Liedpredigt EG 165: "Gott ist gegenwärtig"

Kasualansprache von Pfarrer Karsten Loderstädt aus Annaberg-Buchholz

Das Lied „Gott ist gegenwärtig“ soll gesungen (Strophen 1.2.4.8) bzw. gelesen (Strophen 3.5.6.7.) werden. Darauf möge eine Zeit schweigender Meditation folgen.

Meine Deutung, meine Sehnsucht, meine Liebe …
Gott ist gegenwärtig, mit seiner Liebe in meinem Herzen. Sie lässt mich in einem Atemzuge vor ihm auf die Knie gehen wie ein Überwältigter und in höchsten Lüften schweben wie ein Adler, der Gott am nächsten kommt. Die liebevolle Gegenwart Gottes gleicht einer Rose, die sich in mir entfaltet, duftet und erblüht.
Sie müssen wissen: Gott ist die Liebe meines Lebens. Sie getrauen sich nicht, das so auszusprechen. Jedenfalls nicht als jemand, der mit beiden Beinen im Leben steht und vernünftig denkt, plant und entscheidet. Der aufgeklärte Verstand hält das, was mein Lied beschreibt, weitgehend für irreal.
Er meint, es sei übertrieben, fast geschmacklos, auf diese Weise zu schwärmen. Doch ich bleibe mir treu. Sage ehrlich, was ich empfinde: Wie die Engel möchte ich meinen Gott umgeben. Auf Tuchfühlung gehen. Sein Augapfel, seine Freude sein. Möchte meine Augen schließen und dabei alles schauen, was Gott bewirkt und Neues erschafft.
Darum habe ich diese und zahlreiche andere Verse geschrieben. Wenn eine einzige Seele durch die Aussage von Text und Melodie Stärkung und Erweckung erführe, stimmte mich das froh und zufrieden.
Falls Sie heute mal kurz unter dem Fenster des Himmels stehen bleiben, dann hören Sie, wie ich meinen Neander singe. Ihn verehre ich. Joachim Neander. Er hat mir auch die Melodie für meinen Choral ausgeliehen. Gott ist gegenwärtig. Der wunderbare König. Das haben Sie gerade gesungen und gelesen. Haben sozusagen vorsichtig eine Blume gepflückt aus meinem „Geistlichen Blumengärtlein inniger Seelen“.
Ich hatte ja im Jahre 1729 diesen Sammelband von Kirchenliedern veröffentlicht und nicht im Traum daran gedacht, dass einige daraus noch 245 Jahre nach meinem Tod gesungen werden. Wenn Sie möchten, lassen Sie uns gemeinsam ins Gespräch kommen. Ich will Ihnen von mir erzählen und Rede und Antwort stehen, so gut ich Ihnen folgen kann.
Aber gestatten Sie mir, dass ich mich zunächst vorstelle: Teerstegen, mein Name. Gerhard Teerstegen. Geboren am Niederrhein. Gestorben an der Ruhr. Allerdings nicht daran erkrankt. Herzinsuffizienz haben sie auf den Totenschein geschrieben. Nach erfüllten 71 Jahren auf der Suche nach der Gegenwart Gottes und überwältigenden Funden seiner heiligen Nähe bin ich ins Vaterhaus eingezogen. Eine tiefe Sehnsucht hat sich erfüllt. Als Protestant pietistischer Überzeugung, um konsequente Erneuerung des persönlichen geistlichen Lebens bemüht, lebte ich unauffällig, zu meiner Kirchgemeinde auf Abstand und von der Amtskirche isoliert.

Mein Lebenslauf ist schnell erzählt: Vater starb, als ich zur Schule kam. Das war hart. Mutter versuchte uns acht Geschwister durchzubringen. Für ein Studium der Theologie, meinem sehnlichsten Wunsch, fehlte das Geld. Aber die Schulzeit auf der Lateinschule in meiner Heimatstadt Moers begeisterte mich. Alte und neue Sprachen lernen, Gedanken und Wesen der katholischen Heiligen erschließen, Gottes Wort im Geist bewegen, es später auslegen, weitersagen, nach tiefer Meditation, das war zeit Lebens meine Sache.
Im erlernten Kaufmannsberuf fühlte ich mich sehr unglücklich. Danach, in der Werkstatt der Seidenbandweber, am Rande meiner Kräfte. Ich zog mich zurück. Entledigte mich meines Besitzes, war bettelarm. Nennen Sie mich einen „Aussteiger“, einen „komischen Kauz“. Ich kann es nicht entkräften. Meine leiblichen Geschwis-ter kehrten sich von mir ab. Ich fand geistliche Brüder. Mit ihnen machte ich die herrliche Erfahrung der Gegenwart Gottes und konnte meinen Glauben teilen.

