Liedpredigt EG 361: "Befiehl du deine Wege ..."

Wie viele seiner Lieder, so ist auch das wohl bekannteste Lied von Paul Gerhardt ein „Weglied“. Es beginnt mit dem Aufruf, Gott den irdischen Weg anzubefehlen, und endet mit der inneren Gewissheit, dass der Himmel das Ziel aller menschlichen Wege ist.
Auch mir war und ist dieses Lied ein ständiger Wegbegleiter. Weil die einzelnen Strophen - als Akrostichon - jeweils mit einem Wort aus Psalm 37,5 beginnen, lässt es sich wunderbar memorieren.
Wenn ich im Sommer an der Ostsee oder am Bodensee frühmorgens meine Runden im Wasser drehe, dann sage ich mir innerlich die Verse dieses Liedes vor. Ohne auf eine Uhr zu sehen, weiß ich nach zweimaligem Aufsagen, dass ich mein morgendliches „Schwimmsoll“ erfüllt habe und an Leib und Seele gestärkt den Weg zum Frühstück nehmen kann. Auf vielen Wegen ist dieses Lied mein Begleiter. In Zeiten der Trauer tröstet es mich, in Zeiten der Sorge schenkt es mir Zuversicht und in Zeiten der Freude lässt es mich Gott loben. Seit meinen Volksschultagen gehört das Lied zu meinem geistlichen Besitz. Dankbar bin ich dafür meinem längst verstorbenen Religionslehrer, der uns das Lied mit seinen 14 Strophen auswendig lernen ließ. Oft frage ich mich in diesem Zusammenhang, welche Lieder unsere Kinder und Enkel durch die Klippen des Lebens tragen werden. Dazu fällt mir ein Gespräch ein, das ich in diesem Sommer mit einigen unserer Studierenden führte. Nach einem Gottesdienst, in dem - wie ich meinte - moderne Lieder gesungen wurden, sagte einer der jungen Männer, der Gottesdienst hätte ihm nicht gefallen, denn der Liturg hätte nur „alte“ Lieder singen lassen. Auf meinen Hinweis, es hätte sich doch insgesamt um moderne Lieder gehandelt, schüttelte er nur den Kopf und meinte: „Keines dieser Lieder war jünger als 20 Jahre. Das ist für mich alt.“ Als ich ihn dann nach seiner Meinung zu Chorälen wie z. B. „Befiehl du deine Wege“ fragte, da blickte er mich an, als sei ich von einem anderen Stern. Ich war froh, dass nicht alle Studierenden seine Meinung teilten und einige von den Paul Gerhardt-Liedern erzählten, die von der Jazz- und Gospelsängerin Sarah Kaiser mit veränderten Melodien unterlegt wurden. Sarah Kaiser selbst berichtet dazu, sie sei 1999 erstmals dem Weihnachtslied „Ich steh an deiner Krippen hier“ be-gegnet und kurze Zeit später dem Trostlied: „Gib dich zufrieden und sei stille“. Beide Lieder ließen die Großstadtsängerin, die mit Hip-Hop und Jazz aufgewachsen war, aufhorchen. Ja, nicht nur das, sie sah ihr Leben in den Liedern von Paul Gerhardt gespiegelt. Heute bekennt sie von ihnen: Sie haben eine Eigendynamik, die man nicht beschreiben kann, die man einfach erleben muss. Solche Worte lassen hoffen, dass auch junge Menschen einen Zugang zu unseren alten Chorälen gewinnen können.

Möglicherweise bedarf es dafür tatsächlich nur neuer Melodien, neben denen aber auch die uns geläufigen „alten“ noch gesungen werden dürfen.
In Paul Gerhardts Liedern spielt der Weg eine große Rolle. Er selbst ist ein „Wanderer im Glauben“, der durch die Zeit der ewigen Vollendung entgegengeht. Gerade in „Befiehl du deine Wege“ lässt sich das Wegmotiv an vielen Stellen nachweisen. So verwendet der Dichter neben dem fünf Mal gebrauchten Begriff „Weg“ weitere Bezeichnungen, die dem Wortfeld „Weg“ entstammen. Dazu gehören die Substantive „Lauf, Bahn, Gang, Ziel“ und die Verben „gehen, rücken, fahren, führen und tragen“.

