Bruder Gott

Bei den vielen Begegnungen mit Menschen außerhalb unseres Kulturkreises habe ich „Demut“ - ein großes Wort - gelernt. Früh schon war mir wichtig, zu erfahren, wo-rüber dort Menschen froh sind, was sie stolz macht, welche Träume sie für ihre Kinder und Enkel haben, welche Sorgen sie nachts nicht schlafen lassen, worüber sie lachen und worüber sie weinen. Das hat meine scheinbare Überlegenheit entschleunigt:

Geh runter vom Podest, sieh mit den Augen derer, die du eben fotografiert hast.

Du hast eine zahnlose Frau gefilmt, aber kein Wort mit ihr gesprochen.
Welche Gebete betet sie, wenn sie betet?
Was singt das Mädchen, wenn es Reis pflanzt?
Mit welchen Bildern beschreibt der Junge, der auf dem Rücken eines alten Esels sitzt und einen Karren Mais - wohin? - bringt, seine Zukunft?
Und was denkt der Familienvater, der dich auf dem Weg zu kulturellen Schätzen seines Landes mit einer Kalaschnikow schützend begleitet, über diesen Fremden aus Deutschland?

Ich habe gelernt, meine Ungeduld einzuordnen.
Ich bin sie nicht losgeworden.
Aber die Begegnungen haben mich zurückhaltender gemacht.
Es gibt nicht die schnelle Lösung.
Ich habe nicht Recht.
Nein, ich will auch nicht Recht haben.
Ich muss auch nicht Recht haben.
Recht haben ist keine Kompetenz eines Menschen, der professionell andere ein Stück Wegs begleitet auf deren Heimweg.

Natürlich bin ich nicht „nach allen Seiten offen“. Ich bin geprägt, ich stelle Fragen, ich tausche mich aus - auf
Augenhöhe. Und in allem Ernst „demütig“ und im Tiefsten „dankbar“.
Sie kennen meine Gebete nicht.
Sie kennen den Jesus nicht.
Sie kennen erst nicht unser Credo.
Und?

Da sagt mir einer: Nein, ich brauche sonntagsmorgens den Gottesdienst in der Kirche nicht. Ich gehe in den Wald - und dort begegne ich meinem Gott.
Jetzt kann ich anfangen, zu streiten und Recht haben zu wollen. Ich kenne gute Gründe, die dagegen sprechen.
Aber nein, so eben nicht.

Ich werde einen Sonntagmorgen finden, an dem ich nicht Gottesdienst zu halten habe, und werde mich mit ihm ver-abreden. Ich werde ihm sagen: Ich möchte erfahren, was du erfährst, wenn du dort im Wald Gott begegnest.

Eines Tages gelingt es: Ich gehe mit ihm in den Wald. So wie ich mit dem Muslim in seine Moschee gehe und mit dem Buddhisten zum Anbrennen seiner Räucherstäbchen vor seinen farbenfrohen Tempel. Was soll mich daran hindern? Und danach reden wir und tauschen uns aus.

Ich mache mich mit ihm auf den Weg.
Das erfordert eine ganz andere Kirche als bisher.
Kirche ist nicht mehr das „Ziel“. Kirche ist der „Weg“.

Jörg Zink hat Jesus seinen „Wegbruder“ genannt. Ich nenne ihn gerne „Bruder Gott“.

Bruder Gott sagt:
Selig der eine und die andere,
die gegen den Strom geschwommen sind.
Selig der eine und die andere,
die sich müde geschwommen haben.
Selig der eine und die andere,
die mir ihr Leid geklagt haben.
Selig der eine und die andere,
denen nicht gelungen ist,
was sie sich vorgenommen haben.
Selig der eine und die andere,
die am eigenen Anspruch scheiterten.
Selig seid ihr,
hungrig auf Gerechtigkeit.
Selig seid ihr,
verfolgt von Gewissensbissen.
Selig seid ihr,
die ihr verbohrt seid in falsche Gedanken,
die ihr klebt an euren Träumen.
Selig seid ihr,
die ihr fragt
und keine Antwort findet.
Selig seid ihr,
die ihr zweifelt
und noch einmal zweifelt.
Selig seid ihr,
dir ihr -
den Kindern gleich -
vertraut und noch einmal vertraut.
Selig seid ihr,
die ihr erschrocken seid.
Denn ihr versteht,
was es wirklich heißt,
wenn ich sage:
Alles wird gut.
Sagt Bruder Gott.

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