Am Gründonnerstag des Jahres 1719 habe ich meinem Herrn Jesus versprochen, mich ihm als ewiges Eigentum zu verschreiben. Seither beschäftigten mich Menschen, die ihren Sinn darin sehen, Gott in allem zu entdecken und von ihm alles zu erwarten. Und ich begleitete Menschen, die im Schatten des Allmächtigen, ausgegrenzt und einsam ihr Dasein fristeten. Für ihre Seelen zu sorgen, das hörte ich als meine Beauftragung. Gott rief mich zum Dienst an den Menschen, deren Seele verwundet ist. Traurige trösten, Gebeugte aufrichten, sogar Kranke mit Medizin versorgen.

Mein Selbstverständnis gründete in Gott. Das höchste Gebot: Ihn und den Nächsten zu lieben in selbstloser Hilfe.
„Ich in dir, du in mir, lass mich ganz verschwinden, dich nur sehen und finden...“, so bete ich.
Entschuldigen Sie, wenn ich ins Schwärmen gerate. Ich hoffe, die Sprache der Poesie, gegründet in mystischer Erfahrung, schreckt Sie nicht ab. Verzeihen Sie mir meine Leidenschaft.
Kennen Sie selbst die leidenschaftliche Hingabe an etwas, dem ihr Herz ungeteilt gehört?
Mir kam zu Ohren, dass einige unter Ihnen mit Inbrunst solch ein Lied auf das singen könnten, was sie sich zu ihrem Gott erklärt haben: Sportler, Künstler, Mode, Autos...
Ich kann mir nicht denken, dabei tatsächlich beruhigt und gelassen zu werden. Fehlt aber das, was trägt, wo bleibt der Friede? Wenn der Frieden ausbleibt, wie kann ich mich dann mit der Welt versöhnen, bevor meine letzte Stunde schlägt? Ihr Neuzeitler, bedenkt, wozu ihr berufen seid.
Gebt dem die Ehre, der euch ehrt, am Leben zu sein.
Damit komme ich zurück zu dem, was mich bewegt. Mein Gott, dieses unfassbare Licht, die Weite des Meeres, die Fülle der Atmosphäre, der Grund aller Dinge. Ist Ihnen bei diesem Gedanken auch warm ums Herz geworden?
Zum Beispiel auf dem Berggipfel im Licht der aufgehenden Sonne? Es wird Tag und es geschieht, ohne menschlichen Einfluss. Ein Wunder. Oder am Meer stehend, da des Wassers und Himmels Unendlichkeit den Menschen spüren lassen, wie klein er ist, und trotzdem so wert geachtet, des allmächtigen Schöpfers Freund zu sein. Oder haben Sie mal im lachenden Gesicht eines Kindes etwas erkannt, das dem Himmel gleichkommt? Durften Sie die dankbare faltige Hand der Hochbetagten halten, die einen festhält mit Tränen in den Augen?

Legen Sie solches Erleben aus? Führte Sie eine solche Deutung hin zu Gott?
Mich überwältigt die Fülle der Liebesbeweise meines Herrn. Begreifen will ich ihn. Die menschlichen Eitelkeiten verhindern den Zugang zu ihm, der Mitte des Seins.
Erdenlust treibt an, mehr zu wollen und nichts zu verpassen. Vielleicht bin ich ein Spielverderber. Aber dieses Spiel kann und will ich nicht mitmachen. Was mich umtreibt, ist die Frage: Wie kann ich mit meinen Gaben auf Gottes Geschenke antworten? Wie ihn erfreuen mit dem, was ich bin und habe? Ihm will ich gefallen, in jedem Augenblick meines Seins. Dennoch weiß ich, dass ich keinen hilfreichen Handgriff zustande bringe, ohne dass seine Majestät diesen segnete. Doch in seiner Aura der Güte und Gnade ein Mensch werden, darum dreht sich alles in meinem Leben. Ein Mensch, wie er ihn tatsächlich gemeint hat. Fröhlich. Demütig. Bescheiden. Liebevoll. Still. Zu merken an den fünf Fingern der Hand.
Dass sein Wesen das Meine formt wie ein Siegel das Wachs, das ist mein Begehren. Die Prägung soll keinesfalls bewirken, ihm in seiner Allmacht je gleichen zu wollen. Doch so oft wie möglich im Herzen zu glauben und mit den Händen zu tun, was er möchte, das verwirklicht den Sinn meines Lebens. Können Sie mir folgen? Sie schütteln den Kopf und fragen mich, wie ich dazukomme, so zu reden. Ich erlebe es. Ich fühle es. Ich bin ganz sicher: Gott ist gegenwärtig!
Mögen Sie von mir denken, was Sie wollen. Ein Esoteriker bin ich nicht. Auch kein Seelenfänger und Agitator. Ich bin niemals auf dem Jakobsweg gepilgert, um zu mir selbst zu finden. Noch nie habe ich an einer Kölner Domführung bei Nacht teilgenommen, dass mich etwa ein solcher Ort und eine solche Stimmung ergriffen und verändert hätten. Ich will keinen Menschen unter Druck setzen. Es hat mich niemand für unzurechnungsfähig erklärt.

