Schuld und Liebe

Das geht ganz schnell. Plötzlich hängst du in einer Sache drin und ro­tierst. Vergisst alle guten Vorsätze und denkst nur noch, wie du schnell und ungeschoren aus der Sache rauskommst.
Ich habe einmal alle Illusionen über mich selbst und den guten Kern in mir an einer Stra­ßenkreuzung verloren. Es war noch zu meiner Studentenzeit. Ich fuhr mit meinem er­sten klapprigen VW durch Heidelberg, ein Freund neben mir. Wir unterhielten uns. Wie aus heiterem Himmel war plötzlich ein Motorradfahrer da, knallt vorne an mein Auto, fliegt einige Meter weiter und bleibt regungslos an einem Laternenmast liegen. Meine erste Re­aktion? Ich fragte meinen Freund: „Du, Martin, hab’ ich Vor­fahrt?“

Gut, ich hatte Vorfahrt, aber dass mir das spontan das Wichtigste war, wichtiger als das Befinden des jungen Mannes, der unter meine Räder gekommen war, das hat mir die Il­lusion über mich selbst geraubt. Der Unfall ging einigermaßen glimpflich aus. Aber seit­her bin ich zurückhaltender mit moralischen Urteilen.

Und wenn mir jemand in einem Seelsorgegespräch gegenübersitzt, dann klopfe ich auch bei mir ab. Und meist, wenn er mir seine Fehler klagt, klingt auch in mir eine Saite oder zwei. Sein Fehler ist auch in mir. Zumindest als Möglichkeit.
Das geht ganz schnell. Plötzlich hängst du in was drin. Panik. Wie komm ich da wieder raus.
Ausreden erfinden, Spuren verwischen, Entschuldigungen su­chen. Salopp gesagt: Ich mache ein Konto auf beim Teufel, und der gibt jede Menge Kredit. Bei dem darf ich das Konto überzie­hen. Aber so werde ich meine Schuld nicht los. Das Schuldenkonto wächst und wächst, noch nach 50 Jahren. Der Teufel reibt sich die Hände und gibt immer noch Kredit.

Ohne Gott, so will ich Ihnen das als mitbetroffener Zeitgenosse oder Kollege sagen: Ohne Gott bleibe ich auf meinem teuflischen Konto sitzen. Damit das nicht passiert, schickt Gott seinen Sohn. Er bezahlt. Er tilgt am Kreuz die alte Schuld. Er eröffnet an Ostern ein neues, bereinigtes Konto. Er lacht sich auch nicht ins Fäustchen wie der Teufel. Für seinen Kredit bürgt er mit seinem Le­ben.
Ich weiß nicht, ob man das trainieren kann, in Panik spontan das Rechte tun. Das ist sicherlich schwierig, und da reicht auch nicht ein Crash-Kurs.

Wenn man rechtes Verhalten in Krisen trainieren wollte, dann gäbe es eine Übung, die mir besonders nützlich scheint: Frühzeitig und immer wieder neu mit mir selbst ehrlich sein. Das ist manchmal ganz schön kompliziert. Ich will und soll ja nicht die Selbstachtung verlieren und mich selber runtermachen. Aber ehrlich sein.
Das Davonschleichen ist in mir. Das Lügen ist in mir. Das Spuren-Verwischen ist in mir. Wenn ich ehrlich zu mir bin, kann ich es beherrschen lernen. Dann ist vielleicht kurz der Fluchtwunsch da, dann aber meldet sich meine Verantwortung. Es ist vielleicht Schlimmes geschehen. Je schneller ich mich selbst dem stelle, umso größer ist die Chance, schlimmsten Schaden zu verhindern.
Das gilt für schwierige Ehekrisen nicht anders als für den Unfall oder für den Schaden im Betrieb. Es ist noch kein Elend dadurch kleiner geworden, dass ich mich ihm nicht stelle.

Ich weiß, dass in dieser Rechnung noch ein wichtiger Faktor fehlt: Wer weiß, dass er ohne Vorbehalte geliebt ist, tut sich leichter. Wer Liebe erfährt, wer in gelingenden Beziehungen lebt, hat auch mehr Selbstachtung. Er wird vielleicht nicht weniger Fehler machen. Aber er kann anders mit ihnen umgehen: ehrlicher, heilender.
Liebe ist die Kraft, die dem Teufel die Kundschaft streitig macht.

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