Es ist ein festlicher Moment. Alle halten den Atem an. Ein Augenblick wie der, wenn ich mit meiner Braut (oder meinem Bräutigam) feierlich in die überfüllte Kirche einziehe. Vergessen ist alle Entbehrung, vergessen ist das Warten, überwunden ist alles, was wehtut.
Doch der Zeitpunkt ist nicht verabredet, keine Einladung ausgesprochen. Wie von selbst ergibt sich dieser feierliche Moment. In einem Film beginnt dann ganz leise Musik, um uns feierlich zu erheben. Was hier geschieht, das ist bedeutsam. Denn es zieht ein eigenartiger Held vorüber.
„Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld.“ So heißt das Passionslied, das wir heute singen. Es besingt eines der wichtigstes Ereignisse in der Geschichte Gottes mit seiner Schöpfung und einen der innigsten Momente in einem Gottesdienst.
Strophe 1:
Hier geht es um den jämmerlichen Tod Jesu, den feierlichen Tiefpunkt in der Geschichte von Gott und Schöpfung. Der Tod Jesu am Kreuz ist für den christlichen Glauben zentral. Und doch behält sein trauriges Ende einen Widerstand. Da wird einer matt, hat Angst, erleidet Spott und Schläge, nimmt seinen Tod in Kauf. Das wühlt auf, ist kaum zu fassen.
Die erste Strophe unterstreicht das Einverständnis des Lammes. Der Name Jesu wird im ganzen Lied nicht genannt. Und doch ist er es, der es leiden will. Er erträgt alles, geht als Sündenbock und nimmt alle Schuld und Sünde auf sich.
Die Vorstellung findet sich auch im Buch des Propheten Jesaja. Im 53. Kapitel ist die Rede von Gottes Knecht. Er leidet Schmerzen und für alle gilt er als von Gott geschlagen.
Lesung Jesaja 53,5-7.
Bei Jesaja wird der Knecht mit einem Lamm verglichen. Aber dieses Lamm schreit nicht wie ein Tier, das geschlachtet werden soll. Es schweigt wie ein Schaf, das nur geschoren wird. Und während wir ihn für einen halten, den Gott misshandelt, betont Jesaja: Er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsere Schmerzen. Für Jesaja hat das mit Gott zu tun, aber eben ganz anders. Er befreit uns von unseren Sünden und wirft sie auf seinen Knecht. Und dieser Sündenbock trägt sie willig davon wie ein Lamm.
Im Johannesevangelium (Joh 1,29) wird das Lamm mit Jesus identifiziert. Er trägt die schwere Last im Auftrag Gottes. Genauso lenkt Strophe zwei den Blick darauf, wie Gott zum Lamm steht. Sie verweist auf den Auftrag Gottes. „Geh hin!“, sagt Gott zum Lamm. „Geh hin und befreie sie von ihren Strafen. Du kannst sie durch Sterben davon losmachen.“
Strophen 2 und 3:
Die beiden Strophen (2+3) erzählen von einer Verabredung zwischen Schöpfer und Sohn. Gott beauftragt Jesus und offenbart ihm, wie man von Sünden loskommt. „Wenn du stirbst, dann werden alle frei. Und es entgehen der Strafe, die Zorn auf sich gezogen haben.“ Der Sohn antwortet: „Ja, ich will.“
Die beiden Strophen besingen die wundervolle Liebesmacht, die Vater und Sohn diesen verwegenen und für beide schmerzlichen Plan fassen lässt. Dabei spekuliert Paul Gerhardt mit seinem Liedtext wie Anselm von Canterbury, warum Gott Mensch werden musste (cur Deus homs?). Ich mag das nicht. Warum soll ich solche Zwänge annehmen? Warum muss Sünde den Zorn Gottes heraufbeschwören? Warum muss dieser Zorn gestillt werden? Warum muss die gerechte Strafe wenigstens an Gott selbst vollzogen werden?
In der Bibel lese ich etwas anderes. Jesus ist gestorben für sein Vertrauen auf Gott, für seine Überzeugung als Gesalbter, für seine Jünger, für mich. Sein Leiden, sein Tod und seine Reise durch den Tod haben für alle Frucht gebracht, die an ihn glauben. Ich weiß, dass Jesus gestorben ist. Weiß, sein Tod ist nicht sinnlos. Weiß, er lebt. Das reicht mir. Alles Spekulieren, warum das so kommen musste, hilft nicht weiter. Es bleibt die Frage: Warum lässt Gott so etwas zu? Warum ist er nicht eingeschritten?