Als Wanderer im Glauben führte Paul Gerhardt ein Leben auf Abruf. Voller Unsicherheit, war es geprägt von Bedrohungen und Ängsten, aber auch von Bewahrung, Geführtwerden, Erlebnisfülle und Aufgabenreichtum. Nachfolgend versuche ich das Lied „Befiehl du deine Wege“ aus der Biografie des Dichters heraus zu deuten. Dabei bleibt manche Deutung fiktiv. Dass Paul Gerhardt beim Dichten die hier genannten Wegstationen vor Augen hatte oder sich mit seinem eigenen Lied ermutigte und tröstete, kann ich nur vermuten.
Im Evangelischen Kirchengesangbuch steht unter dem Liedtext die Jahreszahl 1653. Dabei ist ungewiss, ob damit das Entstehungsjahr oder das Jahr der ersten Drucklegung gemeint ist. Es war jedenfalls die Zeit, in der Paul Gerhardt seine erste Pfarr- und Propststelle in Mittenwalde innehatte. Als er diese zwei Jahre zuvor antrat, war er bereits 44 Jahre alt. Bis dahin war er lange Zeit Student und später Hauslehrer in Berlin. Seine eigentliche Profession war schon damals das Dichten. Möglicherweise lag ihm bis dahin überhaupt nichts an einer eigenen Pfarrstelle. Möglicherweise war die Übernahme einer Aufgabe wie die des Pfarramts sogar eher belastend als erfüllend. Möglicherweise nahm er sie nur an, weil sie ihm erlaubte, eine Familie zu gründen. Wenn ich die Übernahme der ersten Pfarrstelle mit den Eingangsstrophen des Liedes in Verbindung bringe, dann deute ich sie so: Vor Paul Gerhardt lag eine verantwortungsvolle Aufgabe. Es war ein Dienst, auf den er sich durch ein langes Studium vorbereitet hatte. Ein Dienst, der aber auch Pflichten und Strukturen mit sich brachte, die dem bis dahin selbstbestimmten passionierten Liederdichter Sorgen bereiteten. Möglicherweise trat Gerhardt den Weg nach Mittenwalde nur zögerlich an. Möglicherweise befürchtete er, das „Werk“, das vor ihm lag, nicht erfüllen zu können, und spricht sich mit dem Blick auf Gottes Wirken Mut und Zuversicht zu, wenn er schreibt: „auf sein Werk musst du schauen, wenn dein Werk soll bestehn“.
Der Blick auf Gottes Wirken in der Geschichte ermutigt ihn, das eigene Werk anzupacken. Nachdem der Dichter seine Sorgen Gott anvertraut hat, verlieren sie ihre Schrecken, sodass er bereits in den nächsten beiden Strophen von dem reden kann, was Gott in seinem eigenen Leben tun wird. Gott hat Mittel und Wege, das vor ihm stehende Werk zu tun. Dass Paul Gerhardt mehr Dichter als praktischer Theologe war, lässt sich seiner Biografie an vielen Stellen entnehmen. Trotzdem hat er sich seinen Aufgaben gestellt und hat sie im Blick auf die von ihm 1655 gegründete Familie angenommen.

Selbst wenn Paul Gerhardt das Lied lange vor der schwersten Zeit seines Lebens verfasst hat, so bringe ich es doch auch mit seiner Amtsenthebung im Jahr 1666 in Verbindung. Längst war er nach Berlin zurückgekehrt und Pfarrer an der dortigen Nikolaikirche, als er infolge des Konfessionsstreits zwischen Lutheranern und Reformierten seines Amtes enthoben wurde. Treu dem lutherischen Bekenntnis verzichtete der Lutheraner lieber auf sein Pfarramt als auf sein Bekenntnis. In diesen Zusammenhang stelle ich die Verse sechs bis zehn. In ihnen ermutigt sich der Dichter, sich von allem „Schmerz“ und aller „Sorge“ zu verabschieden und darauf zu vertrauen, dass Gott die bedrückende Last von seinem Herzen nehmen wird. „Er wird zwar eine Weile mit seinem Trost verziehn“ und so tun, als interessiere ihn das menschliche Leid überhaupt nicht. „Wird’s aber sich befinden, dass du ihm treu verbleibst, so wird er dich entbinden, da du’s am mindsten glaubst.“ Nicht Sorgen und Grämen, sondern Treue und Gottvertrauen bahnen den Weg zu dem Ausgang, der durch das Dunkel hindurch zum Licht führen und in das Singen von Freudenpsalmen münden wird.

Die letzte Strophe weist über alles irdische Sorgen und Grämen hinaus. Wie oft mag Paul Gerhardt sie im Verlauf seines Lebens gesungen und gebetet haben? Neben den beruflichen Nöten waren es persönliche Schicksalsschläge wie der Tod vier seiner fünf Kinder und die Krankheit und der Tod seiner Ehefrau Anna Maria, die nach nur 13 Ehejahren verstarb. All das lastete auf dem Liederdichter und ließ ihn doch nicht an seinem Gott verzweifeln. Als Wanderer durch die Zeit besingt er auch in diesem Lied wie in vielen anderen in der letzten Strophe die Ewigkeit.

Gebet:
Herr, unser Gott,
ich danke dir für die Lieder,
die du mir aus der Feder von Paul Gerhardtgeschenkt hast.
Weil ich die Kraft ihrer Worte erfahren durfte, bitte ich:
Lass sie auch jungen Menschen zum Wegbegleiterwerden.

Liedervorschläge: 361 (Befiehl du deine Wege)
371 (Gib dich zufrieden)

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