Die Mystiker haben es mir angetan. Gott ist in allen Dingen zu finden. Das ist auch mein Credo. Ich folge dem Bekenntnis des Bischofs Notker III, wenn er spricht: „Ich will und ich habe gewollt, aber wir sind eingeschlossen in die Hand Gottes und nichts gelingt, außer dem, dem er zustimmt.“
Nur in der Stille wird dieses Einssein mit Gott gelingen. Lassen Sie die Stille zu, denn in ihr hört man am meisten.
Meine Erfahrung, von Gott her und zu ihm hin das Alltägliche zu deuten, macht reich. Vor allem: gelassen. Ich habe den Sinn meines Lebens finden dürfen. Weiß aber auch, dass eine Flut von Zweifeln und Ängsten ihn immer wieder unterspült wie ein Sturzbach den Weg, auf dem ich gerade noch unversehrt gelaufen bin.
Darf ich Sie fragen: Wofür leben Sie? In welcher Art und Weise setzen Sie um, was Sie für Ihr eigenes Leben als wichtig und erstrebenswert erkannt haben?
Ich lebe als Einsiedler. Einfältig. Sie denken: Der ist „beschränkt im Kopf“. Die kleine Kommunität der „Bruderschaft des gemeinsamen Lebens“ kann man nicht als ein Kloster bezeichnen. Gebetszeiten bestimmen den Tageslauf. Das Studium der Heiligen Schrift in den Ursprachen bewegt mich. Darum bitte ich: „Mach mich reinen Herzens, dass ich deine Klarheit schauen mag in Geist und Wahrheit.“ Das bedeutet zunächst, frei zu werden von dem, was einen selbstsüchtig verstrickt in Handlungen aus falschem Stolz, überzogenem Ehrgeiz, maßloser Gier. Mir wurde bewusst, dass ein reines Herz nicht dem eigenen Verdienst zuzurechnen ist. Dieses heilige Wort in sich aufnehmen, das reinigt wie fließendes Wasser ein zugesetztes Sieb.
Wissen Sie, das Gewohnte als das Wunderbare erkennen zu dürfen, das verändert die Sicht. Und damit den Blick. Die Sorgenfalten weichen einem dankbaren Lächeln.

Jeder von uns geht seinen eigenen Weg. Abgeschieden von der Welt, innig meinem Gott verbunden, wo ich geh‘, sitz‘ und steh‘, das ist meine Geschichte. Sie haben die Ihrige. Und es wird eine gute sein. Wenn Ihnen mein Lied fremd geblieben ist, dann versuchen Sie nicht, es zu bezwingen. Sollte es aber einen Nerv getroffen haben und die Sicht auf das Leben von Gott her verändern, erfreut mich das sehr.

Vielleicht haben Sie auch den Mut, Ihrer eigenen Gotteserfahrung Sprache zu verleihen und sie ins Gespräch zu bringen. Spannend bleibt, ob sich Nähe und Distanz zu ihm beschreiben lassen, ob sich der moderne Mensch darauf einlassen kann, dass mit ihm etwas passiert, das sich seiner Willenskraft entzieht. Zur Taufe, so nehme ich wahr, wird in ihren Kirchen häufig das Psalmwort vom behütenden Engel auf allen Wegen gewünscht. Die Sehnsucht ist stark, von Gott bewahrt und geführt zu werden. Wie verhält sich das zur persönlichen Freiheit und Selbstbestimmung? Gott ist gegenwärtig. Diese Behauptung ist mein Bekenntnis. Sie zu beweisen, dafür habe ich gelebt.

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