Diese quälende Frage ist wie eine offene Wunde. Aber so seltsam das klingt, sie tröstet mich, wenn ich so fragen will. Und sie schreit danach, offen zu bleiben, nicht zu verheilen. Eine theologische Antwort darauf wäre wie ein billiges Pflaster und würde meinen Fragen keine Heilung verschaffen. Antworten wie: „Er musste halt“, „Er konnte nicht“, „Er wollte nicht“ wären keine Antworten. Was Jesus im Garten Gethsemane oder vor Anbeginn der Welt mit Gott gesprochen hat, wer weiß.
Das Lied rührt die Frage an: Wie kann ich ein neuer Mensch werden? Wie kann ich etwas loswerden, was zu mir gehört? Einen Hang zu etwas, was mir oder anderen schadet. Etwas, was mich von Gott trennt. Sünde kann man nicht einfach abschütteln. Auch kann ich mich aus eigener Kraft nicht einfach ändern. Dazu braucht es die Hilfe eines Stärkeren. Einen, der etwas wagt, was uns unmöglich ist.
Jesu Tod am Kreuz ist für mich durch die Auferweckung ein starker Befreiungsschlag Gottes. Auch dann, wenn nicht darüber spekuliert wird, nach welchen Regeln Gott handelt. Er ist und bleibt der Starke, der Dinge ändern kann, vor denen wir allein kapitulieren.
Von den ursprünglich zehn Strophen ist in den ersten vier Strophen das Lamm mit den Leiden Christi verbunden. Es folgen zwei Strophen, die wie ein Gebet anmuten. In ihnen verbinden sich Jesu Leiden auf besondere Weise mit seinem letzten Mahl.
Strophen 4 bis 6:
„Beständiglich“, für immer will ich dein Eigentum bleiben. So formuliert Paul Gerhardt. Seinen Willen legt er allen in den Mund, die mit seinen Worten singen. Gott will er nicht vergessen. Er soll sein Herz sein. Auf ihn will er schauen und sich an ihm orientieren, von seiner Lieblichkeit singen.
Und wenn nichts mehr schmeckt, wenn das eigene Leben in Gefahr ist, wenn ich Angst habe, dann soll die innige Verbindung zu Gott schützen, trösten, Speise sein und Durst löschen.
Ab Strophe 6 der Gesangbuchfassung wird das Lamm Gottes und das Tragen der Sünde mit dem Thema Abendmahl verbunden. Wein und Brot stehen für Blut und Leib Christi. Sie sollen Manna sein und Durst löschen. Die innige Verbindung mit Jesus soll das Leben reich machen, als ob ich einen Purpurmantel trage oder eine Krone.
Die bildhafte Sprache vom Blut des Lammes, das Wasserquell sein soll, und von meinem „Bach des Lebens“, der sich Gott „in Dankbarkeit ergießen“ soll, das alles wirkt auf uns fremd. Dabei ist es fast wie ein Blockbuster und Heldenepos.
Das Lied kommt mir wie ein Film vor, der in Bildern von einem heldenhaften Lamm singt. Nur ist das kein Held, der im Blut seiner Feinde watet. Das Blutvergießen, von dem hier gesungen wird und ein für alle Mal geschehen ist, sollen wir zum Leben nutzen. Kein Leben wird sinnlos vernichtet.
In diesem Film schauen die ersten Strophen auf die Anfänge der Heilsgeschichte. Die letzten Strophen stehen plötzlich mit beiden Beinen auf aktuellem Boden. Das Ziel des Liedes ist die Bedeutung Jesu für mein Leben und die mystische Nähe zu Jesus im Abendmahl. Das Lamm ist ein geduldiger Held, nicht Opfer. Es ist ein friedlicher Sündenfeind und Seelenfreund.
Strophe 7:
Und dann ist er gekommen. Der Moment, da alles vergessen sein soll. Alles Leid, so manche Entbehrung, Hunger, Durst und Einsamkeit. Paul Gerhardt hat dabei einen Vers aus der Offenbarung des Johannes im Hinterkopf und malt ein besonderes Abendmahlsbild.
In Offb 19,7 heißt es: „Lasst uns freuen und fröhlich sein und ihm die Ehre geben; denn die Hochzeit des Lammes ist gekommen, und seine Braut hat sich bereitet.“
Paul Gerhardt deutet das Abendmahl als Hochzeit. Jesus als das Lamm schmückt seine Braut mit seinem Blut, mit dem Kostbarsten, was es hat: mit seinem Leben. Es ist Mantel und Krone. So schreitet er mit seiner Braut zum Altar, nachdem alle Schuld davongetragen ist.
Und wer das Lied mitsingt, der singt: „Ich will […] als eine wohlgeschmückte Braut/an deiner Seite stehen.“
Psalmvorschlag: | Psalm 22 |
Evangelium: | Johannes 19,16-30 |
Liedvorschläge: | 90 (Ich grüße dich am Kreuzesstamm) |
| 93 (Nun gehören unsre Herzen) |