreuz zu sterben, das weiß auch die Schrift, gilt als Fluch: „Christus aber hat uns erlöst von dem Fluch des Gesetzes, da er zum Fluch wurde für uns; denn es steht geschrieben (5. Mose 21,23): „Verflucht ist jeder, der am Holz hängt“ (Galater 3,13).

Aber Christen haben das Kreuz von Anfang an anders verstanden. Der Theologe Paulus ist der erste große Kreuz-Umdeuter. Im 1. Korintherbrief schreibt er: „Denn das Wort vom Kreuz ist eine Torheit denen, die verloren werden; uns aber, die wir selig werden, ist‘s eine Gotteskraft. Denn es steht geschrieben: „Ich will zunichtemachen die Weisheit der Weisen, und den Verstand der Verständigen will ich verwerfen.“ Wo sind die Klugen? Wo sind die Schriftgelehrten? Wo sind die Weisen dieser Welt? Hat nicht Gott die Weisheit der Welt zur Torheit gemacht? Denn weil die Welt, umgeben von der Weisheit Gottes, Gott durch ihre Weisheit nicht erkannte, gefiel es Gott wohl, durch die Torheit der Predigt selig zu machen, die daran glauben. Denn die Juden fordern Zeichen und die Griechen fragen nach Weisheit, wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit; denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christus als Gottes Kraft und Gottes Weisheit.“ Aus der Torheit des Kreuzes wird, so wie Paulus Jesu Kreuz versteht, eine Weisheit und eine Gotteskraft. Jesu Kreuz wird für uns zum Segen und zum Symbol des Heils. Denn wir sehen darin nicht nur das Folterinstrument der Römer. Wir sehen darin Jesu Weg in den Tod und durch den Tod hindurch zu neuem Leben. Wir blicken auf das Kreuz und erkennen den Heiland, der das alles für uns tut, einen Heiland, der den Weg ins Reich der Toten nicht scheut, der den Fluch auf sich zieht, um uns zu erlösen von Schuld und Tod.

Das Kreuz Jesu bezeichnen Christen deshalb auch als Lebensbaum. Der Baum des Lebens kommt schon im Paradies vor, aber während er dort geheimnisvoll bleibt, wird Jesu Kreuz konkret und sichtbar. Im Kreuz kommt Jesus uns Menschen nah; er teilt das Leiden mit uns. Jesus ist der neue, der wirkliche Lebensbaum. Deshalb wurden in früheren Zeiten Kreuze kunstvoll zu Lebensbäumen umgestaltet. Der Baum des Lebens bringt gute Frucht, er ist von Früchten schwer, weiß das Lied. Das kennt auch die Lebenserfahrung. Wer, wenn nicht die Christen wüssten von diesen Früchten? Was sind diese Früchte? Flüchtlinge und Obdachlose beherbergen, ihnen helfen, zurechtzukommen, Deutschkurse halten. Alte und Kranke pflegen und begleiten, Gefangene besuchen, sich einsetzen für die geschundene Schöpfung und vieles mehr. All das sind Früchte dieses Baumes, Früchte voller Nächstenliebe, die aus dem Glauben an den Lebensbaum Christus erwachsen.
Und ganz ähnlich, wie das Kreuz umgedeutet wird, wechselt die Stimmung in jeder Strophe von Verzweiflung zu Ermutigung, vom Blick in den Abgrund zur himmlischen Perspektive: „Doch der Himmel sagt uns: Alles ist vollbracht ... Doch der Himmel fragt uns: Warum zweifelst du?“
Das Lied will uns mitreißen, weg von Zweifel und Frust, hin zu Mut und Hoffnung. Es geht an gegen die Todeserfahrungen. Es erhebt die Klage, um Gott um Erbarmen zu bitten. Und damit um Veränderung. Das Lied rüttelt beim Singen auf, es macht Mut und lässt uns aufstehn. Denn bei Karfreitag bleiben wir nicht stehen, wir feiern jeden Karfreitag mit dem Blick auf Ostern. Nur so kann man leben in dieser Welt voller Toter: hoffnungsvoll, auf Gott vertrauend. Wissend, dass ein Gott ist, der stark ist, streng und gnädig zugleich. Ein Gott, der Himmel und Erde gemacht hat und kein Werk seiner Hände jemals preisgibt. Und der den Menschen Frieden, Licht und Leben geben kann in dieser vom Tod gezeichneten Welt. Ja, darauf hoffen wir: „Wollen wir Gott bitten, dass auf unserer Fahrt Friede unsere Herzen und die Welt bewahrt.“

Gebet:
Du Gott des Lebens,
schnell lassen wir uns lähmen
von Tod und schlimmen Erfahrungen.
Hör nicht auf, uns aus den Toten zu rufen.
Du Gott voller Erbarmen,
sei uns gnädig auf unserer Lebensfahrt.
Schenk uns Glauben mitten im Zweifeln.
Lass nicht zu, dass wir verzagen.
Du allmächtiger großer Gott,
mach uns stark, wenn wir uns schwach fühlen.
Gib uns Stimmen, die ansingen gegen den Tod.
Schenke uns Worte, die Mut machen.
Du lebendiger Gott,
lass unsere Hände tätig sein im Geiste Jesu,
damit die Welt nicht auf einen Abgrund zuläuft,
sondern lebt und dich lobt.
Dein Kreuz und dein Auferstehen
lassen uns weiter blicken und hoffen.
Kyrie eleison, sieh, wohin wir gehn.
Ruf uns aus den Toten, lass uns auferstehn.

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